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„Wir stehen das gemeinsam durch“

Beim größten Gefangenenaustausch seit dem Kalten Krieg kamen Ende Juli 2024 insgesamt 16 Personen aus russischer Haft frei (einer davon – der Deutsche Rico Krieger – saß in Belarus im Gefängnis). Die Angaben darüber, wie viele politische Gefangene noch in Zellen und Straflagern festgehalten werden, gehen auseinander: Die belarussische Menschenrechtsorganisation Wjasna zählt gegenwärtig fast 1400 politische Gefangene in Belarus. Das Zentrum zum Schutz der Menschenrechte von Memorial zählt nur Fälle, die von den eigenen Experten untersucht und nach den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention bewertet wurden. Demnach sind gegenwärtig mehr als 340 Menschen in Russland aus politischen Gründen in Haft und mehr als 430 Personen wegen ihrer religiösen Überzeugung,  

Die Organisation OWD-Info, die eng mit Memorial zusammenarbeitet, dokumentiert Festnahmen und Strafverfahren mit politischem Hintergrund. Ihrer Zählung nach laufen Stand August 2024 in Russland fast dreitausend solcher Verfahren.  

Von den Repressionen betroffen sind aber nicht nur die Angeklagten und Verurteilten selbst. Auf dem Portal Bereg schildern Angehörige politischer Häftlinge, wie sie die Trennung erleben, wie sich ihr Leben veränderte und wie sie auf ein Wiedersehen warten: 

  • Jegor Balasejkin, 18 Jahre alt, sechs Jahre Lagerhaft. Der damals 16 Jahre alte Gymnasiast wurde am Abend des 28. Februar 2023 bei dem Versuch festgenommen, ein Rekrutierungsbüro in Brand zu stecken. 

  • Dmitri Skurichin, 49 Jahre alt, anderthalb Jahre Lagerhaft. Der Betreiber eines Einkaufsladens in einem kleinen Ort in der Leningrader Oblast hatte sich am 24. Februar 2023, dem Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine, vor seinem Geschäft niedergekniet und ein Plakat gehalten: „Vergib uns, Ukraine!“. Das deutete das Gericht als „Diskreditierung der Streitkräfte“. Skurichin war seit vielen Jahren politisch aktiv, unter anderem als Abgeordneter im regionalen Parlament. Seit der Krim-Annexion protestierte er immer wieder gegen den Krieg gegen das Nachbarland. Ende Juli 2024 wurde er aus der Haft entlassen, nachdem er seine Strafe vollständig abgesessen hatte. 

  • Boris Kagarlizki, 65 Jahre alt, fünf Jahre Lagerhaft. Der linke Soziologe betrieb einen beliebten YouTube-Kanal. Dort hatte er nach einer Explosion auf der Krim-Brücke im Oktober 2022 ein Video mit dem Titel „Explosive Grüße an den Brücken-Kater“ veröffentlicht. Ein Kater, der den Bauarbeitern zugelaufen war, wurde zuvor von russischen Staatssendern als Maskottchen der Brücke gefeiert. Kargalizki wurde am 12. Dezember 2023 zunächst zu einer Geldstrafe verurteilt. In der Berufungsverhandlung im Februar 2024 verwandelte das Gericht die Geldstrafe in Lagerhaft.  

Tatjana Balasejkina 

Mutter von Jegor Balasejkin 

Jegor war immer ein sehr guter Junge. Wahrscheinlich denken viele, wenn ich das sage: „Natürlich, die Mama. Was soll sie sonst auch sagen?“ Aber es ist wirklich so. Er hat nie Ärger gemacht, hat nie gequengelt. Ich habe ihm vorgelesen, seit er auf der Welt ist, und er hat sich so sehr daran gewöhnt, dass wir, wenn er im Kindergarten oder in der Schule krank wurde, uns dann zuhause mit Büchern hinsetzten. Man konnte sich mit ihm immer einigen: Wollte er zum Beispiel im Geschäft ein Auto, habe ich ihm immer erklärt, dass wir das kaufen können, wenn mein Gehalt ausbezahlt wird, und er hat deswegen nie einen Aufstand gemacht. 

Wir haben es geschafft, ein sehr warmherziges und vertrauensvolles Verhältnis zu unserem Sohn aufzubauen. Er hat uns nie hintergangen. Immer war er offen und ehrlich, wohl, weil er wusste, dass er von niemandem wegen einer Fünf oder wegen eines Energydrinks nach der Schule mit den Kumpels bestraft würde. Wir haben ihn nie physisch bestraft, er hat nie in der Ecke gestanden. Ich denke, er hatte das Gefühl, dass seine Eltern zu ihm stehen, und das hat zu einem vertrauensvollen Verhältnis geführt. Er hat mir immer alles erzählt, selbst intime Dinge, als er körperlich erwachsen wurde. Wir haben über seine erste Verliebtheit geredet, darüber, mit wem er im Gymnasium gut klarkommt und mit wem nicht. Wenn Jegor aus der Schule kam, zog er seinen Mantel aus, und setzte sich immer gleich an den Küchentisch und erzählte, wie sein Tag war. 

Als Jegor geboren wurde, verstand ich, dass er keine Erweiterung von mir ist, sondern ein eigenständiger kleiner Mensch mit seinen Wünschen, Interessen, mit guter oder schlechter Laune. Diese Wahrnehmung unseres Kindes half uns, das Verhältnis aufzubauen, das wir jetzt [wo er in Haft ist] haben. Obwohl er seit 15 Monaten von uns getrennt und nicht erreichbar ist, scheint mir, dass unsere Beziehung noch stärker geworden ist. Wir vertrauen einander jetzt noch mehr. 

Jegor Balasejkin bei einer Reise im Schlafwagen / Foto © privat

Bei der ersten Sitzung vor Gericht, als die Untersuchungshaft festgelegt wurde, das war am 2. März 2023, hat Jegor uns kein einziges Mal angeschaut. Unsere Blicke ließen nicht von ihm ab, und er schaute kein einziges Mal her. Auch beim ersten Besuch in der Untersuchungshaft war er irgendwie vorsichtig. Erst einige Zeit später haben wir darüber gesprochen. Er sagte da, es sei ihm so vorgekommen, als würden wir ihn nicht unterstützen: „Ich werde jetzt allein sein in meinem Kampf.“ Mein Mann und ich waren perplex: „Wie können wir dich nicht unterstützen, wo wir dich doch dein ganzes Leben lang unterstützt haben? Wir haben alle deine Entscheidungen immer akzeptiert.“ Jegor meinte, er habe befürchtet, dass wir uns ja von ihm abwenden und ihn nicht weiter begleiten würden. Aber nach dem Gespräch war ihm dann sehr viel leichter ums Herz und froh zumute. Er hatte verstanden, dass wir diesen Weg gemeinsam bis zum Ende gehen. Unser Verhältnis wurde noch enger, nun vertraut er uns blind. 

Wir können jetzt sogar über mehr Themen reden als in der Zeit, als er noch in Freiheit war. Er hat keinen Zugang zu Informationen, außer über den Fernseher. Jetzt sind wir seine Informationsquellen. Wir informieren uns über alles Mögliche: Literatur, Geschichte, Geografie, die Geschichte militärischer Konflikte. Alles, was wir erfahren, schicken wir ihm per Brief. Militärische Konflikte haben mich nie interessiert. Ich habe mich immer mehr für Sprachen interessiert – ich bin Englischlehrerin. Jetzt müssen wir die unterschiedlichsten Themen studieren, kurze Exzerpte schreiben und sie ins Gefängnis schicken. Und die Themen, über die wir sprechen, sind noch zahlreicher geworden. 

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Jegor wurde am 28. Februar 2023 unweit einer Rekrutierungsbehörde in Kirowsk festgenommen. Erst nach zwei Stunden wurden mein Mann und ich informiert. Zuerst dachten wir, dass wir jetzt irgendwelche Erklärungen unterschreiben, ihn dann mitnehmen und nach Hause fahren. Der Ermittler sagte uns aber, dass Jegor nicht nach Hause kann. Alle seine Sachen seien jetzt Beweisstücke, weswegen wir ihm neue bringen müssten. Dann folgten Durchsuchungen und Verhöre. Alles ging sehr schnell. Nach dem Verhör wurden die Ermittlungen neu eingestuft, es ging nicht mehr um § 167 des Strafgesetzbuches [„Vorsätzliche Sachbeschädigung“ – dek.], sondern um § 205 [„Terroristischer Akt“ – dek.]. 

Bis er hinter Gitter wanderte, hatte ich noch Hoffnung: Ich ging zu Hause auf und ab und fragte mich immer wieder: „Wie können wir dich da rausholen?“ Vom Gericht kehrte ich dann mit anderen Gedanken zurück: „Wir können dich da nicht rausholen. Wir müssen etwas unternehmen.“ Wir suchten im Internet nach Informationen, nach Menschenrechtsorganisationen und so weiter. Beim ersten Besuch sagte Jegor, wir sollten nicht mal daran denken, auf etwas zu hoffen, und dass es keinen Sinn hat, Geld für Anwälte auszugeben: „Ist doch völlig klar, wie es weitergeht. Ihr versteht ja, dass sie mir den 205er nicht deshalb anhängen, weil ich Flaschen geworfen habe, sondern wegen dem, was ich gesagt habe.“ 

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Unser Leben hat sich in diesen 15 Monaten um 180 Grad gewendet. Aus naiven Erwachsenen, die an Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Anständigkeit glaubten, haben wir uns in komplette Realisten verwandelt. 

