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Plattentausch in Moskau

Es ist das umfangreichste und größte Abriss- und Neubauprojekt, das jemals in Russland vorgenommen wurde: Im Februar verkündete Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin, dass 8000 Wohnhäuser der Stadt, zumeist Chruschtschowki im Plattenbaustil aus den 1950er und 1960er Jahren, abgerissen und ihre Bewohner umgesiedelt werden sollen. Knapp 1,6 Millionen Menschen seien betroffen und 25 Millionen Quadratmeter Wohnfläche – ein Zehntel der gesamten Wohnfläche in Moskau.

Ursprünglich hatten die ersten fünfstöckigen Chruschtschowki nur 25 Jahre als eine Art „Übergangslösung” halten sollen. Heute sind deshalb tatsächlich viele von ihnen in keinem guten Zustand mehr. Doch gerade viele ältere Bewohner verbinden mit den Chruschtschowki nach wie vor eine soziale Verbesserung, eine Wohltat durch den Staat – die das von Chruschtschow initiierte Wohnungsbauprogramm ab Mitte der 1950er Jahre für viele tatsächlich bedeutet hatte. Mit dem Versprechen einer kleinen Wohnung für jede Familie hatte Chruschtschow seine politischen Rivalen nach Stalins Tod ausgehebelt.

Den betroffenen Bewohnern wird die Umsiedlung in Wohnungen im gleichen Bezirk versprochen. Und sogar ein neuer Gesetzentwurf wurde formuliert: Nach Zuweisung einer neuen Wohnung räumt er den Bewohnern eine Einspruchs-Frist von 60 Tagen ein, wenn sie das Angebot der Stadt nicht annehmen oder gerichtlich dagegen vorgehen wollen.

Kritiker des Projekts, wie die Anwohnerin und Aktivistin Kari Guggenberger, argumentieren unter anderem, dass es – egal, wie die Mehrheit entscheidet – schlicht gegen die Verfassung sei, einem einzelnen Eigentümer gegen dessen Willen das Eigentum zu entziehen. Guggenberger hat außerdem wenig Vertrauen in die Zusagen nach gleichwertigem Wohnraum: „Wenn die Behörden unsere Grundfläche brauchen, dann sollen sie uns dafür Geld zahlen, für eine Wohnung und eine Renovierung, damit wir eine Wohnung in einem entsprechenden Haus kaufen und renovieren können. Aber eine solche Regelung ist in dem Gesetzentwurf nicht vorgesehen.“

Nach zunehmendem Unmut der Bürger, gab die Stadt Anfang Mai bekannt, dass die Anwohner von 4566 der ursprünglich 8000 vorgesehenen Häuser nun über den Abriss abstimmen sollen. Das können sie vom 15. Mai bis zum 15. Juni via Internet oder bei den städtischen Bürgerämtern tun. Das Schicksal der restlichen Chruschtschowki bleibt vorerst noch in der Schwebe. Für den 14. Mai haben die Behörden nun eine Demonstration gegen den Abriss genehmigt.

Die Novaya Gazeta hat im April Chruschtschowka-Bewohner in verschiedenen Moskauer Stadtteilen zu Hause besucht – und nach deren Meinung zu den Abrissplänen gefragt.

Source Novaya Gazeta

 

 

Foto © Viktoria Odissonova

Maxim Borissowitsch, Anna, Maria, Artjom und Jascha Dubach
Bezirk:
Beljajewo
Baujahr: 1967
Einzugsjahr: 1967
Wohnfläche: 60 m² (3 Zimmer) 
Bewohner: 6 Personen, 1 Hund, 1 Igel, 1 Katze
Umzugswunsch: nein

Besser eng als ungemütlich!

Maria: Wir vier Geschwister sind in dieser Wohnung geboren und aufgewachsen. Jetzt sind wir erwachsen, haben eigene Kinder. Wenn eine meiner Schwestern mit ihrer Familie zu Besuch kommt, wird es natürlich etwas eng. Aber besser eng als ungemütlich!

Maxim Borissowitsch: Dafür zählt für uns bei jeder Wegstrecke immer nur die Zeit ab der Metrostation (denn bis zur Station Beljajewo sind es nur circa zwei Minuten zu Fuß).

