Im August soll der Prozess gegen die drei Schwestern Chatschaturjan beginnen. Krestina, Angelina und Maria Chatschaturjan wird vorgeworfen, ihren Vater Michail vorsätzlich ermordet zu haben. Mit einem Messer hatten sie auf den Schlafenden eingestochen, 36 Messerstiche werden später gezählt. Den Schwestern drohen nun bis zu 20 Jahren Haft.
Der Fall Chatschaturjan hat in Russland für heftige Debatten über häusliche Gewalt gesorgt. Der Journalist Pawel Kanygin hatte für die Novaya Gazeta ausführlich darüber berichtet. Was seine Recherchen zutage brachten, liest sich schrecklich: Der Vater, der auch gewalttätig gegen die Mutter der jungen Frauen gewesen war, hatte diese sowie den gemeinsamen Sohn aus dem Haus gejagt. Seit 2015 wohnte er mit seinen drei Töchtern alleine. Diese schildern jahrelangen psychischen und physischen Missbrauch und Folter. Die jüngste der drei Schwestern soll versucht haben, sich umzubringen. Nachdem er ihnen wegen Unordnung in der Wohnung Pfefferspray ins Gesicht gesprüht hatte, ermordeten sie ihn.
Es gibt Stimmen, die den Vater verteidigen, der lediglich versucht habe, seine Töchter streng zu erziehen. Auch unter dem Verweis auf „traditionelle Werte“ war in Russland 2017 das Strafmaß bei häuslicher Gewalt gemindert worden.
Opferschutzverbände, aber auch viele Prominente dagegen verteidigen die drei Schwestern, argumentieren, dass sie nach jahrelangem Missbrauch aus Notwehr handelten.
Olga Romanowa, renommierte Journalistin und Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Rus Sidjaschtschaja, stellt sich ebenfalls hinter die drei Mädchen: Warum holten sie keine Hilfe von außen, warum wandten sie sich nicht an die Polizei? Auf Forbes Women wirft Olga Romanowa genau diese Fragen auf – und legt dar, weshalb.
Die Schwestern Krestina, Angelina und Maria Chatschaturjan sind des Mordes an ihrem Vater Michail Chatschaturjan (57) angeklagt. Bei der Vernehmung gestanden sie die Tat und berichteten vom systematischen Missbrauch durch den Vater. Der Strafrechts-Paragraph wegen vorsätzlichen Mordes nach Absprache, der in ihrem Fall zur Anwendung kommen soll, sieht bis zu 20 Jahre Freiheitsentzug vor.
Vorrede
Szenario 1: Es ist spät abends. Sie sind unterwegs nach Hause und werden im Treppenhaus überfallen. Sie schubsen den Angreifer weg, er knallt mit der Schläfe gegen eine Fensterbank und stirbt.
Szenario 2: Ihr beinahe Ex-Mann zieht aus und packt seine Sachen, er ist nervös, hat getrunken, er brüllt, Sie hätten sein Leben ruiniert, und er versucht Ihnen eine Ohrfeige zu verpassen – es ist nicht das erste Mal, doch nun ist er beim Waffenschrank angelangt, wo er sein Jagdgewehr aufbewahrt, richtet es plötzlich auf Sie und legt schon eine Patrone ein. Da schwingen Sie seinen Golfschläger. Er fällt um, Sie rufen die Polizei.
Und dann?
Dann kommen Sie ins Gefängnis. Ohne jeden Zweifel. Selbst wenn Sie die besten Anwälte haben, die es schaffen, einen Hausarrest zu erwirken oder eine schriftliche Erklärung, den Aufenthaltsort nicht zu verlassen. Doch früher oder später kommt es zum Prozess, und Sie bekommen eine Haftstrafe. Und zwar nicht auf Bewährung.
Sie bekommen eine Haftstrafe – und zwar nicht auf Bewährung
Ihre Anwälte und Sie werden argumentieren, es sei Notwehr gewesen und Sie hätten keine Wahl gehabt. Während die Staatsanwaltschaft argumentieren wird, Sie hätten die Grenze der Notwehr überschritten.
Hatten Sie im ersten Fallbeispiel andere Handlungsmöglichkeiten? Aber sicher doch. Sie hätten im Treppenhaus versuchen können mit dem Angreifer zu reden, sie hätten ihm Pestalozzi zitieren können, oder zur Not auch etwas aus dem Matthäusevangelium. Er wäre sicher einsichtig gewesen. Aber Sie haben es nicht einmal versucht.