Die erste Zeit nach der Verhaftung war am schmerzlichsten und schrecklichsten. Als ob man mich von einem Planeten auf einen anderen geworfen hätte, wo alles ringsum für mich fremd ist. Die Hoffnung und der Glaube an das Gute schwand mit jedem Prozesstag. Uns war klar, dass er nicht mit einer Bewährungsstrafe davonkommen wird. Wir hatten ja gehört, wie der Staatsanwalt und der Sekretär des Richters miteinander flüsterten und Jegor einen politischen Verbrecher nannten. Und obwohl einem all das bewusst ist – auf die Urteilsverkündung bist du dann doch nicht vorbereitet. Emotional kannst du damit unmöglich zurechtkommen. Als ich von den sechs Jahren hörte, wurde ich hysterisch, obwohl ich mich darauf eingestellt hatte. Am 15. Mai wurde Jegor auf die Liste der „Terroristen und Extremisten“ gesetzt: Wir wussten, dass das passieren würde. Aber wenn du ihn dann auf den Listen siehst, bist du doch wieder erschüttert. Zwei Tage stand ich total neben mir, das war wirklich ein Schlag für mich. 

Mein Mann wurde einen Monat nach Jegors Verhaftung von seinem Arbeitgeber entlassen. Er kann nirgendwo mehr Arbeit finden, weil es überall, wo er sich bewirbt, eine Überprüfung durch die Staatssicherheit gibt. Und überall leuchtet knallrot, dass unser Sohn ein Terrorist ist. 

Jegor Balasejkin mit seinen Eltern Daniel und Tatjana. Nachdem Ermittler an seinem Arbeitsplatz aufgetaucht waren, verlor Daniel Balasejkin seinen Job als Elektriker / Foto © privat

Ich habe versucht in die ONK (Gesellschaftliche Beobachtungskommission) der Leningrader Oblast zu kommen. Die suchten zusätzliche Mitglieder. Ich schickte meine Papiere hin und machte sofort klar, wegen welches Paragrafen mein Sohn einsitzt. Sie sagten mir, dass sei gar kein Problem. Einige Wochen später rief man mich an und erklärte: „Wir haben die Bewerberlisten zur Prüfung an den FSB geschickt. Leider steht neben ihrem Familiennamen „Aufnahme kategorisch nicht empfohlen“. 

Unser Freundes- und Bekanntenkreis hat sich von Grund auf verändert: Wir haben praktisch mit niemandem mehr Kontakt, der vor dem 28. Februar Teil unseres Lebens war. Überhaupt versuchen wir, uns mit niemandem zu treffen. Weil es uninteressant ist, über aufgeblühte Blumen und die Preise im Supermarkt zu reden. Früher war es für mich wichtig, dass ich leckeres Essen koche, dass die Wohnung aufgeräumt ist, dass alle Handtücher so hängen, wie ich es möchte. Jetzt weiß ich, dass mir völlig egal ist, wie die Handtücher hängen und was ich zu Essen koche. Ich nutze die Zeit lieber für Sachen, die jetzt wichtig für mich sind: Ich werde die Strafprozessordnung studieren. Die Werte haben sich für mich vollkommen verschoben. 

Unsere Freunde und Verwandten sind geteilter Meinung: Einer hat Jegor des Verrats beschuldigt. Andere meinten, dass er ein dummer Junge sei und jetzt dafür büßen wird. Aber unsere Gerichte seien gerecht, und er werde natürlich freigesprochen und nach Hause kommen. Als dieses „gerechte“ Gericht dann sein Urteil fällte, war das ein Schock für diese Leute. Es gab niemanden, der sich vollkommen auf die Seite von Jegor stellte. Solche gab es nur unter denen, die wir nach seiner Verhaftung kennenlernten: seine Abonnenten, Menschen, die zu den Gerichtsprozessen gehen, die ihm Briefe schreiben. 

Wir haben immer zu unserem Sohn gehalten und wir werden weiter zu ihm halten. Die Art und Weise, mit der er seine Überzeugung deutlich gemacht hat, war vielleicht nicht ganz korrekt. Aber er hat ein Recht auf diese Überzeugung. 

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Eine Zeit lang hörte ich Lieder, die mich aufmunterten. Dann begriff ich, dass sie keinen Trost mehr spenden: Wenn ich ein Lied abspiele, beginne ich sofort zu weinen. Das ist nicht gut, denn so werde ich immer trauriger. Zu Hause hängen die beiden T-Shirts, die wir beim Berufungsverfahren anhatten, mit Fotos von Jegor. Jeden Tag wache ich auf und sehe das Gesicht meines Sohnes. Ich gehe hin, küsse es, grüße ihn, spreche mit ihm, während ich durchs Zimmer gehe. Das gibt mir das Gefühl, dass er bei mir ist. 

Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich es schaffe, und dann wieder nicht. Ich wünsche mir, dass ich in den kommenden fünf Jahren nicht vollkommen den Verstand verliere, dass ich geistig gesund bleibe. 

Ich bin übervoll mit Hass, und das macht mir Angst. Ich wäre gern wie Jegor, weil er keinen Hass gegen die Menschen hegt, die ihn hinter Gitter gebracht haben und diesen Irrsinn in unserem Land veranstalten. Ich würde mich gern von diesem Hass befreien, weil Hass schlecht ist. 

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Ich denke, wenn Jegor 2029 freikommt, wird sich im Leben des Landes nichts verändert haben, und es wird kein wirklich demokratisches Land sein. Für Jegor wird hier kein Platz sein. Ihm wird der Weg in eine Zukunft versperrt sein. Uns ist er jetzt schon verbaut. 

Nach seiner Freilassung wird Jegors Name noch acht oder zehn Jahre auf der Liste der Terroristen und Extremisten stehen. Ist Ihnen klar, was das heißt? Ihm werden Rechte vorenthalten: keine Uni, keine Arbeit. Mit 22 Jahren werden ihm hier alle Wege verschlossen sein, wenn sich nichts ändert. Als wir darüber redeten, sagte er: „Ich werde das Land keinesfalls verlassen, wenn ich freikomme. Ich werde es in dieser Lage nicht hängenlassen. Wenn ich rauskomme und alles gut ist, dann denke ich vielleicht über Emigration nach.“ 

Das ist seine Entscheidung, und er hat ein Recht darauf. Wenn er diesen Weg wählt, werden auch wir hierbleiben. Wir können natürlich unsere Meinung sagen, doch die Entscheidung wird allein er treffen. Wir werden jede seiner Entscheidungen unterstützen. 

Familie Balasejkin im Juni 2022. Acht Monate später wurde Jegor festgenommen. Er soll versucht haben, ein Rekrutierungsbüro der Armee in Brand zu stecken / Foto © privat

Hoffnung, dass Jegor früher freikommt, haben wir nicht. Wir sind in Berufung gegangen und sammeln jetzt die Papiere für die nächste Instanz. Erstens tun wir das, weil wir das Recht dazu haben. Und zweitens zeigen wir damit, dass wir mit der Entscheidung des Gerichts nicht einverstanden sind. Drittens können wir nur darauf hoffen, dass all diese Verfahren revidiert und die betroffenen Menschen rehabilitiert werden. Und dafür müssen wir alle Wege beschreiten, die das Gesetz vorsieht. Obwohl wir keine Hoffnung haben, dass das Verfahren jetzt revidiert wird. 

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Das letzte Mal haben wir uns am 5. Juni gesehen. Er sah aus wie immer, erzählte nur, er habe sich gewogen und habe vier Kilo abgenommen, obwohl er sich wie immer ernährt und wie immer trainiert. 

Emotional ist es natürlich schwieriger, weil 15 Monate in einer kleinen Zelle mit fünf Leuten schwer zu ertragen sind. Sie haben nur selten Hofgang. Meistens findet der auf dem Dach statt. Der Ort unterscheidet sich kaum von einer gewöhnlichen Gefängniszelle: die gleichen gemauerten Wände, nur anstelle einer Decke ist oben ein Gitter. 

Jegor ist ein gebildeter, reifer, intellektueller Junge. Ihm fällt es nicht leicht, 24 Stunden am Tag mit Jungs zusammen zu sein, die von nichts eine Ahnung haben. Denen ist schwer begreiflich zu machen, warum man sich wäscht, die Zähne putzt, die Füße wäscht. Er hat jetzt die Funktion eines Erwachsenen, eines Erziehers, der diesen Jungs (die meisten von ihnen sind aus einem Heim oder aus schwierigen Familienverhältnissen) ganz einfache Dinge beibringen soll. Er führt sie ein bisschen ans Lesen heran. Wenn er ein Buch ausgelesen hat, gibt er es weiter. 

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Die Häftlinge brauchen unsere Unterstützung. Sonst lebt man hinter Gittern mit dem Gefühl, dass man alleingelassen wurde. Als Jegor dann Briefe bekam, hat ihn das seelisch unglaublich gestärkt! Er sagte mir: „Du kannst dir nicht vorstellen, was für Leute mir schreiben. Die sind so stark und mutig, dass mein Glaube an die Menschen wiederkommt. Und daran, dass es mit der Zeit wieder gut wird im Land.“ 

Die Briefe helfen dabei, den Kontakt zur Realität nicht zu verlieren. Die Leute schicken Nachrichten, und man hat mehr oder weniger einen Überblick, was so vor sich geht. Sie schreiben aus aller Welt, aus Montenegro, Deutschland, der Schweiz, Kanada … Sie erzählen etwas über ihre Städte. Das erweitert seinen Horizont. Ich bin in einigen Chatgruppen, in denen sich die Leute austauschen, die Briefe an politische Gefangene schreiben. Und ich bin begeistert, wie viel Energie die da hineinstecken. Die Leute schreiben mitunter 20 Briefe am Tag. Und wieviel Kraft sie haben, dass sie für jeden politischen Gefangenen, mit dem sie im Briefwechsel stehen, Nachrichten zusammenstellen und Geschichten erzählen. 

