Wer Moskau noch aus den frühen 2000er Jahren kennt, wird staunen: Das Moskau unter Bürgermeister Sergej Sobjanin ist heute ein ganz anderes als damals. Die Kioske vor den Metrostationen sind weg, mitten in der Innenstadt sieht man auch Radfahrer, der Gorki-Park hat sich vom runtergerockten Rummelplatz zum hippen Großstadtpark mit einem Museum für moderne Kunst, Bühnen und mehreren Spielplätzen verwandelt. Unweit vom Roten Platz am Ufer der Moskwa, wo früher das Hotel Rossija war, blühen nun im neu angelegten Sarjadje-Park Blumen und Bäume aus sämtlichen russischen Vegetationszonen.
Ist doch schön? Maria Kuwschinowa spaziert auf Colta durch „eine Stadt der Trugbilder”.
Wenn man spät nachts nach langer Reise und langer Abwesenheit die Twerskaja hinunterfährt, scheint es, als gleite man einen blankgeputzten, weiß schimmernden menschlichen Schädel hinab. Alles Organische – alles, was atmet, duftet, geboren wird, stirbt, alles, was lebt – ist ausgerottet und beseitigt, stattdessen haben sich überall phosphoreszierende Chimären breitgemacht.
Unter Sobjanin hat sich Moskau in eine Stadt der Trugbilder verwandelt, wo die halluzinogene experience selbst dem Abstinenzler an jeder Ecke auflauert: Im Minutentakt schießen wie Pilze neue Metrostationen aus dem Boden; gleich kosmischem Staub hat sich über Nacht neben dem Kreml der Sarjadje-Park niedergelassen; die Stadt dehnt sich mit der Geschwindigkeit eines aggressiven Krebsgeschwürs aus. Plötzlich – ein gigantischer Filzstiefel mitten auf einer Hauptstraße, ein Aufmarsch von Kreuzzüglern auf dem Boulevard; in jeder Seitenstraße der Goldenen Meile ein Wachmann, das Passwort, das du sagen musst, lautet: „Es gibt keinen Gott“, denn sie bewachen die Warteschlange vor den Reliquien, damit sich keiner vordrängelt.
Phosphoreszierende Chimären
Die verzweifelte Suche nach einem Parkplatz, das tägliche mehrstündige Manöver zur Verpflanzung der Kinder auf das gegenüberliegende Ufer des Prospekts. Der störungsfrei funktionierende Separator, der den Pöbel mit einem Einkommen unter 200.000 Rubel im Monat [ca. 2.500 Euro – dek] aus dem historischen Zentrum verdrängt. Das alles zusammen heißt: „Seht nur, wie schön Moskau unter Sobjanin geworden ist.”
Über den universellen Hauptstadtsnobismus und die spezifischen Arroganz gegenüber den SaMKADowzy hinaus – der neue Moskauer hat sich, selbst wenn er mit den Veränderungen nicht einverstanden ist, mittlerweile daran gewöhnt, sich täglich in einer Situation des Absurden wiederzufinden, die ein Außenstehender kaum ertragen würde. Das Absurde kann nicht anders, als das Bewusstsein zu beeinflussen, es formatiert das Bewusstsein; und schon wird der Blick deines alten Bekannten glasig, und er sagt: „Wieso, die Sachen von WkusWill haben mir die importierten Nahrungsmittel komplett ersetzt.“
Urbanistische Karzinogenese
Es ist bereits festgestellt worden, dass die Testversion unter Kapkow und dann auch die umfassende urbanistische Karzinogenese unter Sobjanin eine Antwort auf die Bolotnaja-Proteste gewesen seien – auf die Unzufriedenheit der Mittelschicht auf die Stagnation der Medwedewschen „Modernisierung“. Als Reaktion auf die Karnevalsproteste wird jetzt das ganze Jahr über fieberhaft und unaufhörlich Karneval gefeiert.