Anna: Wir wollen nicht, dass man das Haus abreißt, in dem wir aufgewachsen sind. Ich unterscheide rechts und links heute noch so, wie Papa es mir beigebracht hat: Wenn man zur Küche schaut, ist links da, wo die Badezimmertür ist, und rechts – da, wo die Wand ist.


Foto © Wlad Dokschin

Alexander und Aljona Selin
Bezirk:
Metrogorodok
Baujahr: 1959
Einzugsjahr: 1976
Wohnfläche: 72 m2
Bewohner: 5 Personen, 3 Katzen
Umzugswunsch: ja, aber innerhalb des Bezirks

Alles ist verrottet, alles ist marode

Alexander: Die Rohre sind verrottet, [*** schimpft Mat], alles ist verrottet, alles ist marode, es rieselt von den Wänden. Ich hab die Schnauze voll von dieser Wohnung. Ich will eine neue! Aber nur in diesem Bezirk. In irgendein Neu-***hausen werd ich nicht ziehen, auf gar keinen Fall. Auch wenn drei Aufforderungen kommen, ich geh hier nicht weg. Ich besorg mir ne Knarre, und dann soll mich mal einer hier rausbekommen. Aber ich weiß, dass sie unser Haus nicht abreißen.


Foto © Viktoria Odissonova

Anastasia, Alexej, Olga Prochorjatow
Bezirk:
Tuschino
Baujahr: 1959
Einzugsjahr: 2006
Wohnfläche: 53,9 m2 (2 Zimmer)
Bewohner: 3 Personen, 2 Hunde
Umzugswunsch: durchaus (aber nur in eine Pjatietashka mit hohen Decken in demselben Bezirk)

Das hier ist ein Dorf mitten in der Stadt

Olga: Die ersten fünf Jahre nach dem Einzug haben wir aus Kisten gelebt. Alle haben gewartet, dass sie uns im Rahmen des Lushkow-Programms abreißen. Haben sie aber nicht. Wir haben drei Mal renoviert, Hunde angeschafft und uns in die hohen Decken verliebt.

Gegen einen Wohnungswechsel hätten wir ja vielleicht gar nichts – das Haus „wandert“, es gibt kein Fundament, es wurde direkt auf dem Erdboden gebaut, die Rohre sind alt – aber nur im selben Bezirk!

Unsere Pjatietashki bilden sowas wie ein Dorf mitten in der Stadt, man kennt sich hier. Sogar Garik Sukatschow hat uns mal auf einem Konzert „wiedererkannt“! Er ist ja in Tuschino geboren, und er fragte uns bei einem Konzert: „Woher seid ihr denn?“, und wir: „Von der Nowoposselkowskaja“, und er: „Aus dem Dörfchen also! Unsere Leute!“


Foto © Viktoria Odissonova

Tatjana und Iwan Jeremenko
Bezirk:
Sokolniki
Baujahr: 1957
Einzugsjahr: 1965
Wohnfläche: 97,8 m2
Bewohner: 2 Personen (3 Zimmer, umgebaut in 4 Zimmer)
Umzugswunsch: kategorisch dagegen

Das ist meine ‚kleine Heimat‘

Tatjana: In einem Hochhaus bist du nur ein Schräubchen im Getriebe, du empfindest dich nicht als Individuum. Ich weiß, wovon ich rede: Ich habe in vielen Ländern und Häusern gelebt. Aber ich wollte immer nach Hause zurück. Das ist meine „kleine Heimat“. Mein Opa hat mit 51 Stalingrad verteidigt. Und ich werde mit meinen 51 mein Haus verteidigen. Ich habe schon 90 Prozent der Unterschriften gegen den Abriss zusammen.


Foto © Viktoria Odissonova

Jelena und Dima Cholin
Bezirk:
Beljajewo
Baujahr: 1967
Einzugsjahr: 1992
Wohnfläche: 58 m2 (3 Zimmer)
Bewohner: 2 Personen, 1 Hund, 1 Katze
Umzugswunsch: nein

Draußen laufen singende Afrikaner oder lustige Alkis vorbei

Jelena: Als ich hierher gezogen bin, habe ich diese Wohnung und das Viertel gehasst. Das war die Wohnung meiner Schwiegereltern (sie sind wunderbare Menschen!). Ich habe immer das Licht angemacht, wenn niemand zu Hause war. Später wurde Dima hier geboren, und jetzt will ich hier nicht mehr weg. Irgendwie entspricht das Haus von den Proportionen her seinen Bewohnern.