Warum mussten Sie den Angreifer denn so schubsen, dass er mit der Schläfe auf der Fensterbank aufschlägt? Man hat Ihnen beim Selbstverteidigungskurs und im Sportunterricht in der Schule doch genau einmal gezeigt, wie man einen Angreifer mit einem Schulterwurf außer Gefecht setzt und fixiert. Warum haben Sie diese simple Technik der Selbstverteidigung nicht angewandt?
Und was hatten Sie eigentlich an? Keine dicken Strumpfhosen? Na, da sehen Sie mal! Sie waren an einem Samstagabend allein nach Hause unterwegs, in einem Rock! Sie haben ihn provoziert!
Sie hatten keine dicken Strumpfhosen an?
Und im zweiten Fall mit Ihrem Ehemann ist Ihre Absicht von Anfang an klar: Er hatte Gütertrennung eingefordert und Sie waren nicht einverstanden? Haben Sie ihn aus Notwehr geschlagen, oder war es vorsätzlicher Mord aus Habgier? Sie wollten Ihr Vermögen nicht aufteilen, deswegen haben Sie ihn provoziert, als er ganz friedlich dabei war, sein Gewehr einzupacken, und haben ihn geschlagen.
Es wird einen Schuldspruch geben. Darin wird unweigerlich folgende Wendung vorkommen, die wichtigste für Sie: „Die Angeklagte hätte auf eine sozialverträgliche Weise handeln müssen.“
Also versuchen, den Angreifer in ein klärendes Gespräch zu verwickeln. Den Bezirkspolizisten informieren. Sich an die Hausverwaltung wenden. Einen Brief an den Abgeordneten schreiben. Oder Maßnahmen der Selbstverteidigung anwenden, die keine schweren gesundheitlichen Folgen für den Angreifer nach sich ziehen.
Das alles haben Sie nicht getan – also ist es Totschlag oder vorsätzlicher Mord (möglich im zweiten und dritten Fall), und Sie bekommen zehn Jahre.
Totschlag oder vorsätzlicher Mord – und man bekommt zehn Jahre
Wie viele solcher Fälle gibt es? In den letzten zwei Jahren wurden etwa 3000 Frauen wegen Mordes unter genau solchen Umständen verurteilt. Wobei es sich in den meisten Fällen um Mord am Ehemann, Lebenspartner oder einem männlichen Verwandten handelt, und zwar beim Versuch der Frauen, sich vor Missbrauch zu schützen.
Gleichzeitig sterben jedes Jahr circa 8500 Frauen bei gewaltsamen Übergriffen. Das sind diejenigen, die keinen Golfschläger, kein Messer zur Hand oder nicht genug Kraft hatten, den Angreifer gegen eine Fensterbank zu schubsen. Demnach hat eine Frau immer die Wahl: Sterben oder für zehn Jahre ins Gefängnis gehen.
Aber schauen wir uns doch mal an, welche „sozialverträglichen Methoden“ es gibt, sich vor Missbrauch zu schützen, ohne radikale Maßnahmen zu ergreifen. Das wird nicht lange dauern. Gar keine gibt es. Gesetzlich ist eine Frau, die angegriffen wird, durch nichts geschützt. Unabhängig davon, ob sie sich wehrt oder nicht. Wenn du dich wehrst, wanderst du ins Gefängnis, wenn nicht, schlägt man dich zum Krüppel oder du wirst umgebracht.
Wenn du dich wehrst, wanderst du ins Gefängnis. Wenn nicht, schlägt man dich zum Krüppel oder du wirst du umgebracht
Sehen wir uns noch einmal die Statistik an. Ich will vorausschicken: Wir gehen Schritt für Schritt vor.
Wo und wie werden Frauen ermordet? Angriffe durch einen Fremden und Notwehr, die den Tod des Angreifers nach sich zieht, sind selten. Meistens (unabhängig ob Mörder oder Mörderin, hier spielt das Geschlecht einmal keine Rolle) kannten sich Täter und Opfer.
Handelt es sich allerdings um eine Mörderin, ist das Opfer der Ehemann, Partner oder ein männlicher Verwandter, und der Grund für den Mord ist immer derselbe: häusliche Gewalt.
2012 verzeichnete das Innenministerium 34.000 Opfer von häuslicher Gewalt. Fünf Jahre später hat sich die Zahl fast verdoppelt: 65.500 Opfer allein im Jahr 2016. Aber 2017 hat sich die Opferzahl signifikant verringert auf 36.000. 2018 waren es noch weniger. Warum? Weil ein Gesetz zur Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt verabschiedet wurde. Konnte man bis 2017 für die Misshandlung seiner Frau noch ins Gefängnis kommen, so gibt es heute nur noch eine Geldstrafe, die kaum höher ist als fürs Parken im Parkverbot. Nicht auszuschließen, dass sich das Verhältnis der beiden dadurch nur noch verschlechtert, und ob die Frau ihren Mann beim nächsten Mal anzeigen wird, ist mehr als fraglich.