Finanzielle Unterstützung ist ebenfalls sehr wichtig: Anwaltskosten, Versorgungspakete, wenn etwas auf dem Konto des politischen Gefangenen ankommt, kann er sich wenigstens ein bisschen was davon kaufen. Mit den Paketen muss man übrigens vorsichtig sein: Für Minderjährige ist deren Gewicht nicht begrenzt. Bei Volljährigen ist alles streng reglementiert, und jedes Paket, das nicht mit der Unterstützergruppe abgesprochen ist, kann den Plan durcheinanderbringen. 

Auch vom Ausland aus können die politischen Gefangenen unterstützt werden: Man kann Aktionen organisieren, ihre Geschichten bekannt machen und Menschen für sie interessieren. Ich verfolge die Mahnwachen zur Unterstützung für Jegor, auch wenn es nicht viele sind. Vor kurzem fand in Berlin ein Briefeschreibabend für politische Gefangene statt. Wir waren per Video zugeschaltet. Ich berichtete von Jegor, und die Teilnehmer schrieben ihm dann Briefe. Man kann alles Mögliche unternehmen, nur eines darf man gewiss nicht tun – schweigen. 

 

Tajana Skurichina  

Ehefrau von Dmitri Skurichin 

Wir sind beide im Dorf Russko-Wyssozkoje geboren, das liegt hinter Krasnoje Selo, einem Vorort von Petersburg. Ich ging auf die Hochschule für Handel und Wirtschaft, fuhr mit dem Bus zu den Vorlesungen. Er studierte am Wojenmech [Staatliche technische Ostseeuniversität]. Wir haben uns im Bus kennengelernt. Ich musste in dieser Zeit lernen, wie man Integrale berechnet. Und ich versuchte, seine Bekanntschaft zu machen: Er lernte mit mir, wir machten Übungsaufgaben. So wurden wir ein paar und heirateten schließlich. 

1998 wurde unsere erste Tochter geboren. Das Jahr war ziemlich schwierig: die Rubelkrise, alles. Wir mussten ein Gläschen Babybrei buchstäblich auf mehrere Tage strecken. Nach fünf Jahren kam unsere zweite Tochter. Vor ein paar Tagen haben wir ihren Geburtstag gefeiert. Ich habe meinem Mann ein Festtagspäckchen ins Lager geschickt. 

Wir haben insgesamt fünf Töchter. Die Älteste lebt schon seit anderthalb Jahren mit ihrem Mann in Montenegro. Die Zweitälteste studiert an der Polytechnischen Universität Sankt Petersburg Werbewirtschaft und Öffentlichkeitsarbeit. Dann kommen die Zwillinge, 13 Jahre alt. Als ihr Papa verhaftet wurde, rief mich jemand an und sagte, dass es im Moskauer Umland ein gutes Internat gebe, wo man sie unterbringen könnte [was ich auch tat]. Ich besuche sie natürlich, packe Päckchen, schicke Leckereien. Die Jüngste geht hier [in Russko-Wyssokoje] zur Schule. 

Dmitri Skurichin beim Langlauf mit seinen Töchtern / Foto © privat

Natürlich ist es schwer für mich allein. Als die beiden Mädels ins Internat kamen, konnte ich etwas durchatmen. Jetzt sind aber Ferien, und alle sind zu Hause. Ich habe vor kurzem eine Woche Urlaub genommen. Mir ist klar geworden, wie erschöpft ich bin, selbst im Urlaub. Alle sind zu Hause, alle wollen was essen, alle wollen versorgt werden, damit sie beschäftigt sind, von den Handys loskommen, Bücher lesen, sich bewegen. Manchmal rufe ich meinen Mann an und klage. 

Wir hatten neulich ein längeres Treffen. Die Besuchszeiten fielen auf Werktage, und das ließ sich auch nicht ändern. Ich musste mich ganz schön ins Zeug legen, um diese drei Tage freizubekommen. Als ich wiederkam, musste ich sofort zur Arbeit. Nach Feierabend begrüßten mich die Mädels mit „Mama, wir haben Hunger!“ Sie hatten den Schokoladevorrat gefunden, den ich zu Hause versteckt hatte, auch die, die für ein Päckchen an Dima vorgesehen war. Die Buletten im Kühlschrank hatten sie „übersehen“. Ich schmiss schnell Nudeln in die Pfanne, versorgte alle und machte mich wieder schnell auf zur Arbeit, um dort alles aufzuholen. So strampele ich mich seit über einem Jahr ab. 

Jeder Tag ist ein Kampf. Es müssen Alltagsfragen geklärt werden. Und ich reiße mich in Stücke. Wir leben vor der Stadt, im eigenen Haus, und man muss sich um alles selbst kümmern: Die Kinder, das Auto, der Garten. Wer wird bei der Reparatur helfen? Wer bringt das Gewächshaus in Ordnung? Fast immer winde ich mich alleine heraus. Dima ruft aus der Strafkolonie manchmal Verwandte an und bittet sie, mir zu helfen. Es ist gut, dass wir wenigstens per Telefon Kontakt zu meinem Mann halten können. 

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Ende der 1990er Jahre [hatten wir] die Möglichkeit, in unserer Siedlung ein Gebäude zu kaufen. Dima beschloss, daraus einen Laden zu machen. Der gleiche Raum, unser Raum, an den er seine Parolen geschrieben und wo er die Plakate aufgehängt hat. Und als die Kioske von Supermarkt-Filialen abgelöst wurden, baute er das Gebäude ein bisschen um und vermietete es. Ich bin von der Ausbildung her Buchhalterin und habe ihm immer geholfen. 

Sein Interesse für Politik ging ziemlich an mir vorbei. Es gab ja die fünf Kinder, immer wieder Arbeit, die Buchhaltung [im Geschäft]. Und in den 2000er Jahren kandidierte er für den Kommunalrat. Das hat ihn sehr interessiert. Er wurde in den Kommunalrat gewählt. Es gab zwölf Abgeordnete, elf von Einiges Russland und er allein [als Unabhängiger]. 

Das war kein Zuckerschlecken: Immer waren elf dafür und er dagegen. Bei jeder Erhöhung der Gebühren für kommunale Dienstleistungen zum Beispiel, die von der Regierung der Oblast aufgedrückt wurden, hoben alle zustimmend die Hand, nur er stimmte dagegen. Es war schwierig für ihn. Psychisch ist das kaum zu ertragen. Er befasste sich mit Fragen der kommunalen Versorgung: Die Leute kamen ja und berichteten von ihren Problemen, dass nicht geheizt wird und es kalt ist in den Wohnungen, dass die Gebühren hoch sind. Und Dima versuchte sich in all das einzuarbeiten. Es gab eine Zeit, da wurde ihm gedroht. Sie sagten: „Schau mal, du hast Familie, Kinder … Wenn du dich weiterhin einmischst, dann müssen wir da was unternehmen.“ Der Kommunalverwaltung war er ein Dorn im Auge, deswegen waren seine Jahre als Abgeordneter [von 2009 bis 2014] sehr schwer für uns. 

Dima war es wichtig, sich in das öffentliche Leben einzubringen und das Leben in seinem Dorf zu verbessern. Ich belästigte ihn nie mit Fragen, etwa, warum hast du dich bloß darauf eingelassen? Ich habe ihn nicht behelligt. Nur einmal sagte ich: „Besser nicht, lass das lieber“, das war, als er sich mit dem Plakat hinstellte „Vergib uns, Ukraine“ [24. Februar 2023]. Zu dem Zeitpunkt lief bereits ein Strafverfahren gegen ihn, bestimmte Sachen waren ihm verboten (er durfte kein Telefon oder Gadgets verwenden). Ich bat ihn nur, es nicht zu tun, ich hatte ein ungutes Gefühl. Aber er sagte, da wird nichts Schlimmes geschehen – am Abend kamen sie dann, um ihn abzuholen. 

Es war der Hochzeitstag seiner Eltern. Mehrere Autos fuhren vor, Dima ging raus, um mit ihnen zu sprechen. Sie erlaubten allen Gästen, heimzufahren – übrig blieben ich und die zwei Kinder. Wir stiegen ins Auto, fuhren los und realisierten, dass man uns folgte. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir schon zwei Hausdurchsuchungen hinter uns, ich konnte das nicht mehr ertragen: Sie führen sich bei dir im Hof auf wie die Schweine, rauchen, trinken Kaffee, schauen dir nicht ins Gesicht und fluchen heftig rum… unerträglich. Fiese Visagen, eine Meute, die deine Tür kaputt macht, die Fenster, ohne irgendwelche Dokumente vorzuzeigen. Sie führen sich auf wie eine Horde Banditen. Sie nehmen alles mit. Nach der ersten Hausdurchsuchung war nicht einmal mehr Geld da, um das Auto zu betanken. Sie hatten es mitgenommen, sagten, sie „müssen es überprüfen“. Am Morgen nach der ersten Hausdurchsuchung blieb ich mit kaputter Tür zurück und hatte nicht eine Kopeke in der Tasche. Ich hatte nichts, was ich den Kindern zu essen geben konnte. Nur gut, dass schnell eine Sammelaktion organisiert wurde, sonst hätte ich nicht gewusst, was aus uns geworden wäre. 