Dima: Wenn ich ehrlich bin, gefällt mir diese Wohnung nicht mehr besonders. Aber es geht mir mehr um Aura und Energie, nicht um den baulichen Zustand. Und die Aura in unserem Erdgeschoss ist super: Manchmal, wenn ich meine Morgengymnastik mache, laufen draußen singende Afrikaner vorbei, oder lustige Alkis.

Tja und außerdem: Wenn ich bei meinen Freunden in Hochhäusern zu Besuch bin, dann finde ich die Wohnungen natürlich schön, aber wie soll ich bitte in einem Hochhaus durchs Fenster klettern, wenn ich meinen Schlüssel vergessen habe?


Foto © Viktoria Odissonova

Natalja, Roman und Wladimir Oreschkin
Bezirk:
Oktjabrskoje Polje
Baujahr: 1959
Einzugsjahr: 1974
Wohnfläche: 43 m2 (2 Zimmer) 
Bewohner: 2 Personen
Umzugswunsch: durchaus 

Für eine Frau ist so eine kleine Küche ein Alptraum!

Natalja: Im Prinzip haben wir nichts gegen einen Umzug. Ich weiß wahrlich nicht, wer diese Wohnung geplant hat! Mit Durchgangszimmer und einem Flur, in dem man gerade mal alleine stehen kann, die Küche hat 4,5 m². Für eine Frau ist eine kleine Küche ein Alptraum!

Wladimir: Dafür, sehen Sie mal! (Setzt sich auf einen Hocker mitten in die Küche.) Von hier aus komme ich ans Fensterbrett, den Kühlschrank, den Herd und die Mikrowelle! Sehr praktisch! (lacht)

Roman: Wir haben nichts gegen Hochhäuser, aber ich persönlich kann nicht hoch oben wohnen. Ich habe panische Angst. Mich haben damals die Terroranschläge an der Kaschirka, wo die Hochhäuser in die Luft gejagt wurden, schwer mitgenommen.


Foto © Viktoria Odissonova

Sofia Meshenina und Pawel, Antonina und Valentin Broner
Bezirk:
Beljajewo
Baujahr: 1967
Einzugsjahr: 2009
Wohnfläche: 60 m² (3 Zimmer)
Bewohner: 4 Personen, 1 Hund, 1 Ratte und Gespenstschrecken im Aquarium
Umzugswunsch: eher nein

Warum für ein Haus kämpfen, das sowieso auseinanderfällt?

Sofia: Wenn unser Haus abgerissen wird, ziehen wir aufs Land. In dieser Wohnung habe ich meine frühe Kindheit verbracht, und ich wollte immer hierher zurück. Das ist das einzige Haus, das einzige Viertel, das ich liebe. Aber was hat es für einen Sinn, bis zum Schluss für ein Haus zu kämpfen, das früher oder später sowieso auseinanderfällt.


Foto © Viktoria Odissonova

Jelena Serebrennikowa
Bezirk:
Beljajewo
Baujahr: 1967
Einzugsjahr: 1969
Wohnfläche: 58 m2 (3 Zimmer)
Bewohner: 3 Personen, 1 Hund
Umzugswunsch: nein 

Jetzt habe ich mir dieses Riesenkrokodil angeschafft

Jelena: Ich mag keine Menschenmassen. Überhaupt nicht. Ich kann alleine leben. Was ein modernes Hochhaus bedeutet, kann ich mir lebhaft vorstellen: ein Haufen neuer Gesichter, Autos und niemand, den ich kenne.

Ich bin eine „Grüne“, lebe ohne Vorhänge – aus dem Fenster sehe ich den Park. Und jetzt habe ich mir dieses Riesenkrokodil angeschafft (gemeint ist der Hund – Anm. Novaya Gazeta). Wo soll ich mit ihm hin, wenn wir umziehen müssen? Zwischen den Häusern Gassi gehen?


