Reisen versus Tourismus – da hat sich viel geändert über die letzten Jahrzehnte in Russland. Betrachtungen für Reise-Nostalgiker und handfeste Tipps für die, die es werden wollen. Von Ilja Bujanowski auf Perito Burrito.
Hinkommen – einst und heute
Bis vor zehn Jahren war das Hauptfortbewegungsmittel in Russland der Fernzug. Die Züge bestanden aus grünen Waggons, und in den langen Gängen wirbelte und schillerte dichter Staub zwischen Schlafpritschen und hervorstakenden Füßen.
Wenn ich irgendwohin wollte, ging ich zur Bahnhofskasse und stellte mich geduldig in eine lange, nervende Schlange. 2010 war ich bereits in der Lage, die Internetseiten der Russischen Eisenbahn nach Fahrplänen und Tickets zu durchsuchen und behelligte die Ticketverkäufer daher nicht mehr mit Fragen wie: „Fährt morgens was von Urjupinsk nach Bobruisk, gibt es noch Platzkart-Tickets, und wie teuer sind die?“ Andere Leute in der Schlange waren durchaus lästig und ganz schlimm wurde es, wenn jemand am nächsten Morgen mit der ganzen Familie per Platzkart auf den unteren Liegen nach Sotschi wollte. Na, ihr seid ja lustig, dachte ich, der ich aus Erfahrung wusste, dass man gute Tickets am besten Wochen, wenn nicht einen Monat im Voraus kauft. Der elektronische Ticketkauf blieb derweil den Fortschrittlichsten vorbehalten – selbst eine Bankkarte hatte damals nicht jeder.
Platzkart war damals alles, was ich mir leisten konnte, ein Platz im Coupé kostete mitunter das Dreifache. Zugfahren war billig, und lange Zeit war meine liebste Form des Reisens der Eintagestrip: mit dem Nachtzug hin, am nächsten Abend mit dem Nachtzug zurück. Wenn der Platzkart-Wagen mal für einen ganzen Tag oder länger zu meinem Zuhause wurde, war das unvorstellbar ohne lange Gespräche, die manchmal selbst zum einprägsamsten Erlebnis der ganzen Reise wurden, wenn auch nicht immer dem positivsten.
Manche hatten damals schon den Dreh mit dem Fliegen raus, aber insgesamt hielt sich noch hartnäckig die Vorstellung aus den 1990ern, die russischen Weiten durch die Luft zu bereisen sei nur den Reichen vorbehalten.
Doch einmal angekommen, eröffnete sich ein weiter Raum: Aus den großen Städten fuhren Elektritschkas in die Regionen, und selbst in den kleineren Kreisstädten gab es noch große Busbahnhöfe, zwar trostlos und leicht unheimlich vom Klientel her, dafür angenehm warm im Winter. Von den vollgerotzten Bussteigen fuhren alte und unbequeme, aber immerhin geräumige Busse. Und wohin kein Bus fuhr, brachte einen das Taxi – aus heutiger Sicht für ein paar Groschen. Vorausgesetzt natürlich, man hatte gut verhandelt.
Ab 2009 machten sich die Reformen bei der Russischen Eisenbahn bemerkbar, die Züge waren nicht mehr grün, sondern grau-rot. Innerhalb von wenigen Jahren schossen die Ticketpreise um ein Vielfaches in die Höhe, sodass sich der Eintagestrip als Konzept schlicht nicht mehr lohnte – eine Nacht im Zug kostete plötzlich mehr als eine Nacht im Hotel. Andererseits wurden die Tarife flexibler, und jetzt fahre ich fast zum selben Preis öfter Coupé als Platzkart.
Bemerkbar machte sich auch die Smartphonisierung des Landes samt den USB-Steckdosen in den Zügen: Man konnte einen ganzen Tag unterwegs sein, ohne ein Wort mit seinem Sitznachbarn zu wechseln. Und es gab mehr Platz – ausgebuchte Züge wurden zum Alleinstellungsmerkmal der Hochsaison.
Aber nicht nur die Fahrgäste wurden weniger, sondern auch die Züge selbst. Mit den bunten Waggons der legendären sogenannten „Luxusstrecken“ gehörten bald auch die Strecken selbst der Vergangenheit an. Auch die einst zahlreichen lustigen 600er Züge, die die Provinz mit den Dörfern verbanden, waren bald eine Seltenheit. Natürlich fahre ich trotzdem noch oft mit dem Zug, aber die frühere Eisenbahnromantik ist dahin.
Ganz anders sieht es beim Fliegen aus. Wenn man sich geschickt anstellt, kosten die Flugtickets meistens nur unwesentlich mehr als der Zug, One-Way und Tarife ohne Gepäck mitunter sogar weniger. Die Jagd auf Billigflüge und Rabattaktionen ist, genau wie das Sammeln von Meilen, zu einem beliebten Volkssport geworden.