Ich sagte meinem Mann, lass uns nicht nach Hause fahren, ich will keine weiteren Hausdurchsuchungen. Wir fuhren bis Krasnoje Selo, Dima gab mir den Schlüssel und sagte, er fahre nach Petersburg; er wolle ein wenig „spazieren gehen“. Ich fuhr allein mit den Kindern nach Hause, merkte, dass uns ein Wagen folgte, und dachte: „Verdammt, ich bin 46 Jahre alt, Mutter von 5 Kindern, und die treiben mit uns solche Agentenspielchen“. 

Gegen Abend kam Dima zurück, er kletterte durchs Fenster, und wir blieben in der Dunkelheit sitzen, weil wir wussten, dass das Haus unter Beobachtung stand. Am Morgen nahmen sie ihn mit. Ich war schockiert von diesem Verhalten [der Behörden]. Dass man so mit dir umspringt, obwohl du kein Bandit bist, kein Mörder und mit Drogen nichts zu tun hast. Ich dachte: Wir haben vielleicht einen Staat, toll, wie der sich aufführt. 

Dmitri Skurichin posiert vor einer Statue der Justitia. Er war seit vielen Jahren politisch aktiv, auch als Abgeordneter. Für seinen Protest gegen den Krieg schickte ihn ein Gericht für anderthalb Jahre in ein Straflager / Foto © privat

Meine zweite Tochter ist dieses Mal schon wählen gegangen [bei den Präsidentschaftswahlen im März 2024], die kleineren Töchter ahnen angesichts der letzten Ereignisse auch schon was, sie beginnen sich für Politik und das, was im Land passiert zu interessieren. Ich agitiere sie nicht, aber die Umstände beeinflussen sie. Sie sehen, wie schwer das alles für mich ist, wie ich allein am Rotieren bin, und sie verstehen, dass ihr Papa wegen seiner Überzeugung im Gefängnis sitzt. Wenn dich der Staat mal dermaßen erschüttert hat, gehen gewisse Chakren auf, du beginnst, viele Dinge in einem anderen Licht zu betrachten 

Ich begreife nicht, wofür Dima jetzt seine Gesundheit ruiniert. Wenn sie einen jetzt für seine Meinung ins Gefängnis stecken, dann wäre es besser, das Land zu verlassen. Vielleicht wäre das auch besser für die Kinder. Wir haben viele Kinder. Ich mache mir Gedanken darüber, wie wir das bewältigen, was wir tun können. Ich bin ratlos. Ich bin in Panik, wie sollen wir hier weiterleben, wenn Dima rauskommt Ende Sommer 2024? – ich habe keine Ahnung. Wir stehen schon auf der schwarzen Liste: Wie sollen wir jetzt unser Geschäft weiterführen? Wenn man bedenkt, dass sie einen jederzeit wieder verurteilen können.  

Über das, was war, beklage ich mich nicht. Aber wie sollen wir damit weiterleben? Ins Ausland gehen will Dima natürlich nicht. Doch ich sage ihm immer wieder, dass wir bereits am Boden sind. Ich weiß nicht, wie es uns ergehen würde, wenn wir ins Ausland gingen, aber ich würde diese Erfahrung gern machen. Denn hier habe ich schon viel gesehen – und mehr davon möchte ich nicht erleben. Dima sagt immer: „Wir beide haben doch gut gelebt“. Doch ich sage ihm, dass wir noch nicht am Ende unseres Lebens sind, dass wir noch die Kinder großziehen müssen. Und ich möchte sie zu normalen Menschen erziehen. 

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Als Dima noch in Untersuchungshaft war, haben wir uns Briefe geschrieben; drei Briefe durften wir einander pro Woche schreiben. Das war natürlich ungewohnt: Wir haben unser ganzes Leben zusammen verbracht, deswegen habe ich nie Briefe geschrieben. Mir war wichtig, sie mit der Hand zu schreiben, das Handgeschriebene vermittelt etwas Persönliches. Ich wusste, dass handschriftliche Briefe länger brauchen, aber ich wollte es genau so – Dima sagte dann, es habe ihn gefreut, meine Handschrift zu sehen, das wärme die Seele. Doch zum Straflager sind Briefe sehr lange unterwegs. Ich versuche ihm Bücher mitzubringen, aber es gibt Probleme: Sie lassen nicht alle Bücher durch. Beim ersten Treffen nahm ich ein Büchlein mit: Fahrenheit 451. Ich hatte es eingewickelt, niemand merkte etwas. 

Seit er im Straflager ist, telefonieren wir miteinander. Das kostet zwar Geld, aber dafür unterhalten wir uns zehn Minuten täglich, tauschen aus, was es Neues gibt. Letzte Woche war die Verbindung schlecht: Mal verstand ich kaum etwas, mal er. Aber diese täglichen Gespräche sind wichtig. Dima fragt viel nach den Kindern, er fürchtet, wenn er rauskommt, werden sie sich verändert haben. 

Jetzt kämpfen wir dafür, dass er früher rauskommt, und seien es nur zehn Tage. Er will endlich wieder bei den Kindern sein und ans Meer fahren, das wäre ein Traum. 

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Ich denke nicht, dass Dimas Festnahme besonders starken Einfluss auf die Kinder hatte. Aber ich kriege mit, dass sie neuerdings andere Leute fragen, was sie wählen. Ich habe sie gebeten, vorsichtiger zu sein und nicht solche Fragen zu stellen. Ich hatte die Befürchtung, dass sie das [Dmitris Haft] in der Schule nicht verstehen würden, aber alles ist gut – die Lehrer fragen [die Mädchen]: „Und wann kommt der Papa raus?“ 

Am heftigsten waren für mich die Hausdurchsuchungen. Die erste Zeit saß ich im Dunkeln, damit niemand sehen konnte, dass ich zuhause bin. Wann immer ich konnte, ging ich arbeiten, nur um nicht zu Hause zu sein. Ich hoffe, dass die Mädchen keinen Schaden genommen haben; sie sind noch klein, sie werden zurechtkommen. 

Seitdem Dima fort ist, habe ich völlig verlernt zu planen. Ich plane nicht weiter als eine Woche im Voraus, aber ich weiß genau, dass ich auf lange Sicht dazu bereit bin, von hier fortzugehen. Früher hatte ich davor Angst, aber jetzt nicht mehr. Ich weiß jetzt, was Gefängnis bedeutet; mehr brauche ich nicht zu wissen. Ich warte sehnlichst auf Dima. Was dann sein wird, weiß ich nicht. 

 

Xenia Kagarlizkaja 

Die Tochter von Boris Kagarlizki 

Es gibt Eltern, die sehr viel zu tun haben, viel Zeit auf der Arbeit verbringen und den Kindern wenig Aufmerksamkeit schenken. Das ist bei mir nicht der Fall. Papa und ich waren immer zusammen. Wir sind zum Beispiel in verschiedene Länder gefahren. Wir waren in Syrien, 2013, noch vor dem Krieg, drei Mal in Kuba, Papa hatte die Idee, dass ich Kuba noch vor dem Tod von Fidel Castro sehen sollte (Castro starb 2016 – Anm. Meduza). Urlaub mit Papa war immer interessant, weil er ein Wikipedia-Mensch ist: Er weiß zu allem etwas zu sagen, zu jedem Thema, jedem Gebäude. Ich kam immer mit viel neuem Wissen von diesen Reisen zurück. Meine ganze Kindheit habe ich in ständigem Austausch mit meinem Vater verbracht. 

Für kleine Kinder ist es wichtig, zu verstehen, was gut und was böse ist, wo die Grenze zwischen Schwarz und Weiß verläuft. Für Kinder ist es schwer, die Zwischentöne zu verstehen. Aber Papa war da ganz anders: Er hat mir immer alle möglichen Varianten und Sichtweisen beschrieben, und dann gesagt: „Die Schlussfolgerungen ziehst du selbst“. Einerseits entwickelt sich so kritisches Denken, andererseits ist das etwas schwierig zu akzeptieren, wenn du fünf Jahre alt bist. 

Mit Papas Sicht auf die Welt im Hintergrund wuchs ich zu einem sehr resoluten Menschen heran. Beispielsweise bin ich bereit, jemandem zu kündigen, wenn er sich einmal voll daneben benommen hat – bei Papa würde er noch 1000 Chancen bekommen. 

Wenn ich irgendwo Unterstützung bekommen kann, dann bei Papa. Ich habe sogar ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ganz der Vater“, seit seiner Verhaftung trage ich es ständig. Wir konnten uns immer blind vertrauen. Wir telefonierten täglich, seit ich volljährig und ausgezogen bin. Wir haben zusammen Fargo, Breaking Bad, Game of Thrones gesehen. Das war unser allabendliches Ritual.  

Boris Kagarlizki mit seiner Tochter Xenia. Sie half ihm bei den ersten Schritten mit seinem eigenen YouToube-Kanal. Für ein Video verurteile ihn ein Gericht zu fünf Jahren Lagerhaft / Foto © privat

Als Teenager bekam ich genauer mit, was Papa macht, weil ich begann, mich auch für YouTube zu interessieren. Mit der Zeit wurde aus dem Zeitvertreib Arbeit. Damals war der Kanal Rabkor nicht besonders aktiv, aber irgendwann brachte ein Bekannter Papa auf die Idee, zu streamen: „Die Menschen könnten euch ihre Fragen schicken und dafür spenden sie“. Papa kam zu mir und fragte: „Kannst du einen Stream einrichten?“ Ich sagte, nein. Also fanden wir es gemeinsam heraus.  

