Es ist das umfangreichste und größte Abriss- und Neubauprojekt, das jemals in Russland vorgenommen wurde: Im Februar verkündete Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin, dass 8000 Wohnhäuser der Stadt, zumeist Chruschtschowki im Plattenbaustil aus den 1950er und 1960er Jahren, abgerissen und ihre Bewohner umgesiedelt werden sollen. Knapp 1,6 Millionen Menschen seien betroffen und 25 Millionen Quadratmeter Wohnfläche – ein Zehntel der gesamten Wohnfläche in Moskau.
Ursprünglich hatten die ersten fünfstöckigen Chruschtschowki nur 25 Jahre als eine Art „Übergangslösung” halten sollen. Heute sind deshalb tatsächlich viele von ihnen in keinem guten Zustand mehr. Doch gerade viele ältere Bewohner verbinden mit den Chruschtschowki nach wie vor eine soziale Verbesserung, eine Wohltat durch den Staat – die das von Chruschtschow initiierte Wohnungsbauprogramm ab Mitte der 1950er Jahre für viele tatsächlich bedeutet hatte. Mit dem Versprechen einer kleinen Wohnung für jede Familie hatte Chruschtschow seine politischen Rivalen nach Stalins Tod ausgehebelt.
Den betroffenen Bewohnern wird die Umsiedlung in Wohnungen im gleichen Bezirk versprochen. Und sogar ein neuer Gesetzentwurf wurde formuliert: Nach Zuweisung einer neuen Wohnung räumt er den Bewohnern eine Einspruchs-Frist von 60 Tagen ein, wenn sie das Angebot der Stadt nicht annehmen oder gerichtlich dagegen vorgehen wollen.
Kritiker des Projekts, wie die Anwohnerin und Aktivistin Kari Guggenberger, argumentieren unter anderem, dass es – egal, wie die Mehrheit entscheidet – schlicht gegen die Verfassung sei, einem einzelnen Eigentümer gegen dessen Willen das Eigentum zu entziehen. Guggenberger hat außerdem wenig Vertrauen in die Zusagen nach gleichwertigem Wohnraum: „Wenn die Behörden unsere Grundfläche brauchen, dann sollen sie uns dafür Geld zahlen, für eine Wohnung und eine Renovierung, damit wir eine Wohnung in einem entsprechenden Haus kaufen und renovieren können. Aber eine solche Regelung ist in dem Gesetzentwurf nicht vorgesehen.“
Nach zunehmendem Unmut der Bürger, gab die Stadt Anfang Mai bekannt, dass die Anwohner von 4566 der ursprünglich 8000 vorgesehenen Häuser nun über den Abriss abstimmen sollen. Das können sie vom 15. Mai bis zum 15. Juni via Internet oder bei den städtischen Bürgerämtern tun. Das Schicksal der restlichen Chruschtschowki bleibt vorerst noch in der Schwebe. Für den 14. Mai haben die Behörden nun eine Demonstration gegen den Abriss genehmigt.
Die Novaya Gazeta hat im April Chruschtschowka-Bewohner in verschiedenen Moskauer Stadtteilen zu Hause besucht – und nach deren Meinung zu den Abrissplänen gefragt.
Maxim Borissowitsch, Anna, Maria, Artjom und Jascha Dubach
Bezirk: Beljajewo
Baujahr: 1967
Einzugsjahr: 1967
Wohnfläche: 60 m² (3 Zimmer)
Bewohner: 6 Personen, 1 Hund, 1 Igel, 1 Katze
Umzugswunsch: nein
Besser eng als ungemütlich!
Maria: Wir vier Geschwister sind in dieser Wohnung geboren und aufgewachsen. Jetzt sind wir erwachsen, haben eigene Kinder. Wenn eine meiner Schwestern mit ihrer Familie zu Besuch kommt, wird es natürlich etwas eng. Aber besser eng als ungemütlich!
Maxim Borissowitsch: Dafür zählt für uns bei jeder Wegstrecke immer nur die Zeit ab der Metrostation (denn bis zur Station Beljajewo sind es nur circa zwei Minuten zu Fuß).