Warum steht häusliche Gewalt auf einer Stufe mit Falschparken?
Es gibt also abertausende Fälle von häuslicher Gewalt, die nicht zur Anzeige gebracht und damit nicht erfasst werden. Welchen Sinn hat es, Anzeige zu erstatten, wenn du selbst dafür bestraft wirst? Der Staat wird dich nicht schützen. Die NGOs und Vereine, die Hilfe bieten könnten und es auch tun, stehen selbst unter Beschuss und gelten größtenteils als ausländische Agenten. Zudem haben NGOs nicht das Recht, dem Täter ein Kontaktverbot aufzuerlegen oder einer Mutter das alleinige Sorgerecht zu erteilen, während kompetente Behörden entscheiden, was mit dem Gewalttäter zu tun ist. Solche Behörden gibt es bei uns nämlich nicht.
Zudem wird jegliche Nötigung, Erniedrigung oder Folter, die nicht mit physischer Gewalt einhergeht, gar nicht erst strafrechtlich verfolgt. Im Gesetz tauchen sie nicht einmal auf.
Warum steht häusliche Gewalt auf einer Stufe mit Falschparken? Dafür gibt es mindestens drei Gründe.
Der Schutz vor häuslicher Gewalt würde den Staat einiges kosten
Der erste ist finanzieller Natur. Der Schutz vor häuslicher Gewalt würde den Staat einiges kosten. Dafür bräuchte man einstweilige Verfügungen, die dem Täter verbieten, das Opfer zu kontaktieren, müsste eine Behörde einrichten, die diese verhängt und deren Einhaltung kontrolliert (so ein System funktioniert in 119 Ländern, aber nicht bei uns). Man müsste staatliche Einrichtungen schaffen, die die Opfer aufnehmen können, die sich oft plötzlich mit ihren Kindern ohne Dach überm Kopf wiederfinden. Solche Einrichtung gibt es in Russland, allerdings nur durch private Initiativen, unterhalten werden sie durch Stiftungen und Spenden.
Rechenschaftspflicht gegenüber der Weltöffentlichkeit
Der zweite ist ein außenpolitischer Grund. Russland hat die Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung häuslicher Gewalt nicht ratifiziert. Die Nichtunterzeichnung der Konvention war offensichtlich eine Reaktion auf die verschärfte Situation zwischen Russland und Europa nach den Sanktionen.
Ein weiterer außenpolitischer Grund für die Entkriminalisierung häuslicher Gewalt war die Rechenschaftspflicht gegenüber der Weltöffentlichkeit über die Aufhebung jeglicher Formen der Diskriminierung von Frauen – eine entsprechende Konvention der Vereinten Nationen wurde noch 1982 durch die UdSSR unterzeichnet. Die Entkriminalisierung hat signifikant dazu beigetragen, diese Statistik zu „korrigieren“.
Sehen Sie? Da sehen Sie’s doch! In Russland hat sich die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt in nur einem Jahr – von 2017 bis 2018 – halbiert. Das liegt daran, dass wir die Diskriminierung von Frauen so effektiv bekämpfen, und keineswegs daran, dass wir komplett aufgehört haben, die Straftäter zu verfolgen. Sie wollten doch eine Statistik? Bitte schön, da ist sie.
Wenn er dich schlägt, dann liebt er dich
Der dritte ist ein innenpolitischer und religiöser Grund: die Russisch-Orthodoxe Kirche. „Diejenigen Menschen, die versuchen den Kern unserer Gesellschaft zu zerstören – nämlich die Familie –, handeln unter dem Vorwand des Kampfes gegen Gewalt und zum Schutzes der Schwachen“ heißt es in der Erklärung der Patriarchen-Kommission zum Schutz von Mutter und Kind, deren Vorsitz Erzpriester Dimitri Smirnow innehat. Kurzum, die konservative Position in Russland lautet jetzt tatsächlich: „Wenn er dich schlägt, dann liebt er dich.“
Das alles hängt mit dem Fall der Schwestern Chatschaturjan zusammen. Damit, warum es so wichtig ist, dass wir einen fairen und öffentlichen Prozess und natürlich einen Freispruch erkämpfen. Weil es jede von uns betrifft. Weil es keine Stelle gibt, an die wir uns wenden können. Weil uns niemand schützt. Weil wir nur zwei Möglichkeiten haben: Gefängnis oder Tod.