Wir streamten das erste Mal, als ich 15 war. Der Stream brach dauernd ab, von Zeit zu Zeit waren wir nicht sicher, ob die Verbindung zu den Zuschauern steht oder nicht. Ich musste immer wieder ins Bild laufen, um etwas auszubügeln. Wir streamten ja mit einer normalen Webcam vom Computer. Und den Leuten gefiel es, dass mal ich im Bild auftauchte, mal unser prächtiger Kater Stepan. Gleich beim ersten Stream spendeten die Menschen.  

Daraus entstand allmählich das Genre unserer häuslichen Streams: Ich verlas zu Beginn die Fragen aus dem Off und erschien dann immer mal wieder im Bild. Dann nahm ich einen Job bei einer größeren Firma an, die auch mit YouTube arbeitet. Ich trennte mich von Rabkor, aber seit Papa 2023 verhaftet wurde, helfe ich dem Team wieder. 

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Wie gefährlich das ist, was Papa macht, wurde mir klar, als ich in der achten Klasse war. Es gab eine Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz [6. Mai 2012], und Papa bestand darauf, dass ich mit ihm hinging. Warum auch immer, ich wollte nicht, obwohl ich schon zuvor auf Demonstrationen gewesen war. Seit der fünften Klasse hatte Papa mich ins Schlepptau genommen.  

Eine Woche nach dieser Aktion lud man ihn zum Verhör ins Ermittlungskomitee. Er sagte, er fahre in einer Woche nach Deutschland und wenn sie bei ihm eine Hausdurchsuchung durchführen wollen, sollten sie nicht in diesem Zeitraum kommen. Natürlich taten sie genau das. Um sieben Uhr früh kamen komische Typen zu uns nach Hause, Mama stand ihnen Rede und Antwort, in dieser Situation spürte ich zum ersten Mal, wie gefährlich das wirklich war. Danach machte ich mir keine Illusionen mehr. 

Familienbild mit Katze / Foto © privat

Aber so richtig Angst um Papa hatte ich erst nach seiner Verhaftung [im Jahr 2023]. Eine Hausdurchsuchung ist nur eine Hausdurchsuchung: Sie kommen und gehen wieder. Selbstverständlich belastet einen das, aber man kommt darüber hinweg. Nachdem er das erste Mal wieder freigekommen war [Mitte Dezember 2023], kam mir der Gedanke, dass ich mir wünsche, er würde das Land verlassen. Er würde unterrichten, einer ganz anderen Tätigkeit nachgehen, auch auf seinem Gebiet. Aber er würde sich keiner Gefahr mehr aussetzen. Er ist aber nicht ins Ausland gegangen. Und er ist nicht ich, er ist anderer Ansicht. Was ich will oder nicht will, das beeinflusst ihn nicht im Geringsten. 

* * * 

Am Tag seiner Verhaftung [26. Juli 2023] kehrte Mama [die Dozentin Irina Gluschtschenko] aus Argentinien zurück, Papa sollte sie am Flughafen abholen. Aber er kam nicht. Für uns gab es zwei Möglichkeiten: Entweder liegt er irgendwo und atmet nicht mehr oder die Staatsmacht steckt dahinter. Als wir erfuhren, dass die Behörden der Grund sind, beruhigten wir uns, denn das ließe sich irgendwie wieder in Ordnung bringen. Ich öffnete den [Telegram-Kanal] Avtozak LIVE und sah, dass bei einem Mitarbeiter von Rabkor eine Hausdurchsuchung läuft. Im ganzen Land gab es Hausdurchsuchungen. 

Alle waren in Panik, in Angst und Schrecken, wussten nicht, was tun. Aber sie rauften sich irgendwie zusammen, initiierten einen Stream zu seiner Unterstützung und starteten eine Sammelaktion. Rabkor hat seine Übertragung nicht einen Tag ausgesetzt – ich denke, das ist ein großer Erfolg angesichts dessen, dass sie bei den wichtigsten Mitarbeitern die ganze Technik mitgenommen haben, für die wir über Jahre Spenden gesammelt hatten. Zur gleichen Zeit starteten wir eine internationale Kampagne [um Papa und Rabkor zu unterstützen], die enorm viel einbrachte: Ein offener Brief, unterschrieben von vielen bekannten Leuten wie zum Beispiel [dem slowenischen Philosophen] Slavoj Žižek, [dem britischen Politiker] Jeremy Corbyn, [dem französischen Politiker und Journalisten Jean-Luc] Mélenchon.  

Im Endeffekt wurde Papa [am 12. Dezember 2023] mit einer Geldstrafe [609.000 Rubel; 6500 Euro] entlassen. Wir waren überglücklich, versuchten sofort, ihn davon zu überzeugen, das Land zu verlassen. Er weigerte sich. Er war der Meinung, wenn er ausreisen würde, würde er seine Ideen verraten. 

Die Staatsanwaltschaft fand allerdings mit der Zeit, dass diese Geldstrafe nicht Strafe genug sei für solche „Taten“, wie ein [aus Sicht der Ermittler] verfehlter Titel eines kurzen Films auf YouTube (im Augenblick der ersten Verhaftung war der Clip über zehn Monate auf dem Kanal zu sehen gewesen). Und so wurden aus der Geldstrafe fünf Jahre wegen „Rechtfertigung von Terrorismus“. 

Dieser Titel war das Einzige, was sie gegen Papa vorbringen konnten. Papa war immer imstande gewesen, subtile Formulierungen zu finden, hatte sich immer an alle russischen Gesetze gehalten und nie dagegen verstoßen. Offensichtlich hatten sie [die Ermittler] einfach die Aufgabe, irgendetwas gegen ihn zu finden, und dieser Titel erwies sich als das Einzige, was sie auftreiben konnten. 

Einen Tag vor seiner zweiten Festnahme [am 13. Februar 2024] telefonierten Papa und ich. Ich spürte, dass sie ihn einbuchten würden, sprach mit ihm darüber. Doch er antwortete, das werde nicht passieren. 

* * * 

Das letzte Mal haben wir uns vor zwei Jahren gesehen – wie schrecklich, schon zwei Jahre sind seitdem vergangen! Es war im Herbst, nach der Mobilmachung. Wir sprachen über meinen Umzug [von Russland nach Montenegro], aßen gemeinsam zu Abend. Danach haben wir über Video telefoniert. Wir hatten den Termin wie echte Profis in unseren Kalender eingetragen. Wir haben immer alles genau reglementiert. Doch jetzt geht das leider nicht mehr. Jetzt läuft unsere Briefkorrespondenz über den Föderalen Strafvollzugsdienst

Inzwischen nehme ich kein Blatt mehr vor den Mund, schreibe alles, was ich denke, Zensur hin, Zensur her. Ich mache mir da gar keinen Kopf. Was mich beunruhigt, ist etwas anderes: Was wird, wenn er wieder frei ist? Er ist 65 Jahre alt, und er hat es dort sehr schwer. Das Leben im Straflager ist kein Erholungsaufenthalt im Sanatorium. Ich verfolge die Nachrichten über andere politische Gefangene, und das macht mir Angst. Ich will nicht, dass sie meinen Vater in die Strafzelle stecken. Und außerdem denke ich an den Kater Stepan. Der ist jetzt 11, er liebt Papa, vermisst ihn. Wer weiß, ob er noch so lange leben wird, bis Papa zurück kommt. 

Und außerdem ärgern mich die Anfeindungen gegenüber Papa wegen seiner Anschauungen oder wegen Äußerungen von vor 100 Jahren. Im Internet schreiben sie häufig abschätzig, er sei Kommunist, sie bringen uralte Äußerungen von ihm aufs Tapet. Darum geht es jetzt überhaupt nicht. Wenn ein Mensch auf freiem Fuß ist, kann man mit ihm diskutieren, wenn er im Gefängnis ist, dann nicht, dann muss man ihn einfach nur unterstützen. 

Boris Kagarlizki mit seiner Tochter Xenia. „Früher war ich ihm böse, weil er beschlossen hat, zu bleiben“, sagt sie / Foto © privat

Früher war ich ihm böse, weil er beschlossen hat zu bleiben. Sind denn diese Ideen tatsächlich wichtiger als wir? Aber so ist er nun mal, für ihn ist das eben wichtig. Das ist sein Leben und er weiß, wenn du dich mit Politik befasst, besteht die Gefahr, dass du im Gefängnis landest. Wenn du Feuerwehrmann bist, kannst du bei der Arbeit verbrennen, und wenn du in der Politik bist, können sie dich einbuchten oder umbringen. 

Dass Papa seine Überzeugungen voranstellt, ist für mich nichts Neues. Es war immer so: Erst kommt der politische Kampf, dann die Familie. Die Familie ist sehr wichtig, aber der Kampf ist wichtiger. Die Familie ist sein persönliches Interesse, der politische Kampf aber ist im allgemeinen Interesse. Wie kann da sein persönliches Interesse wichtiger sein als das allgemeine Interesse? Aber wie soll ich damit leben und das akzeptieren? Ich bin daran gewöhnt, bin schon abgehärtet. Ich habe, wie mir scheint, aufgehört, irgendetwas zu fühlen. 

Ich würde mir wünschen, dass Papa Dozent für Geschichte wäre. Aber sich vorzustellen, wie alles hätte anders kommen können, hieße, ihn nicht zu respektieren. Er will der sein, der er ist. Wenn ich ihn liebe, muss ich das akzeptieren. Ich habe wirklich gute Eltern. Wir sind eben nur in eine sehr ungerechte Lage geraten. Nicht nur wir, sondern das ganze Land. 