Foto © Wlad Dokschin

Julia, Igor, Sofia und Anissija Obrasow
Bezirk: Sapadnoje Degunino
Baujahr: 1964
Einzugsjahr: von Geburt an
Wohnfläche: 40 m2 (2 Zimmer)
Bewohner: 4 Personen, 1 Katze
Umzugswunsch: ja

Auf 26 m² mit zwei Kindern, Frau und Katze

Igor: Ich lebe seit meiner Geburt in dieser Wohnung, früher gehörte sie meinen Eltern. Auf 26 m² [sic] mit zwei Kindern, Frau und Katze – wie würdest du da einem Umzug gegenüberstehen? Gut natürlich. Hauptsache, sie stecken uns nicht in eine noch kleinere.

Julia: Wir haben keinen Müllschlucker, keinen Aufzug. Müssen den Kinderwagen in den vierten Stock schleppen. Unser alter Kinderwagen hat 14 Kilo gewogen. Dazu das Baby sieben Kilo. Allein schon, wenn alle zusammen einkaufen gehen wollen, ist das ein Problem. Außerdem muss alles platzsparend sein, wir haben zwei teure Ausziehsofas gekauft. Und Gäste können wir auch kaum einladen.


Foto © Wlad Dokschin

Julia Sacharowa
Bezirk:
Ismailowski
Baujahr: 1951
Einzugsjahr: 2014
Wohnfläche: 56 m2 (2 Zimmer)
Bewohner: 1 Person, 1 Hund, 1 Eichhörnchen
Umzugswunsch: nein

Jetzt träumen sie von einer Aufwertung der Gegend

Julia: Diese Wohnung hat schon viel gesehen. Ich wollte immer in so einer leben. Ich hatte nicht genug Geld, aber der Makler hat mich überzeugt, dass das Geld schon kommt, ich es außerdem nirgendwo so gut habe wie hier.

Ich liebe meine Wohnung, den Apfelbaum, der vor meinem Balkon blüht.

Jetzt träumen sie von einer Aufwertung dieser Gegend hier, wollen eine Zufahrtsstraße zum MKAD bauen, viele Spielplätze und Häuser abreißen (unter anderem meines). Wir sammeln Unterschriften dagegen, gehen auf die Straße und halten Pikety, aber es gibt wenig Hoffnung.


Foto © Wlad Dokschin

Natalja Markewitsch
Bezirk:
Retschnoi Woksal
Bauzeit: 1950er Jahre
Einzugsjahr: 2008 
Wohnfläche: 31 m2 (2 Zimmer, umgebaut in 1 Zimmer) 
Bewohner: 1 Person, 1 Katze 
Umzugswunsch: ja

Das war hier ein Leben wie auf einer Datscha

Natalja: Ich habe diese Wohnung wegen des Fensterblicks gekauft. Das war hier ein Leben wie auf einer Datscha. In der Nähe ist eine Haltestelle, es gibt Obstbäume, Spielplätze und die Bäume wachsen bis an die Fenster. Sogar aus weiter entfernten Häusern kamen die Menschen mit ihren Kindern zum Spielen her.
Jetzt haben sie mich quasi umgesiedelt, ohne mein Wissen: Vor meinem Fenster wurden Stromleitungen gespannt und eine vierspurige Straße gebaut. Es gab keinerlei Gespräche mit den Einwohnern, die Proteste haben niemanden interessiert.

Mittlerweile gibt es keine Nachfrage mehr nach den Grundstücken hier, sogar das Bürogebäude nebenan steht leer. Die Leute warten darauf, neue Wohnungen zu bekommen, leben oft in Großfamilien auf engstem Raum. Aber es passiert nichts.


Foto © Wlad Dokschin

Wlad Suslow und seine Mitbewohner Damir und Shenja
Bezirk:
Lefortowo
Bauzeit: 1950er Jahre
Einzugsjahr: 2017
Wohnfläche: 48 m2 (2 Zimmer)  
Bewohner: 3 Personen
Umzugswunsch: eher dagegen

Die Oma hat die Wohnung in sehr authentischem Zustand hinterlassen

Wlad: Wir haben diese Wohnung zu dritt angemietet. Früher hat hier eine alte Frau gelebt, sie hat die Wohnung in einem sehr authentischen Zustand hinterlassen: ziemlich runtergelebt und mit über viele Jahre angesammeltem Ruß, den man nur schwer abbekommt.