Ihre Bewohner unterhaltend und ablenkend, erfüllt die Stadt, die mit der Zeit neu verpackt und zur Vitrine des putinistischen Russland gemacht worden ist, mittlerweile eine weitere wichtige Funktion für die Bewahrung des Status quo: Moskau, das auf Kosten des gesamten Landes existiert, entzieht den Regionen nicht nur die natürlichen Ressourcen, sondern auch die menschlichen, die ambitioniertesten und talentiertesten – damit deren Energie in die Produktion von blutleeren Chimären einfließen kann. Rein formell ist das noch immer derselbe Deal, den ein gewöhnlicher zentralistischer Staat seinen Bürgern anzubieten hat: ein Umzug in die Hauptstadt im Tausch gegen Geld und Möglichkeiten, die man in der Provinz nicht hat.
Biete Status, verlange Abkehr von der Produktion von Sinn
Doch im Grunde macht das heutige Moskau, das sich im Herzen des heutigen Russland befindet, ein anderes Angebot: Es bietet Status und verlangt dafür die freiwillige Abkehr von der Produktion von Inhalten. Du kannst „Kurator“ werden, „Regisseur“, „Journalist“, „Micro-Influencer“ (jemand, der sein Essen und seine Klamotten, die er von Werbekunden bekommt, fotografiert und in sozialen Netzwerken postet), „Mitarbeiter bei Yandex“, „Drehbuchautor“, „Guest-Manager“ (jemand, der Geld dafür bekommt, dass er seine Micro-Influencer-Freunde persönlich zu Partys einlädt), „Künstler“, „Promoter“ – die Liste ist lang. Du wirst etwas haben, das du auf deine Visitenkarte schreiben kannst, ein Gehalt und eine Krankenversicherung, du wirst von einer Stelle zur nächsten gehen und deinen Triumph auf Facebook teilen, aber Gott bewahre, dass du einen Fuß dahin setzt, wo ein auch nur ein ansatzweise sinnvolles Gespräch über Gegenwart und Zukunft stattfinden könnte.
Kultur in Moskau – das ist, wenn Menschen, die 700 Rubel [9 Euro – dek] Eintritt gezahlt haben, sich auf der Strelka oder im Garash den letzten Hit aus Cannes ansehen, der niemals auf die Leinwände anderer Städte kommen wird, weil die politische und wirtschaftliche Zensur den unabhängigen Verleih zu Grunde gerichtet hat. Aber du kannst zehn mal das Garash sein, nie im Leben wirst du Loznitsas Donbass zeigen dürfen, denn die Frage nach dem Grenzzustand des postsowjetischen Menschen und des postsowjetischen Raums darf weder ernsthaft noch laut gestellt werden.
Moskau fehlt Energie, Kompromisslosigkeit und innere Freiheit
Sobjanins Wahlkampfleiter Konstantin Remtschukow erzählt etwas von einer globalen Konkurrenz der Metropolen, in der die erneuerte russische Hauptstadt auf Augenhöhe mit New York, Paris und London figurieren würde. Und vergisst dabei, dass New York, Paris und London Ideen für die ganze Welt produzieren, während Moskau, umzingelt von eingebildeten Feinden und einem real ausgebluteten Land, nicht einmal hybride Propaganda of international fame produziert, weil die Trolle von Olgino woanders sitzen (in den letzten vier Jahren wurde die russische Staatsbürgerschaft auf Basis der Quote für „gesuchte Fachkräfte“ ganze zwölf Mal erteilt). Das einzig nennenswerte popkulturelle Phänomen der vergangenen Jahre – die Rap-Battles – kam in Krasnodar auf und donnerte durch St. Petersburg; Moskau hatte dafür weder genug Energie noch Kompromisslosigkeit noch innere Freiheit.
Das, was von Zeit zu Zeit aus diesem hermetisch abgeriegelten elektrisch-sauren Universum nach außen dringt – Ausgaben in Millionenhöhe für Sobjakuras (Plastikbäume in Kübeln) oder das Olympiastadion, bis oben hin gefüllt mit Leuten, die das Monats- oder gar Jahresgehalt eines Durchschnittsverdieners für einen Abend in Gesellschaft eines Motivationstrainers zahlen –, ruft im Rest des Landes nur banges Unverständnis hervor. Der einstige Neid auf das Geld und die Möglichkeiten der Hauptstadt weicht nämlich langsam der Angst, man könnte sich noch am Moskauer Wahnsinn infizieren.