Um den öffentlichen Nahverkehr ist es hingegen deutlich schlechter bestellt: Gegen Ende des Jahrzehnts waren aus fast allen Kleinstädten die Busbahnhöfe verschwunden, eine Haltestelle am Ortsrand musste reichen. Geräumige Busse mit Gepäckabteil grenzen heute an ein Wunder. Meistens muss man sich in eine armselige, nach Benzin stinkende GAZelle quetschen, und beim Anblick eines Touristen mit großem Rucksack wird der Fahrer ausfallend und hysterisch.
Aber noch bezeichnender ist die Frage: „Bist du etwa zu Fuß unterwegs?!“, die ich ständig von anderen Touristen zu hören bekomme. Reisen durch Russland ist stillschweigend etwas geworden, das man mit dem Auto macht, ein Tourist ohne fahrbaren Untersatz kommt vielen wie ein Freak vor. Und dann gibt es ja noch BlaBlaCar, Yandex.Taxi, Carsharing und die gute alte Autovermietung, auch jenseits der Metropolen.
Unterkunft – einst und heute
Hier hat sich im vergangenen Jahrzehnt gewaltig was getan. Russland in den frühen 2000ern – als ich gerade anfing zu reisen – ist mir als Land der billigen und schäbigen Hotels in Erinnerung geblieben. Für 300 bis 400 Rubel [heute rund 15 Euro – dek] bekam man ein düsteres Zimmer mit abblätternden Wänden, schmutzigem Boden und einer nackten schummrigen Glühbirne, so dass man nicht genau wusste, ob man im Hotel oder in der Geschlossenen gelandet war. Gemeinschaftsklos auf dem Flur waren eher die Regel denn die Ausnahme, eine heiße Dusche bewegte sich im Bereich des Unvorstellbaren. Und in den Reiseforen rankten sich beständig Legenden um die Schrecken des inländischen Services.
Bereits Ende der 2000er Jahre wurde alles anders, und 2010 konnte ich in den meisten Städten damit rechnen, für 1000 bis 1500 Rubel [rund 30 Euro – dek] ein kleines sauberes Zimmer mit funktionierendem Bad und WLAN zu bekommen. Ich glaube, vor ungefähr zehn Jahren hörte ich zum ersten Mal im russischen Kontext das Wort Hostel. Und nur wenige Jahre später entdeckte ich zu meinem Erstaunen Hostels in Workuta. Diese Form der Übernachtung verbreitete sich so rasant und umfassend, dass es einem merkwürdig erscheint, dass das nicht schon immer so war. Doch die Quantität ging auf Kosten der Qualität: Die Vorteile des Hostellebens hatten sich bald nicht nur unter den Touristen herumgesprochen. Ich weiß noch, wie ich 2018 in einem Sankt Petersburger Hostel gelandet bin, wo ich für 170 Rubel [sic; 2,30 Euro – dek] die Nacht die ganze Atmosphäre der Mietshäuser des 19. Jahrhunderts erleben durfte. Danach dachte ich viel über die Bedeutung von Mindestpreisen nach.
Auch die Buchungsstrategien veränderten sich. Natürlich gab es booking.com schon 2009, aber in Russland erwies sich die direkte Suche übers Internet als zuverlässiger. Erst um 2015 hatte sich Booking weitgehend durchgesetzt, aber da trat schon ein neuer Trend auf den Plan: Kurzzeitappartements und die entsprechenden Vermietungsportale.
Interessanterweise geht die zunehmende Vielfalt des Angebots mit einer erstaunlichen Preisstabilität einher – wenn ich im Vergleich zu 2009 für eine Übernachtung mehr bezahle, dann nur geringfügig. Die Unterkunft ist nicht mehr der Posten, der beim Reisen am stärksten ins Gewicht fällt.
Verpflegung – einst und heute
Hier sind die Veränderungen nicht so gravierend. Beziehungsweise sind sie eher quantitativ: Es gibt mehr Gastronomie, die Auswahl ist größer, in vielen Städten haben Ketten wie Burger King oder Subway Einzug gehalten, und wenn man will, findet man wie früher eine Kantine oder eine Stolowaja. In größeren Städten gibt es mittlerweile genug gute Cafés. Aber es wurde nichts grundlegend Neues erfunden, selbst die Welle der Anti-Cafés war zwar enorm, doch ebbte sie fast spurlos wieder ab.
Der einzig erwähnenswerte Trend der 2010er Jahre ist wahrscheinlich die Verbreitung der Nationalküchen. Nicht der japanischen, usbekischen oder kaukasischen, sondern die Küchen der russländischen Ethnien. Ende der 2000er erfreuten sich höchstens das tatarische Tschak-Tschak und ossetische Piroggen gewisser Bekanntheit, Burjatien war berühmt für seine Possy, und in manchen Hauptstädten der Autonomen Regionen fand sich ein einzelnes und nicht gerade günstiges Restaurant mit der Küche der jeweiligen Ethnie. Heute ist das keine Seltenheit mehr, und auch die lokalen Variationen der russischen Küche halten Schritt. Geblieben ist jedoch die Urigkeit der kleinen Bahnhofskantinen.