* * * 

Die Arbeit hilft mir, mit der Angst zurecht zu kommen: Ich habe viele Projekte. Neben meiner Hauptarbeit in einem großen Unternehmen, veranstalte ich das Festival Zone der Freiheit zur Unterstützung politischer Gefangener [in Montenegro, Armenien, Litauen, Israel und anderen Ländern], ich fahre zu Abendveranstaltungen, bei denen die Teilnehmer Briefe an politische Gefangene schreiben, helfe bei Rabkor. Ich schlafe wenig, die meiste Zeit arbeite ich. Wenn ich mit meinen Gedanken ganz allein bin, verlässt mich der Mut. Doch solange man Probleme lösen muss, ist der Kopf abgelenkt. 

Mama hat es schwerer. Nach der zweiten Inhaftierung setzte bei ihr das Gefühl einer Kränkung ein: Warum gerade er? Warum haben sie ihn mitgenommen, wieder freigelassen und dann wieder mitgenommen? Mein Bruder [Georgi Kagarlizki] und ich sind ins Ausland gegangen, und sie ist allein in Russland und ohne Papa. Ich hoffe, sie kommt bald zu uns zu einem langen Wiedersehen. 

Meine Mama ist ein wunderbarer Mensch. Wir sprechen heute mehr miteinander als früher, sie kommt mich regelmäßig besuchen. So ist sie immerhin öfter am Meer. Man muss ja auch versuchen, irgendetwas Positives zu finden. 

* * * 

Papa sagt, er freue sich sehr, wenn er Briefe bekomme [von den Briefschreibabenden für politische Gefangene]. An den Abenden verlese ich seine Briefe, zeige den Menschen, dass er sein Gesicht nicht verloren hat, den Kopf nicht hängen lässt. Und seine Unterstützung durch mich hilft auch anderen Menschen, unter anderem mir.  

Das Berufungsverfahren war die letzte juristische Möglichkeit, um auf den Staat einzuwirken. Zum jetzigen Augenblick haben wir getan, was wir konnten. Ich weiß nicht, was passieren müsste, um etwas zu verändern. Außer globalen Veränderungen. 

Ich hoffe, dass das alles für uns nicht erst in fünf Jahren zu Ende sein wird, sondern so bald wie möglich. Ich wünsche uns allen Freiheit. Ich wünsche nicht nur Papa Freiheit, sondern auch mir selbst. Ich will die Möglichkeit haben, nach Russland zurückzukehren, ich will keine Angst mehr haben. Ich will spüren, dass auch ich und mein Papa in unserem Land leben können und das tun können, was wir wollen.

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Protest und Widerstand gegen den Krieg

In Russland wurden seit Beginn der Invasion zahlreiche Gesetze verschärft, um Proteste zu unterdrücken – mit Gummi-Paragraphen, die willkürlich ausgelegt werden. So droht Lagerhaft all jenen, die offen von Krieg sprechen, angeblich Falschinformationen verbreiten oder die – in den Augen der Sicherheitsorgane – die russischen Streitkräfte diskreditieren

Trotzdem gibt es Andersdenkende, die zeigen, dass sie nicht einverstanden sind. Die Formen, wie sie das tun, haben sich in den Monaten des Krieges verändert. Viele agieren anonym, um sich zu schützen, andere haben sich radikalisiert und wenden Gewalt an.

Coded Language

Die Gesetze, die die „Verbreitung von Falschinformationen“ über die russische Armee unter Gefängnisstrafe stellen, haben zur Folge, dass in zahlreichen öffentlichen Antikriegsbotschaften kodierte Sprache verwendet wird. Die prominenteste und am häufigsten kreativ umschriebene Botschaft ist dabei „Net Woine“ - „Nein zum Krieg“. Statt diese beiden Worte selbst aufs Plakat zu schreiben fanden sich zum Beispiel Botschaften wie „Zwei Worte“ oder „*** ****“ - und alle wissen, was gemeint ist. 

Bekannt wurde eine Aktivistin aus Sibirien, die „Net w***e“ geschrieben hatte, verklagt wurde und dann das Gericht überzeugen konnte, sie habe „Net Woble“ gemeint – Nein zur Wobla. Die Wobla ist laut Wikipedia „eine endemisch im Kaspischen Meer und an der unteren Wolga vorkommende Fischart“. Doch die Geschichte geht nicht so lustig weiter, denn das Verfahren wurde mittlerweile wieder aufgerollt. Ein Urteil ist wahrscheinlich.

Einzelakteure

Die zahlreichen Repressionen gegen führende Köpfe verschiedener oppositioneller Organisationen und Strömungen, die teils zu Gefängnisstrafen und teils zu Auswanderung führten, haben die Organisation von Widerstand enorm erschwert. Auch aus diesem Grund ist die Antikriegsbewegung kein kollektiver Akteur. Das bedeutet aber keineswegs, dass es keinen Widerstand gibt. Auch jenseits gewaltsamer Aktionen, wie den Brandanschlägen auf Einberufungsämter oder Attentaten auf Kriegspropagandisten, gibt es immer wieder Individuen, die sich dem Krieg friedlich entgegenstellen – auf ganz unterschiedliche Art. Wichtig sind nach wie vor die Einzelproteste mit Antikriegsbotschaften, teils in Coded Language. Aber es gibt immer wieder auch andere kreative Wege des Protests, bei denen jedoch immer die Möglichkeit im Raum steht, dass sie mit Repressionen beantwortet werden. In Wologda stand etwa im Dezember 2022 der 61-jährige Wladimir Rumiantsew vor Gericht, weil er mit Hilfe eines selbstgebauten Radiosenders im Umkreis seiner Wohnung kritische Radioprogramme, unter anderem vom sonst nur noch online zu hörenden Sender Echo Moskwy, weiterverbreitet hatte. Der Staatsanwaltschaft war es zwar nicht gelungen, eine Person aufzuspüren, die diese Programme empfangen hatte. Das hinderte sie jedoch nicht daran, ihn anzuklagen. Rumiantsew wurde wegen der Verbreitung von „Falschinformationen“ über die russische Armee zu drei Jahren Strafkolonie verurteilt.

Ersuchen

Als weniger gefährliche Variante, Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen, gilt noch immer die direkte Kontaktaufnahme mit Politiker:innen und Ämtern. So berichtet der Duma-Abgeordnete der Kommunistischen Partei Michail Matwejew regelmäßig bei Telegram von Bürger:innen, die ihn um Hilfe ersuchen – im Herbst 2022 etwa ging es oft um Ausnahmen von der Mobilisierung, die Frauen und Mütter für ihre Männer und Söhne erwirken wollten. Solche individuellen Maßnahmen haben einerseits mitunter größere Chancen auf Erfolg, weil sich Abgeordnete mit der Unterstützung Einzelner profilieren können und sie das System nicht viel kosten. Sie können aber andererseits genau deshalb wenig gegen den Krieg ausrichten und helfen sogar dabei, eine mögliche  kollektive Organisation von Unmut zu zerstreuen – weil Einzelnen auf diese Weise manchmal geholfen wird.
Etwas anders gelagert ist das Projekt des Aktivisten Michail Pletnjew, der zu Beginn der russischen Invasion ein System programmierte, das die Kontaktaufnahme zu Abgeordneten technisch stark erleichtert und vorformulierte Texte zu verschiedenen kriegskritischen (aber gleichwohl „erlaubten“) Themen anbietet – etwa zur Unterstützung von Geflüchteten aus der Ukraine, zur atomaren Deeskalation oder zur Forderung an Putin, eine Anordnung zum offiziellen Ende der Mobilisierung zu unterzeichnen. Die meisten Eingaben auf der Website des Projekts – 14.900 im April 2023 – hat die Forderung nach der Umsetzung des in der Verfassung festgeschriebenen zivilen Ersatzdienstes für alle, die der Mobilisierung unterliegen.

Exil-Protest 

Seit Beginn der Invasion haben hunderttausende junge bis mittelalte, gut ausgebildete Stadtbewohner:innen das Land verlassen. Einige haben dies mit Blick auf die eigenen ökonomischen Entwicklungsperspektiven getan – andere aus regimekritischen Gründen,  aus Furcht vor Einberufung, manchmal ist es auch beides zusammen. Teile dieser neuen Emigrationsbewegung organisieren – zusammen mit anderen, bereits im Ausland ansässigen Russinnen und Russen – seitdem immer wieder Anti-Kriegs-Proteste außerhalb Russlands. Häufig beteiligen sich daran auch prominente Exil-Oppositionelle wie Garri Kasparow oder Michail Chodorkowski. 

Die Proteste finden oft vor den diplomatischen Vertretungen Russlands im Ausland statt, oder an anderen zentralen Orten der westlichen Hauptstädte. Damit sollen Forderungen direkt an die russische Führung adressiert werden, die zumeist ungehört verhallen, bestenfalls in Stellungnahmen, Tweets oder Telegram-Posts ironisch kommentiert werden. 

Proteste an symbolträchtigen Orten sollen auch den im Westen teils bestehenden Eindruck einer lethargischen bis kriegsstützenden russischen Gesellschaft zerstreuen, der angesichts der Kriegsverbrechen russischer Soldaten und der zahlenmäßig schwachen Proteste innerhalb Russlands bei vielen entstanden ist. Das hat zwei Effekte: Die Proteste tragen im Westen tatsächlich zur Aufklärung bei. Sie unterstreichen, dass die vielen Kriegsgegner:innen in Russland vor allem aufgrund der exorbitanten Repression so wenig sichtbar sind. Zugleich bedienen diese Exilproteste ein Bild „guter Russen“ und tragen so ihrerseits dazu bei, der (im Land verbliebenen) russischen Bevölkerung eine Kollektivschuld zuzuschreiben.