Anna: Wir wollen nicht, dass man das Haus abreißt, in dem wir aufgewachsen sind. Ich unterscheide rechts und links heute noch so, wie Papa es mir beigebracht hat: Wenn man zur Küche schaut, ist links da, wo die Badezimmertür ist, und rechts – da, wo die Wand ist.
Alexander und Aljona Selin
Bezirk: Metrogorodok
Baujahr: 1959
Einzugsjahr: 1976
Wohnfläche: 72 m2
Bewohner: 5 Personen, 3 Katzen
Umzugswunsch: ja, aber innerhalb des Bezirks
Alles ist verrottet, alles ist marode
Alexander: Die Rohre sind verrottet, [*** schimpft Mat], alles ist verrottet, alles ist marode, es rieselt von den Wänden. Ich hab die Schnauze voll von dieser Wohnung. Ich will eine neue! Aber nur in diesem Bezirk. In irgendein Neu-***hausen werd ich nicht ziehen, auf gar keinen Fall. Auch wenn drei Aufforderungen kommen, ich geh hier nicht weg. Ich besorg mir ne Knarre, und dann soll mich mal einer hier rausbekommen. Aber ich weiß, dass sie unser Haus nicht abreißen.
Anastasia, Alexej, Olga Prochorjatow
Bezirk: Tuschino
Baujahr: 1959
Einzugsjahr: 2006
Wohnfläche: 53,9 m2 (2 Zimmer)
Bewohner: 3 Personen, 2 Hunde
Umzugswunsch: durchaus (aber nur in eine Pjatietashka mit hohen Decken in demselben Bezirk)
Das hier ist ein Dorf mitten in der Stadt
Olga: Die ersten fünf Jahre nach dem Einzug haben wir aus Kisten gelebt. Alle haben gewartet, dass sie uns im Rahmen des Lushkow-Programms abreißen. Haben sie aber nicht. Wir haben drei Mal renoviert, Hunde angeschafft und uns in die hohen Decken verliebt.
Gegen einen Wohnungswechsel hätten wir ja vielleicht gar nichts – das Haus „wandert“, es gibt kein Fundament, es wurde direkt auf dem Erdboden gebaut, die Rohre sind alt – aber nur im selben Bezirk!
Unsere Pjatietashki bilden sowas wie ein Dorf mitten in der Stadt, man kennt sich hier. Sogar Garik Sukatschow hat uns mal auf einem Konzert „wiedererkannt“! Er ist ja in Tuschino geboren, und er fragte uns bei einem Konzert: „Woher seid ihr denn?“, und wir: „Von der Nowoposselkowskaja“, und er: „Aus dem Dörfchen also! Unsere Leute!“
Tatjana und Iwan Jeremenko
Bezirk: Sokolniki
Baujahr: 1957
Einzugsjahr: 1965
Wohnfläche: 97,8 m2
Bewohner: 2 Personen (3 Zimmer, umgebaut in 4 Zimmer)
Umzugswunsch: kategorisch dagegen
Das ist meine ‚kleine Heimat‘
Tatjana: In einem Hochhaus bist du nur ein Schräubchen im Getriebe, du empfindest dich nicht als Individuum. Ich weiß, wovon ich rede: Ich habe in vielen Ländern und Häusern gelebt. Aber ich wollte immer nach Hause zurück. Das ist meine „kleine Heimat“. Mein Opa hat mit 51 Stalingrad verteidigt. Und ich werde mit meinen 51 mein Haus verteidigen. Ich habe schon 90 Prozent der Unterschriften gegen den Abriss zusammen.
Jelena und Dima Cholin
Bezirk: Beljajewo
Baujahr: 1967
Einzugsjahr: 1992
Wohnfläche: 58 m2 (3 Zimmer)
Bewohner: 2 Personen, 1 Hund, 1 Katze
Umzugswunsch: nein
Draußen laufen singende Afrikaner oder lustige Alkis vorbei
Jelena: Als ich hierher gezogen bin, habe ich diese Wohnung und das Viertel gehasst. Das war die Wohnung meiner Schwiegereltern (sie sind wunderbare Menschen!). Ich habe immer das Licht angemacht, wenn niemand zu Hause war. Später wurde Dima hier geboren, und jetzt will ich hier nicht mehr weg. Irgendwie entspricht das Haus von den Proportionen her seinen Bewohnern.