Die meisten Leute im Haus sind Mieter. Hier ist es um einiges günstiger. Aber der Hauptgrund, hier zu wohnen, ist die gute Lage, man ist schnell zu Fuß an der Uni.

Ich fühle mich wohl in diesem Haus, man spürt hier sowas wie Geschichte, eine besondere Atmosphäre.

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Kommunalka

Eine Kommunalka ist eine Wohnung, die gleichzeitig von mehreren Familien bewohnt wird. Die Wohnform nahm ihren Anfang nach der Revolution von 1917, als große Wohneinheiten wohlhabender Familien auf mehrere Familien aufgeteilt wurden. Anfänglich als Not- und Übergangslösung gedacht, etablierte sich die Kommunalka bald als permanenter lebensweltlicher Ausnahmezustand und soziale Instanz. Seit der Perestroika ist es das große Ziel eines Jeden, diese Wohnform gegen eine Einzelwohnung einzutauschen.

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Walenki

Walenki sind nahtlose, in einem Stück gefertigte Filzstiefel aus Schafswolle. Sie halten auch bei großer Kälte warm und gelten deshalb als ideales Winterschuhwerk für die trockenen russischen Winter. Walenki werden als ein Symbol traditioneller russischer Kultur betrachtet, heute aber in erster Linie mit dem Landleben assoziiert.

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Chruschtschowki – die Geburt der „Platte“

Die eigene Neubauwohnung ist Ziel aller Sehnsüchte eines jungen Paares, das der Baufälligkeit des alten Moskau entfliehen will. Den Anspruch auf eine Wohnung muss das Paar gegen die Intrigen eines korrupten Funktionärs durchsetzen. 

Zusammen mit anderen Neumietern formen sie spontan ein Kollektiv und bauen einen „magischen Garten“. Darin gibt es Blumen, die nur für die Augen der „Guten“ blühen, einen Springbrunnen, der pompöse Reden sofort übertönt und eine magische Bank, die alle, die auf ihr sitzen, zwingt, die Wahrheit zu sagen. Dank der Zauberkraft dieses Gartens überwinden die Bewohner schließlich sämtliche Schwierigkeiten.

Die Musik für die Operette Moskwa, Tscherjomuschki stammt von Dimitri Schostakowitsch. Im Januar 1959 macht er damit Propaganda im Dreivierteltakt für das Experimentalviertel Nr. 9. Es war das erste Viertel in „industrialisierter Massenbauweise“, entstanden zwischen 1956 und 1958 im Südwesten Moskaus.

Mit seiner Wohnungsbaukampagne wollte Chruschtschow die Bevölkerung für die „Erneuerung des Sozialismus nach Stalin“ mobilisieren – und setzte eine Massenbewegung in Gang: Zwischen 1955 und 1970 zogen 132 Millionen Sowjetbürger in eine neue Wohnung. Anders als in Schostakowitschs Operette zeigten viele Wohnviertel planerische Hast. Die Austauschbarkeit der Wohnviertel wurde zur Metapher.

Das Viertel Nowyje Tscherjomuschki Nr. 9 wurde als zukunftsweisend bejubelt / Fotos © Arsengeodakov/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0

Die Chruschtschowki und Pjatietashki ließen einst Träume wahr werden

Die Wohnungsnot war ein sowjetischer Dauerbrenner, befeuert durch Industrialisierung, Landflucht und Kriege. Die meisten Sowjetbürger lebten zusammengedrängt in Baracken oder in vielfach unterteilten Gemeinschaftswohnungen aus dem letzten Jahrhundert, wo sie sich Küche und Bad mit dem ganzen Stockwerk teilen mussten, den sogenannten Kommunalkas.

Während westliche Länder nach 1945 auf Suburbanisierung und die private Mobilität im Auto setzten, vertrat die Sowjetunion eine urbane Lebensweise in Wohnkomplexen. Bereits in der späten Stalinzeit wurde im Rahmen einer massiven Wohnungsbaukampagne mit vorfabrizierten Elementen experimentiert.

Doch der Bau der repräsentativen Wohnblöcke entlang von Magistralen hinkte dem Bedarf immer hinterher. Die Wohnungen darin hatten konservative Grundrisse, und in jedem Zimmer lebte eine ganze Familie – auch Neubauwohnungen waren Gemeinschaftswohnungen.

