35 Mal größer als Deutschland und nicht einmal die Hälfte an Bevölkerung – in Sibirien gibt es wohl viele Ecken, die noch nie jemand betreten hat.
Lange Zeit war die Region ein Ort der Verbannung und Zwangsarbeit. Damit rief sie bei nicht wenigen Menschen in Russland unangenehme Assoziationen hervor. Die Neu-Sibirjaken stellten allerdings bald fest, dass auch hier unsere Sonne scheint (nasche solnze swetit) und entwickelten mit der Zeit ein eigenes regionales Selbstverständnis, teils zurückgehend auf das der Ureinwohner, teils in Abgrenzung zu Moskau.
Doch was macht dieses Selbstverständnis konkret aus? Warum definierten sich beim Zensus von 2010 rund ein Viertel aller Menschen in Sibirien als Sibirjaken, obwohl es eine solche Nationalität in Russland gar nicht gibt? Diese Frage stellten die Soziologinnen Alla Anissimowa und Olga Jetschewskaja. Sie haben sich aufgemacht nach Irkutsk, Omsk und Nowosibirsk und dort mit den Menschen geredet, einfach „über das Leben“. Auf Zapovednik haben sie einige dieser Interviews und die Ergebnisse ihrer Studie veröffentlicht.
Viele Sibirjaken verbringen ihren Urlaub lieber in heimischer Schönheit, als in warme Länder zu reisen / Foto © distantranges/flickr
Weite und Raum
„Ich glaube, wir Sibirjaken haben einen stärkeren Willen … Wir können gut arbeiten, haben Ausdauer. Vielleicht härten uns die Umweltbedingungen ab, wir werden hier nicht gerade verwöhnt … Der Geist ist stärker, ausdauernder, moralisch und physisch.“
(N., 32, w, Omsk)
„Ein Sibirjake mummelt sich nicht ein, er lässt den Hals frei. Zieht sich nicht dick an, er ist die Kälte gewöhnt.“
(W., 45, m, Omsk)
In fast jedem Interview thematisieren die Einwohner Sibiriens ihre Beziehung zur Natur und deren Bedeutung für sie. Viele verbringen ihren Urlaub lieber in der hiesigen Region – „in heimischer Schönheit“ , als in warme Länder zu reisen.
„Ich finde es verrückt, in den Urlaub nach Thailand zu fliegen. Wieso fährt man in ein anderes Land, um sich zu erholen? An den Baikal oder mit dem Sohn auf die Datscha – das ist für mich Urlaub.“
(I., 32, w, Irkutsk)
„Die Sibirjaken haben einen ganzen Erklärungskomplex dafür, was den sibirischen Charakter abhärtet: das Zusammenspiel von Mensch und Natur, das Gefühl von Weite und Freiheit, das Überwinden von Hindernissen und Überleben unter schwierigen klimatischen Bedingungen“, heißt es in der Untersuchung der beiden Soziologinnen.
Abgetrenntheit
Die Sibirjaken stellen in den Interviews auch Vergleiche zu Ländern an, die komplett erforscht und erschlossen sind. Sie erzählen von der dunklen Taiga, die man bei den Flügen jenseits des Ural zweieinhalb Stunden lang aus dem Flugzeugfenster sieht, und von der unterschiedlichen Wahrnehmung von physischem Raum und realer Entfernung.
„Meine Schwester kam aus dem Gebiet Archangelsk hierher nach Nowosibirsk und sagte, das sei eine andere Welt. Aus dem westlichen Teil Russlands fährt hier überhaupt niemand her, sie war ganz alleine im Coupé. Erst ab Nowosibirsk wurde der Zug voller, von hier aus fahren die Menschen weiter in den Osten …“
(L., 60, w, Nowosibirsk)
„Sibirien unterscheidet sich in … es ist nicht mal so sehr die Entfernung, als vielmehr die Abgetrenntheit. Als ich zum ersten Mal nach Moskau geflogen bin … es war merkwürdig, dass man nach so vielen Flugstunden frühstücken geht und immer noch Russisch hört. Ich hatte bei der Entfernung gedacht, es müsste dort komplett anders sein … Irgendwie fühlt sich Sibirien wie ein ganz eigenes Land an.“
(T., 39, w, Nowosibirsk)
Die Abgetrenntheit von der Hauptstadt, die schlecht entwickelte Infrastruktur zwischen den großen und kleineren sibirischen Städten sowie die ungleichen Fortbewegungsmöglichkeiten der Bewohner Sibiriens und der Menschen „hinter dem Ural“ erzeugen bei den Sibirjaken offenbar ein Gefühl der Benachteiligung und Chancenungleichheit im Vergleich zu den Bewohnern Zentralrusslands.