Dima: Wenn ich ehrlich bin, gefällt mir diese Wohnung nicht mehr besonders. Aber es geht mir mehr um Aura und Energie, nicht um den baulichen Zustand. Und die Aura in unserem Erdgeschoss ist super: Manchmal, wenn ich meine Morgengymnastik mache, laufen draußen singende Afrikaner vorbei, oder lustige Alkis.
Tja und außerdem: Wenn ich bei meinen Freunden in Hochhäusern zu Besuch bin, dann finde ich die Wohnungen natürlich schön, aber wie soll ich bitte in einem Hochhaus durchs Fenster klettern, wenn ich meinen Schlüssel vergessen habe?
Natalja, Roman und Wladimir Oreschkin
Bezirk: Oktjabrskoje Polje
Baujahr: 1959
Einzugsjahr: 1974
Wohnfläche: 43 m2 (2 Zimmer)
Bewohner: 2 Personen
Umzugswunsch: durchaus
Für eine Frau ist so eine kleine Küche ein Alptraum!
Natalja: Im Prinzip haben wir nichts gegen einen Umzug. Ich weiß wahrlich nicht, wer diese Wohnung geplant hat! Mit Durchgangszimmer und einem Flur, in dem man gerade mal alleine stehen kann, die Küche hat 4,5 m². Für eine Frau ist eine kleine Küche ein Alptraum!
Wladimir: Dafür, sehen Sie mal! (Setzt sich auf einen Hocker mitten in die Küche.) Von hier aus komme ich ans Fensterbrett, den Kühlschrank, den Herd und die Mikrowelle! Sehr praktisch! (lacht)
Roman: Wir haben nichts gegen Hochhäuser, aber ich persönlich kann nicht hoch oben wohnen. Ich habe panische Angst. Mich haben damals die Terroranschläge an der Kaschirka, wo die Hochhäuser in die Luft gejagt wurden, schwer mitgenommen.
Sofia Meshenina und Pawel, Antonina und Valentin Broner
Bezirk: Beljajewo
Baujahr: 1967
Einzugsjahr: 2009
Wohnfläche: 60 m² (3 Zimmer)
Bewohner: 4 Personen, 1 Hund, 1 Ratte und Gespenstschrecken im Aquarium
Umzugswunsch: eher nein
Warum für ein Haus kämpfen, das sowieso auseinanderfällt?
Sofia: Wenn unser Haus abgerissen wird, ziehen wir aufs Land. In dieser Wohnung habe ich meine frühe Kindheit verbracht, und ich wollte immer hierher zurück. Das ist das einzige Haus, das einzige Viertel, das ich liebe. Aber was hat es für einen Sinn, bis zum Schluss für ein Haus zu kämpfen, das früher oder später sowieso auseinanderfällt.
Jelena Serebrennikowa
Bezirk: Beljajewo
Baujahr: 1967
Einzugsjahr: 1969
Wohnfläche: 58 m2 (3 Zimmer)
Bewohner: 3 Personen, 1 Hund
Umzugswunsch: nein
Jetzt habe ich mir dieses Riesenkrokodil angeschafft
Jelena: Ich mag keine Menschenmassen. Überhaupt nicht. Ich kann alleine leben. Was ein modernes Hochhaus bedeutet, kann ich mir lebhaft vorstellen: ein Haufen neuer Gesichter, Autos und niemand, den ich kenne.
Ich bin eine „Grüne“, lebe ohne Vorhänge – aus dem Fenster sehe ich den Park. Und jetzt habe ich mir dieses Riesenkrokodil angeschafft (gemeint ist der Hund – Anm. Novaya Gazeta). Wo soll ich mit ihm hin, wenn wir umziehen müssen? Zwischen den Häusern Gassi gehen?
Julia, Igor, Sofia und Anissija Obrasow
Bezirk: Sapadnoje Degunino
Baujahr: 1964
Einzugsjahr: von Geburt an
Wohnfläche: 40 m2 (2 Zimmer)
Bewohner: 4 Personen, 1 Katze
Umzugswunsch: ja
Auf 26 m² mit zwei Kindern, Frau und Katze
Igor: Ich lebe seit meiner Geburt in dieser Wohnung, früher gehörte sie meinen Eltern. Auf 26 m² [sic] mit zwei Kindern, Frau und Katze – wie würdest du da einem Umzug gegenüberstehen? Gut natürlich. Hauptsache, sie stecken uns nicht in eine noch kleinere.