Trotzdem liegt in den Protesten eine Chance, nämlich das Bild eines positiven, zukunftsgewandten, neuen Russlands ohne geopolitische Minderwertigkeitskomplexe und imperiale Ansprüche zu begründen. Als visuelles Symbol eines solchen „generalüberholten“ Russlands dient die weiß-blau-weiße Flagge. Ihr fehlt das Rot der russischen Flagge, das laut Aktivisten als „Farbe des Blutes“ die russische Trikolore als positives Identifikationssymbol spätestens seit der Invasion diskreditiert habe1.

„Feministischer Antikriegswiderstand“ (FAS) 

Die Gruppe gründete sich im Februar 2022 unmittelbar nach der Invasion. Auf Telegram wuchs sie schnell zu einer der größten Communities des Antikriegs-Protests heran. Die Aktivisten sprayen Graffiti, halten Einzelproteste ab, verteilen Flyer und organisieren andere Formen des Protests. Eine wichtige Protagonistin der Gruppe ist die Aktivistin, Lyrikerin und Kuratorin Daria Serenko. Bekannt unter anderem für das Projekt FemDatscha, ein 2020 gegründetes queer-feministisches Projekt außerhalb Moskaus, rief sie drei Tage nach der Invasion die Russinnen und Russen zum Widerstand auf:

„[...] Hört auf, erbärmliche Feiglinge, Konformisten, geduldige Leidtragende, loyale Bürger zu sein, hört auf, unpolitisch zu sein. 

Die Welt hat sich verändert. Unsere Apathie könnte die Ursache für die Zerstörung einer großen Zahl von Menschen sein, einschließlich unserer Kinder und Angehörigen.

Hört auf, in Cafés zu sitzen. Hört auf, Urlaube zu planen. Hört auf, der Propaganda zuzuhören. Sterbt nicht als Idioten. Hört auf, Angst vor Gefängnis und Festnahmen zu haben, ich schwöre bei Gott, das sind nicht die schlechtesten Optionen.

Schließt euch Antikriegsaktivist:innen und -bewegungen an. Protestiert gegen diesen Krieg. [...]“

Während sich eine internationale Gruppe von Feministinnen gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen hatte und sich in ihrem Manifest auf den FAS bezogen hatte, stellt die Gruppe in ihren Statements häufig klar, dass Gewalt dann als legitimes Mittel anzusehen sei, wenn es um die „Befreiung von der Unterdrückung“ gehe2. So solidarisierte sich der FAS auch mit den ukrainischen Feminist:innen, die in ihrem Manifest wiederrum erklärten:

„Ein abstrakter Pazifismus, der alle am Krieg beteiligten Seiten verurteilt, führt in der Praxis zu unverantwortlichen Lösungen. Wir bestehen auf dem wesentlichen Unterschied zwischen Gewalt als Mittel der Unterdrückung und als legitimes Mittel der Selbstverteidigung.“ 

Attentate auf Kriegspropagandisten

Am 20. August 2022 kam Daria Dugina, konservative Aktivistin und Tochter des faschistischen Philosophen Alexander Dugin, bei einem Anschlag auf Dugins Auto bei Moskau ums Leben. Kurz darauf reklamierte der russische Exiloppositionelle Ilja Ponomarjow den Anschlag für die von ihm angeblich unterstützte Partisanengruppe „Nationale Republikanische Armee“. Die Existenz dieser Gruppe ist jedoch zweifelhaft; unabhängige Bestätigungen ihrer Aktivitäten und ihrer Zusammensetzung fehlen. 

Am 2. April starb der ukrainische Staatsbürger Maxim Fomin bei einem Attentat in Sankt Petersburg. Fomin war ein glühender Unterstützer des Krieges und hatte unter dem Pseudonym Wladlen Tatarski als „Militärblogger“ bei Telegram vom Krieg berichtet. Fomin war am Rande der Zeremonie im Kreml zur Annexion der vier ukrainischen Oblasten im September 2022 durch die Äußerung aufgefallen, nun werde man „alle besiegen, alle töten [...]. Alles wird kommen, wie wir es lieben.“ Er starb durch eine Bombe, die mutmaßlich in einer Büste versteckt war und die eine junge Frau ihm anlässlich eines Auftritts in einem Sankt Petersburger Café überreicht hatte. Die Frau, Daria Trepowa, wurde zwei Tage später verhaftet. Sie soll laut Behörden Alexej Nawalnys FBK nahegestanden haben.

Die Umstände beider Anschläge sind ungeklärt, Spekulationen reichen von Aktionen des ukrainischen Geheimdienstes über False-Flag-Aktionen der russischen Geheimdienste bis zur Existenz von oppositionellen Untergrundnetzwerken in Russland. Wenngleich nichts davon gesichert ist, ist es doch nicht unmöglich, dass sich der russische Widerstand in geheimer und dezentraler Form auch in gewaltsamen Aktionen gegen die Propagandisten des Krieges äußert.

Brandanschläge 

Es gibt immer wieder Brandanschläge auf die Strukturen der Armee, insbesondere auf die Einberufungsämter. Der erste dieser Art fand schon drei Tage nach dem russischen Einmarsch statt. Der Attentäter veröffentlichte dazu ein Manifest, unter anderem mit den Worten „Die Ukrainer werden wissen, dass Russen für sie kämpfen; nicht alle haben Angst, nicht jedem ist [der Krieg] gleichgültig.“ Insgesamt schätzt das Online-Medium Mediazona die Zahl der Anschläge bis Ende 2022 auf etwa 77.

Die Anschläge stehen für einen kleinen Teil der Kriegsgegner, die sich – infolge der Radikalisierung des Regimes – ebenfalls radikalisieren. Anstatt bei Straßenprotesten „nur“ ihre Meinung zu äußern und damit letztlich an die Herrschenden zu appellieren, versuchen sie, die Kriegsmaschinerie so zu beschädigen, dass die materiellen Kosten für diesen Krieg steigen. Sabotage kann sehr effektiv sein, ist aber naturgemäß eine gefährliche Angelegenheit und wird daher nur für eine verschwindend geringe Minderheit in Frage kommen.

Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine

In einigen Telegram-Chats haben sich lokale Freiwillige zusammengefunden, um Hilfe für ukrainische Geflüchtete zu organisieren, die weiter nach Europa reisen wollen. Nicht alle Russinnen und Russen, die sich für Geflüchtete aus der Ukraine engagieren, sind gegen den Krieg. Doch Interviews zeigen, dass die Flüchtlingshilfe für viele, die aufgrund der immensen Repressionen vor radikalerem Widerstand zurückschrecken, eine willkommene Möglichkeit ist, sich einzubringen und auch das eigene Gewissen zu entlasten. 

Künstler

Auch Künstlerinnen und Künstler sahen sich mit Beginn der Invasion vor die Frage gestellt, ob sie dagegen Position beziehen und damit den Ausschluss aus der Kulturszene oder andere Konsequenzen riskieren, oder ob sie stattdessen versuchen, den Krieg zu ignorieren – oder ihn sogar positiv in ihr Werk einzubeziehen. Beispiele gibt es für jede dieser Varianten.

Gleich nach der Invasion äußerten sich zum Beispiel die Sängerin Zemfira, der Sänger Waleri Meladse, der Comedian Maxim Galkin oder der Talkshow-Host Iwan Urgant unmissverständlich gegen den Krieg. Sie alle (und viele weitere) beendeten damit faktisch ihre Karriere in Russland. Urgants beliebte Prime-Time-Show im staatlichen Ersten Kanal wurde abgesetzt, Zemfira und Galkin emigrierten und treten nur noch im Ausland auf. 

Der Sänger und Satiriker Semjon Slepakow versuchte es zunächst mit vorsichtigeren Tönen. Er erklärte, dass Frieden nötig sei, sparte aber zunächst mit direkter Kritik. Im Herbst 2022 veröffentlichte er schließlich einen kritischen Song und emigrierte nach Israel. Auch die große Alla Pugatschowa gab sich lange zurückhaltend, bis sie mit einer klaren Antikriegsposition längst nicht nur Beifall sondern viel Kritik und Schmähung erntete.

Auch abseits der großen Bühnen setzten sich viele Künstler:innen gegen den Krieg ein. Beispielhaft steht dafür die Sankt Petersburger Musikerin Sascha Skotschilenko, der als eine der ersten ein Verfahren über das Verbreiten von „Falschinformationen“ über die russische Armee angehängt wurde, weil sie Preisschilder im Supermarkt gegen kleine Zettel mit Informationen zu zivilen Kriegsopfern ausgetauscht hatte.

Die anderen Haltungen zum Krieg sind jedoch nicht weniger zahlreich zu finden: Viele lassen sich in die Propaganda einspannen und leihen den Kriegszielen ihren Namen. Im Herbst veröffentlichte ein Kollektiv, bestehend aus bekannten Sänger:innen wie zum Beispiel Stas Michailow, einen gemeinsamen Clip zum Titel Wstanem („Wir stehen auf“) des Sängers Shaman (Jaroslaw Dronow). Der Song handelt von den Helden des Zweiten Weltkriegs, im Clip sind aber zu Worten wie „solange Gott und die Wahrheit mit uns sind“ immer wieder aktuelle Szenen des Krieges gegen die Ukraine zu sehen.