„Die komplette Rohstoffbasis liegt hier in Sibirien, aber wir leben viel ärmer … Hier war schon immer alles teurer, deshalb waren wir schon immer sparsamer. Eine Reise in den Süden – für die ist das das eine, für uns ist es etwas ganz anderes, genug Geld zusammenzusparen.“
(G., 59, w, Omsk)
Multiethnizität
„Ich glaube die echten, guten Sibirjaken, gibt es nur in der Gegend um den Baikalsee. In Nowosibirsk, Krasnojarsk – das sind irgendwie keine richtigen Sibirjaken, die sind zu schwach. Der Baikal ist wie ein wildes Tier, da gibt es manchmal Wellen, dass man richtig Angst kriegt. Aber bei denen, da gibt's so was nicht.“
(Je., 48, w, Irkutsk)
Die beiden Soziologinnen bezeichnen Sibirien als einen Schmelztiegel der Völker: Im Gegensatz zu traditionellen Clans seien sibirische Familien oft multiethnisch. „Unter den harten sibirischen Überlebensbedingungen und bei der Erschließung neuer Gebiete spielten ethnische und manchmal auch religiöse Prinzipien bei der Familiengründung keine entscheidende Rolle“, stellen sie fest.
„Muslime, Russen und Burjaten lebten in einem Dorf zusammen, es gab mehrsprachige Schulen und Koranschulen, die Kinder lernten verschiedene Sprachen, auch die arabische Schrift, man lebte friedlich zusammen. Alle Feste wurden mit dem ganzen Dorf gefeiert. Ostern und so weiter – alle zusammen, auch die Muslime.“
(Ch., 58, w, Irkutsk)
Weil Menschen verschiedener Religionen und Kulturen in Familien zusammenleben, hat sich in Sibirien eine besondere ethnische Toleranz entwickelt. Viele der Interviewpartner aus gemischten Familien tun sich schwer, ihre Nationalität und manchmal auch die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe oder Religion anzugeben. Der Begriff Sibirjake erlaubt es ihnen, Kultur und Herkunft aller Vorfahren zu vereinen, ohne eine der Seiten zu vernachlässigen.
Der Baikal
Die Einwohner der Oblast Irkutsk schöpfen ihre sibirische Identität außerdem aus der Umweltbewegung der 1990er Jahre, die für den Schutz des Baikalsees kämpfte. „Der Baikal schweißt Menschen zusammen, die sich unter anderen Umständen nicht einmal Guten Tag sagen würden, wie es ein Historiker einmal ausdrückte. Der See gilt als heilige Stätte. Durch diesen regionalpolitischen Aktivismus werden die Menschen zu Sibirjaken“, sagt Alla Anissimowa.
„2006 gab es hier Massendemonstrationen für den Schutz des Baikalsees, viele sagen, das sei für sie der Wendepunkt gewesen … Das war eine großangelegte Kampagne, bei der es nicht nur um die Umweltprobleme, sondern auch um die Bürgerrechte der hiesigen Bevölkerung ging … Seither steht das Wort Sibirjake auch für Solidarität. Wir leben am Baikal, und deswegen sind wir Sibirjaken.“
(I.,32, w, Irkutsk)
Epilog
Sowohl in beruflicher als auch in kultureller Hinsicht und im Hinblick auf die Umweltbedingungen – die sibirische Identität ist so eng an das Überwinden von Schwierigkeiten geknüpft, dass die Forscherinnen zu dem Schluss gelangen, sie habe Handlungscharakter: Als Sibirjake wird man nicht geboren – man wird es.
Die sibirische Identität habe die Form einer politischen Äußerung, eines Protests. Aus den drei verschiedenen Städten berichten die Menschen von fehlenden Perspektiven, einer industriellen Krise und niedrigen Löhnen. „Wenn sie nach den Ursachen für diese Probleme gefragt werden, dann äußern viele, dass sie vor allem den asymmetrischen Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem föderalen Zentrum und der sibirischen Region sowie der Erobererhaltung des Zentrums gegenüber Sibirien geschuldet sind“, so die Forscherinnen. Der Wunsch nach einer sibirischen Identität habe insofern nichts mit einem Kampf um nationale Unabhängigkeit zu tun, sondern sei ein Appell der einfachen Menschen an das Zentrum, ihre Probleme endlich zu sehen und zu berücksichtigen.