Julia: Wir haben keinen Müllschlucker, keinen Aufzug. Müssen den Kinderwagen in den vierten Stock schleppen. Unser alter Kinderwagen hat 14 Kilo gewogen. Dazu das Baby sieben Kilo. Allein schon, wenn alle zusammen einkaufen gehen wollen, ist das ein Problem. Außerdem muss alles platzsparend sein, wir haben zwei teure Ausziehsofas gekauft. Und Gäste können wir auch kaum einladen.
Julia Sacharowa
Bezirk: Ismailowski
Baujahr: 1951
Einzugsjahr: 2014
Wohnfläche: 56 m2 (2 Zimmer)
Bewohner: 1 Person, 1 Hund, 1 Eichhörnchen
Umzugswunsch: nein
Jetzt träumen sie von einer Aufwertung der Gegend
Julia: Diese Wohnung hat schon viel gesehen. Ich wollte immer in so einer leben. Ich hatte nicht genug Geld, aber der Makler hat mich überzeugt, dass das Geld schon kommt, ich es außerdem nirgendwo so gut habe wie hier.
Ich liebe meine Wohnung, den Apfelbaum, der vor meinem Balkon blüht.
Jetzt träumen sie von einer Aufwertung dieser Gegend hier, wollen eine Zufahrtsstraße zum MKAD bauen, viele Spielplätze und Häuser abreißen (unter anderem meines). Wir sammeln Unterschriften dagegen, gehen auf die Straße und halten Pikety, aber es gibt wenig Hoffnung.
Natalja Markewitsch
Bezirk: Retschnoi Woksal
Bauzeit: 1950er Jahre
Einzugsjahr: 2008
Wohnfläche: 31 m2 (2 Zimmer, umgebaut in 1 Zimmer)
Bewohner: 1 Person, 1 Katze
Umzugswunsch: ja
Das war hier ein Leben wie auf einer Datscha
Natalja: Ich habe diese Wohnung wegen des Fensterblicks gekauft. Das war hier ein Leben wie auf einer Datscha. In der Nähe ist eine Haltestelle, es gibt Obstbäume, Spielplätze und die Bäume wachsen bis an die Fenster. Sogar aus weiter entfernten Häusern kamen die Menschen mit ihren Kindern zum Spielen her.
Jetzt haben sie mich quasi umgesiedelt, ohne mein Wissen: Vor meinem Fenster wurden Stromleitungen gespannt und eine vierspurige Straße gebaut. Es gab keinerlei Gespräche mit den Einwohnern, die Proteste haben niemanden interessiert.
Mittlerweile gibt es keine Nachfrage mehr nach den Grundstücken hier, sogar das Bürogebäude nebenan steht leer. Die Leute warten darauf, neue Wohnungen zu bekommen, leben oft in Großfamilien auf engstem Raum. Aber es passiert nichts.
Wlad Suslow und seine Mitbewohner Damir und Shenja
Bezirk: Lefortowo
Bauzeit: 1950er Jahre
Einzugsjahr: 2017
Wohnfläche: 48 m2 (2 Zimmer)
Bewohner: 3 Personen
Umzugswunsch: eher dagegen
Die Oma hat die Wohnung in sehr authentischem Zustand hinterlassen
Wlad: Wir haben diese Wohnung zu dritt angemietet. Früher hat hier eine alte Frau gelebt, sie hat die Wohnung in einem sehr authentischen Zustand hinterlassen: ziemlich runtergelebt und mit über viele Jahre angesammeltem Ruß, den man nur schwer abbekommt.
Die meisten Leute im Haus sind Mieter. Hier ist es um einiges günstiger. Aber der Hauptgrund, hier zu wohnen, ist die gute Lage, man ist schnell zu Fuß an der Uni.
Ich fühle mich wohl in diesem Haus, man spürt hier sowas wie Geschichte, eine besondere Atmosphäre.