Als Stalin 1953 starb, hebelte Chruschtschow mit dem Versprechen einer kleinen Wohnung für jede Familie seine politischen Rivalen aus. Man kann sich leicht ausmalen, wie morgens in der Schlange vor dem Etagenklo der Gedanke an eine eigene kleine Wohnung im Grünen die Phantasie der Moskauer beflügelte.

Klein, aber mein: Das Glück der eigenen Wohnung

Auf dem Kongress der Baufachleute 1954 verordnete Chruschtschow eine radikale Umkehr, weg von neoklassizistischen Prachtbauten mit ihrer Ornamentik und den hohen Räumen hin zu sparsamen Dimensionen, neuen Materialien und Großtafeln, die auf der Baustelle nur noch montiert werden mussten. Das war die Geburtsstunde der Platte. Zwischen 1955 und 1970 zogen 132 Millionen Sowjetbürger in eine neue Wohnung. In den Bildern der Zeit hing der sowjetische Himmel voller Betonplatten, die an Baukränen baumelten. 

Doch da die Entwicklung der neuen industriell produzierten Bauteile einige Jahre dauerte, wurden die allerersten Wohnviertel häufig in gelben Klinkern ausgeführt. Diese Häuser waren nur vier oder fünf Stockwerke hoch, weil auch die Produktion von Aufzügen noch in den Anfängen steckte.

Tauwetter im Mikrorayon

Stadträumlich löste die offene Bauweise die geschlossenen Superblocks der Stalinzeit mit ihren repräsentativen Schaufassaden zur Straße hin, bogenförmigen Hofeingängen und sparsamen Rückseiten zum Hof hin ab. Die Demokratisierung des Bodens spiegelte die gesellschaftlichen Verhältnisse und löste diese deutliche Hierarchie von hinten und vorne, innen und außen auf. 

Ideologisch gesehen brachte die Initiative ein Dilemma: Die eigene Wohnung für jede Familie kam zwar einem breiten Bedürfnis entgegen, aber diese Privatisierung des Alltagslebens war eigentlich unsozialistisch.

Die Lösung war der Mikrorayon: Das Wohnviertel mit seinen kollektiven Angeboten sollte zum Lebensmittelpunkt werden, nicht die Familienwohnung. Die als Errungenschaften gepriesenen Kantinen, Wäschereien und Tagesschulen mit ihren sozialen Dienstleistungen waren zugleich Instrumente horizontaler Kontrolle, beispielsweise durch Lehrerinnen oder Sozialarbeiterinnen.

Analysiert man die Inneneinrichtungen der Neubauwohnungen auf späteren Fotografien, wird deutlich, dass in den gleichen Grundrissen und mit den begrenzten Möbelsortimenten trotz aller Versuche der Sozialdisziplinierung völlig unterschiedliche Lebensstile gelebt werden konnten. Die Küchentische in den Neubauvierteln wurden zu legendären Orten der Meinungsbildung, denn sie waren oft Treffpunkte der inoffiziellen Freundeskreise, die sich in der Tauwetterzeit herausbildeten. Hier konnten alle ihre privaten, wissenschaftlichen oder künstlerischen Projekte relativ ungestört verfolgen.

Das Experimentalviertel Nowyje Tscherjomuschki No. 9

Das erste Viertel in „industrialisierter Massenbauweise“ entstand zwischen 1956 und 1958 im Südwesten Moskaus für rund 3000 Menschen.1 Geplant wurde es von einem Team um Natan Osterman. Ein dutzend vierstöckige Wohnblöcke und drei neungeschossige Punkthäuser umschließen drei großzügig begrünte Freiflächen mit Wasserbecken und Spielplätzen, ergänzt wird das Viertel von Schule, Krippe, Kindergarten, Ladengeschäften, einer Speisehalle und einem Kino. Die Häuser wurden auf der Suche nach neuen Technologien in unterschiedlichen Materialien ausgeführt. Das Viertel wurde in den sowjetischen Medien als zukunftsweisend bejubelt.

 Schostakowitsch komponiert für den Mikrorayon

Die schmissige Operette Moskwa, Tscherjomuschki, komponiert von keinem Geringeren als Dimitri Schostakowitsch, entstand im Januar 1959 . Das Stück deklariert einerseits Tscherjomuschki selbst zum „magischen Garten“, in dem der Sozialismus bereits Wirklichkeit geworden ist – und andererseits das Ganze wiederum als Märchen, als Traum. 