Oppositionspolitiker und -parteien

Gleich nach dem Einmarsch haben sich einige wenige Politiker der systemischen Opposition, vor allem der Kommunistischen Partei, zu Wort gemeldet. Darunter war der Duma-Abgeordnete Michail Matwejew, der sagte, er habe bei der Abstimmung über die Anerkennung der ukrainischen Donbas-Republiken als unabhängige Staaten mit seinem Ja „für Frieden“ gestimmt, und „nicht dafür, Kiew zu bombardieren“3. Es gab auch einige regionale Abgeordnete, die sich gegen den Krieg aussprachen. Einen solchen Fall gab es zum Beispiel in Wladiwostok mit zwei Abgeordneten, die beide sofort aus ihrer Fraktion ausgeschlossen wurden. Solche Stimmen sind jedoch Einzelfälle.

Anders ist das bei der liberalen Partei Jabloko. Sie hat sich als einzige der offiziell zugelassenen Parteien offen gegen den Krieg positioniert und hält diese Position seit Kriegsbeginn durch. Für die öffentliche Meinung spielt sie indes so gut wie keine Rolle: Die Partei ist seit Jahren komplett marginalisiert. Sie ist außerdem unter der nicht-systemischen Opposition, also den kompromissloseren Regimegegnern, weitgehend diskreditiert – weil sie als zahnlos gilt, ohne nennenswerten Einfluss gegen das System Putin

Einer der letzten prominenten Politiker dieser demokratischen nicht-systemischen Opposition, Ilja Jaschin, hat sich ebenfalls deutlich gegen den Krieg ausgesprochen. In einem YouТube-Livestream sprach er über die getöteten Zivilisten in Butscha, woraufhin die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen der „Verbreitung von Falschinformationen“ über die russische Armee eröffnete. Er hat das Land nicht verlassen und wurde im Dezember 2022 zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt. 

Ähnlich erging es dem liberalen Lokalpolitiker Alexej Gorinow. Er hatte im März bei der Sitzung eines Moskauer Stadtteilparlaments dazu aufgerufen, die russische Armee abzuziehen und hatte die „Spezialoperation“ einen Krieg genannt. Gorinow wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt.

Spontane Kundgebungen und Demonstrationen wurden nach Russlands Einmarsch in die gesamt Ukraine immer gefährlicher / Foto © Gavriil Grigorov/ITAR-TASS/imago-images

OWD Info

Der Name der Organisation OWD leitet sich von der Bezeichnung „organy wnutrennych del“ – „Organe des Inneren“ – ab, die die Einheiten der Polizei und weiterer Behörden zur Wahrung der inneren Sicherheit umfasst. Die Organisation besteht seit 2011 und widmet sich der juristischen Unterstützung für Menschen, die von Repression betroffen sind, außerdem der Aufklärung über politische Repression. Dazu stellt sie hilfreiche Informationen für politische Aktivist:innen zusammen, bietet juristische Beratung an und vermittelt anwaltliche Unterstützung. Sie hat zudem ein Netz von Korrespondent:innen in den russischen Regionen, die von Repressionsfällen berichten. OWD-Info sammelt systematisch Daten zu politisch motivierten Gerichtsverfahren und Verurteilungen: Sie zählt zum Stand August 2023 19.786 Festnahmen im Zusammenhang mit Antikriegsprotesten, 7683 eingeleitete Verfahren zur „Diskreditierung der Streitkräfte“ (darunter auch Ordnungswidrigkeiten) sowie 663 Strafverfahren gegen Personen für ihre Antikriegsposition.4

Petition

Zu Beginn der Invasion setzten verschiedene Gruppen offene Briefe und Petitionen gegen den Krieg auf. Neben allgemeinen Antikriegs-Petitionen, wie es sie vom Feministischen Widerstand (rund 110.000 Unterschriften, Stand September 2023) und von dem Menschenrechtler Lew Ponomarjow (rund 1,3 Millionen Unterschriften, Stand September 2023) gab, waren dies häufig Offene Briefe von bestimmten Berufsgruppen oder anderer klar umrissener Kollektive. Darunter war zum Beispiel ein Brief, der von über 8000 ganz überwiegend in Russland ansässigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterzeichnet wurde, ein offener Brief von Kino- und Filmschaffenden sowie ein Brief russischer Ärztinnen und Ärzte. Internationale Aufmerksamkeit erregte auch die Stellungnahme regionaler Abgeordneter aus Sankt Petersburg, die im September 2022 aufgrund des Krieges eine Petition der Staatsduma gegen Wladimir Putin wegen Hochverrats forderten.5 Die beteiligten Abgeordneten leben teils inzwischen im Exil, teils wurden strafrechtliche Verfahren eröffnet wegen „Diskreditierung der Streitkräfte“.

Ähnlich wie die Proteste von Russinnen und Russen im Ausland dienen diese Stellungnahmen weniger der direkten Beeinflussung der Politik in Russland, sondern mehr der Signalisierung, dass es noch zahlreiche kritische Geister gibt, die in einer möglichen Post-Putin-Ära als Repräsentanten eines möglichen neuen Russlands (das zur Zeit freilich nicht mehr ist als ein Wunschtraum) zur Verfügung stehen.

Proteste 

Im Rückblick ist die große Repressionskampagne des russischen Staates gegen Alexej Nawalnys Organisationen und gegen unabhängige Medien im Jahr 2021 fast zweifelsfrei als Kriegsvorbereitung zu interpretieren. Der organisierte Widerstand, dessen ressourcen- und reichweitenstärkster Repräsentant die Gruppe um Nawalny war, sollte präventiv zerschlagen werden. Trotzdem sind gleich zu Beginn der russischen Invasion zahlreiche Menschen in spontanen Aktionen auf die Straßen gegangen. Einzelne Politiker:innen riefen zum Protest auf, wie auch die Aktivistengruppe Wesna, die im April 2022 die vorletzte Protestwelle organisierte – zu der aber kaum noch jemand kam. Die letzten größeren Demonstrationen mit einigen hundert bis tausend Menschen gab es dann im September 2022 nach Ausrufung der „Teilmobilmachung“ in verschiedenen Landesteilen. So bleibt der Protest anonym, unorganisiert, und schwach. Das bedeutet nicht, dass er wirkungslos wäre; aber unmittelbare Auswirkungen auf die großen Entscheidungen in Bezug auf den Krieg sind von möglichen Protesten nicht zu erwarten.6

Pikety

Pikety sind kleine Protestkundgebungen ohne Bühne und Lautsprecher, die sich – im Gegensatz zum Demonstrationszug – nicht von der Stelle bewegen. Der „odinotschny piket“, der Einzelprotest, hat in den letzten Jahren eine immer wichtigere Rolle im russischen Repertoire des Protests eingenommen, denn er ist immer noch die öffentliche Protestform, die nicht grundsätzlich der Absprache (das heißt einer de-facto Genehmigung) der Behörden bedarf. Als die spontanen Kundgebungen und Demonstrationen nach Russlands Einmarsch immer gefährlicher wurden, waren Einzelproteste zunächst für viele das Mittel der Wahl. Es gibt sie immer noch zuweilen, an U-Bahn-Stationen und anderen belebten Orten, auch wenn man mittlerweile grundsätzlich mit Verhaftung und Gefängnis rechnen muss. Denn jede Antikriegsäußerung in der Öffentlichkeit kann grundsätzlich als Begründung für ein Strafverfahren wegen „wissentlicher Verbreitung von Falschinformationen“ herangezogen werden.

Wesna

Wesna ist eine politische Jugendgruppierung, die aus der liberalen Partei Jabloko in Sankt Petersburg hervorgegangen ist. Im Jahr 2012 gab es einen innerparteilichen Streit zwischen zwei aufstrebenden Abgeordneten, die sich weigerten, ihre erfolgreich errungenen Mandate an die Altvorderen abzutreten. Das führte zum Ausschluss, dem weitere Parteianhänger folgten. Daraus formierte sich unter anderem auch Wesna. Die Gruppe hat seither zahlreiche Protestaktionen organisiert, die in Petersburg für Aufsehen gesorgt haben. 
Wesna hat auch zum Antikriegsprotest nach dem 24. Februar 2022 beigetragen, gilt als eine der wenigen Kräfte, die überhaupt noch Menschen mobilisieren können. Zu Beginn des Krieges hat Wesna mehrmals zu Straßenprotesten aufgerufen, zuletzt im April 2022. Danach verlegten sie sich auf die Ermunterung zu weniger gefährlichen Einzelaktionen, wie das Verteilen von Flyern und Graffiti. Sie posten auch regelmäßig Bilder von visuellen Antikriegsbotschaften aus ganz Russland und organisieren juristische Unterstützung für verfolgte Antikriegsaktivist:innen. Ihre Aktivitäten bei Social Media sind wichtig, um im Inland zu demonstrieren, dass Menschen mit ihrer Haltung nicht allein sind – und ins Ausland das Signal zu senden, dass nicht nur viele Russen gegen den Krieg sind, sondern sich auch trauen, dies mehr oder weniger offen zu zeigen.


1.theguardian.com: Russian flags come down in New York’s Little Odessa: ‘Putin has turned it into a fascist symbol’ und Russland-Analysen Nr. 420: Emigration, Exil, Flucht 
2.t.me/femagainstwar: Absoljutnyj pacifizm — privilegija tech, kto v bezopasnosti 
3.holod.media: «Odni kričat: „Ubijca!“, drugie – „Predatel'“» 
4.ovd.info: Svodka antivoennych repressij. Avgust 2023 
5.dw.com: Bezirksrat fordert Anklage Putins 
6.bpb.de: Analyse: Krieg, Protest und Regimestabilität 

 

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