Die Filmfassung von 1962 (Regie: Herbert Rappaport) lief über Jahre hinweg jeweils am Neujahrsabend im sowjetischen Fernsehen und propagierte mit den Mitteln der Populärkultur die Institution des Mikrorayons als sozialistische Lebensform. 

Ankunft in der Einöde

Die in der Folge realisierten Wohngebiete im neuen Stil waren dagegen „Alltag“, ihnen fehlten die planerische Sorgfalt und der Zauber von Nowyje Tscherjomuschki. Meistens waren die Wohnungen beim Einzug unfertig und mussten als erstes renoviert werden. Es haperte mit den Anschlüssen an die öffentlichen Verkehrsmittel und dem Bau der versprochenen Läden, Kindergärten und Kantinen. 

Die weiteren Wohnsiedlungen verraten zunehmende planerische Hast. In Chimki-Chowrino, Nowyje Kusminki, Fili-Masilowo, Choroschewo-Mnewniki oder Woltschonka-ZIL nahm die Monotonie ihren Anfang, die zum Kennzeichen sowjetischer Städte in den 1970er und 1980er Jahren wurde.

Wie zuvor die Kommunalka in der Literatur als Abbild der sowjetischen Gesellschaft im Kleinen verhandelt worden war, geriet die Auswechselbarkeit der Wohnviertel und Städte zur Metapher. Eindrücklich belegt dies der Film Ironija Sudby (dt. Ironie des Schicksals) von Eldar Rjasanow aus dem Jahr 1975. Im Vorspann parodiert eine Zeichentricksequenz [s. Video unten – dek] die Abkehr vom Ornament und die Gleichschaltung aller Bauten zu „Schachteln“. 

Foto © Lesless/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

Die Bedeutung des Begriffes Nowyje Tscherjomuschki wandelte sich denn auch im Verlauf nur eines Jahrzehnts: Tscherjomuschki wurde bald als Bezeichnung für alle Plattenbauten verwendet, die Häuser erhielten Übernamen wie Korobki (dt. Schachteln), Chruschtschoby (eine Hybridform zwischen Chruschtschow und slum – truschtschoba), oder als Bezeichnung für die erste Generation der Fünfgeschosser – Pjatietashki – ein Begriff, der in den 1990er Jahren bereits sozialtopografische Implikationen barg: So wohnten in diesen Häusern, für die ursprünglich eine Lebensdauer von 20 Jahren vorgesehen war, angeblich die Schwarzen, das heißt ethnische Minderheiten aus südlichen Republiken.

Zwischen Denkmalschutz und Abrissbirne

Die modulare Ästhetik des Rasters vermag in jüngster Zeit vermehrt KünstlerInnen, ArchitektInnen und ArchitekturstudentInnen zu begeistern: Die Platte ist hip, und wer sie zu schätzen weiß, verrät wahre Kennerschaft.2 Aber der Funke scheint nicht auf breitere Öffentlichkeiten überzuspringen: Die Bauten sind häufig in schlechtem Zustand, wirken schmuddelig und sind dabei nicht „alt“ genug, um vom Denkmalschutz wahrgenommen zu werden. Sie genügen auch nicht dem Kriterium der Einzigartigkeit und Originalität.

Das Experimentalviertel Nowyje Tscherjomuschki No. 9 ist einzigartig durch seine Pionier-Funktion, aber dennoch seit Jahren bedroht, da es zentrumsnah gelegen ist und der wertvolle Boden Begehrlichkeiten weckt.

Plattenbauviertel späterer Bauart sind in vieler Hinsicht „typischer“ für den spätsozialistischen Wohnungsbau, gerade weil sie weder originell noch einzigartig sind. 

Aufsehen erregte der Antrag des polnischen Architekten Kuba Snopek, den Mikrorayon Belajewo im Südwesten Moskaus aus den 1960er bis 1980er Jahren zum UNESCO-Welterbe zu erklären.3 Snopek griff auf immaterielle Qualitäten zurück und argumentierte, Belajewo sei ein Denkmal des Moskauer Konzeptualismus, weil hier zahlreiche Künstler lebten und 1974 auf einer Grünfläche die berühmte Bulldozer-Ausstellung stattgefunden hatte: Die Bilder der Nonkonformisten wurden von Bulldozern zermalmt.

Dieser Kunstgriff weist auf die treibenden Energien des Denkmalschutzes hin: Immaterielle Qualitäten sind eigentlich immer ausschlaggebend. Bauten, Orte und Räume sind mit Bedeutungen aufgeladen, und die bestimmen letztlich den Umgang mit der materiellen Erscheinungsform.



Literatur:

 

Ruble, Blair A. (1993): From khrushcheby to korobki, in: William Craft Brumfield / Blair A. Ruble (Hrsg.): Russian Housing in the Modern Age: Design and Social History, Cambridge / Mass. S. 232-270
Harris, Steven E. (2013): Communism on Tomorrow Street: Mass Housing and Everyday Life after Stalin, Washington DC
Meuser, Philipp (2015): Die Ästhetik der Platte: Wohnungsbau in der Sowjetunion zwischen Stalin und Glasnost, Berlin
Rüthers, Monica (2007): Moskau bauen von Lenin bis Chruščev: Öffentliche Räume zwischen Utopie, Terror und Alltag, Wien / Köln / Weimar
Snopek, Kuba (2015): Belyayevo Forever: a strategy for preserving a generic Soviet mass-housing estate, based on its intangible value, Berlin
arte-Dokumentation bei dekoder-Medienpartner Featvre

1.In Architektura i stroitel’stvo Moskvy 1957, Nr. 12, S. 3-10, erschien ein ausführlicher Beitrag über das soeben fertiggestellte Viertel Nr. 9 mit einer Fotoserie des prominenten Stadtfotografen Naum Granovskij.
2. vk.com: Sovmod
3. Archdaily.com: Belyayevo Forever: How Mid-Century Soviet Microrayons Question Our Notions of Preservation und garagemca.org: Belyaevo Quest
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Stalin-Hochhäuser

Blickt man auf die Silhouette von Moskau, so werden die bunten Zwiebeltürme der Basilius-Kathedrale und die goldenen Kuppeln des Kreml überragt von den aufstrebenden Turmspitzen der Hochhäuser aus der Stalinära. Sie sind sprechende Zeugnisse des Zeitgeschmacks, mehr aber noch eines politischen Systems, das auf Einschüchterung und Ausbeutung der Bevölkerung einerseits und staatlich verordneter Verherrlichung des woshd („Führers“) andererseits abzielte.

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Kasimir Malewitsch

Sein Name ist untrennbar mit seinem größten Coup verbunden – dem Schwarzen Quadrat (1915, Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau). Sein im doppelten Sinn ikonisches Gemälde stellt eine Tabula rasa für das Medium Malerei dar und bildet gleichzeitig den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer gegenstandslosen Abstraktion, die bis heute andauert. Malewitsch verstarb am 15. Mai 1935.

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Moskauer Staatliche Lomonossow-Universität

Am 25. Januar 1755 wurde sie auf Initiative des Universalgelehrten Michail Lomonossow gegründet: Die Staatliche Universität Moskau ist nicht nur die älteste, sondern auch die wichtigste und renommierteste Hochschule Russlands. Das Gründungsdatum am Tatjanin Den (dt. Tatjana-Tag) wird bis heute in Russland als Feiertag der Studierenden begangen.

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Eine Kommunalka ist eine Wohnung, die gleichzeitig von mehreren Familien bewohnt wird. Die Wohnform nahm ihren Anfang nach der Revolution von 1917, als große Wohneinheiten wohlhabender Familien auf mehrere Familien aufgeteilt wurden. Anfänglich als Not- und Übergangslösung gedacht, etablierte sich die Kommunalka bald als permanenter lebensweltlicher Ausnahmezustand und soziale Instanz. Seit der Perestroika ist es das große Ziel eines Jeden, diese Wohnform gegen eine Einzelwohnung einzutauschen.

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Tschistoprudny bulwar

Der Tschistoprudny bulwar ist Teil des Boulevardrings im Zentrum Moskaus. Er ist aufgrund seiner zentralen Lage ein beliebter Ort zum Flanieren und Verweilen und war während der Regierungsproteste 2011/12 Schauplatz von Demonstrationen und Protestaktionen.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)