Probleme – einst und heute
Diejenigen, die vor 20 Jahren auf russischen Straßen unterwegs waren, wird das vielleicht noch amüsieren, aber schon vor zehn Jahren lag es auf der Hand, dass Reisen in Russland gefährlich ist. Während in den meisten Ländern mit einer hohen Kriminalitätsrate die Zentren der Großstädte als besonders gefährlich gelten, ist es in Russland damals wie heute viel einfacher, in der depressiven Einöde oder den Arbeitervororten Schwierigkeiten zu bekommen. Nicht immer kann man sich von diesen Schwierigkeiten mit der Brieftasche oder dem Handy freikaufen – oft genug ist das Zusammenschlagen ein Selbstzweck. Nein, nicht vor Raubüberfällen muss man sich fürchten, sondern vor frustrierten, gelangweilten und in der Regel betrunkenen Leuten.
Wenn ich in eine arme Kleinstadt, ein Dorf oder einen Vorort mit Arbeitersiedlungen fuhr, wusste ich, dass mich irgendwann die Gopniki anquatschen würden. Nicht, um mich zu verprügeln oder auszurauben, sondern um mit dem unbekannten und seltsamen Gast zu reden und ihm je nach Gesprächsverlauf am Ende die Hand zu geben oder das Handy zu entwenden. Ich betrachtete die Kommunikation mit diesem Publikum als eine Kunst und leitete sogar eine ganze Philosophie daraus ab, die sich in etwa so zusammenfassen lässt: Wenn du mit den Gopniki zu tun hast, musst du frei sein von Angst, Arroganz und Mitleid. Meine Routen plante ich so, dass ich an einem Freitagabend nicht in soziale Brennpunkte geriet.
Ein nicht weniger aktuelles Problem war die Willkür der Miliz (die damals noch nicht Polizei hieß). Brutstätten hierfür waren vor allem strategische Objekte wie Bahnhöfe, die Metro, Orte unweit großer Fabrikanlagen und Plätze vor Regierungsgebäuden. Ein harmloses Foto von einem Bahnhof oder einer alten Fabrik konnte leicht in stundenlange sinnlose Nervereien münden.
Dass das alles nicht mehr viel mit der heutigen Zeit zu tun hat, wurde mir ein paar Jahre später bewusst, noch in der ersten Hälfte des Jahrzehnts. Klar, das Risiko in aggressive Gesellschaft oder an einen schlecht gelaunten Unteroffizier Prischibejew zu geraten ist nicht weg. Es ist kein Geheimnis, dass jede Stadt der Welt gefährlich ist, wenn man sich bei einem Grüppchen Betrunkener im dunklen Hinterhof einer Bar erkundigt, wo man hier am besten 500 Dollar wechseln kann. Aber im Großen und Ganzen ist der Faktor Straßenkriminalität und Polizeiwillkür in den letzten zehn Jahren aus meinen Reisen so gut wie verschwunden. An den Bahnhofstüren hängen Schilder mit der Aufschrift „Fotografieren erlaubt!“, und der Fotoapparat oder das Smartphone mit der guten Kamera sind zu alltäglich geworden, als dass sie das Ziel eines Überfalls oder das Attribut eines Spions sein könnten.
2009 wussten wir von Saratow vage, dass es da eine Brücke gibt. Von Archangelsk, dass man dort über hölzerne Gehwege läuft. Von Tjumen, dass es aus allen Nähten platzen muss vor schwarzem Gold. Von Irkutsk – dass es von dort aus ein Steinwurf zum Baikalsee ist, und die Fortgeschrittensten hatten mal irgendwo etwas von Holzbaukunst oder dem Irkutsker Barock gehört. Orenburg oder Ishewsk, Pensa oder Kurgan riefen keinerlei Assoziationen hervor.
Selbst die Frage, warum man überhaupt durch Russland reisen sollte, war damals keine rhetorische. Zu stark war der postsowjetische Impuls des „Endlich darf man“ und Reisen verband man in erster Linie mit dem ungewohnten Ausland, der Schönheit und dem Komfort Europas, der Exotik und Expressivität Asiens … Reisen durch Russland waren was für Heimatforscher-Nerds und Tramper mit leeren Taschen, quasi der Underground des Tourismus.
Und dann kam die Krise, deren Höhepunkt exakt auf das Jahr 2009 fiel. In den Großstädten bildete sich eine ganze Schicht von Menschen, die sich Florenz, Venedig und Verona nicht mehr leisten konnten. Quasi über Nacht wurde der Inlandstourismus zur Mode. Das Interesse am russischen Erbe machten sich schnell ehrbare Persönlichkeiten zu eigen, wie Leonid Parfjonow mit seinem Buch Chrebtom Rossii (dt. etwa Das Rückgrat Russlands), das bei vielen schlagartig die Vorstellung davon veränderte, was der Ural ist.
Nach dem Interesse endete die Gleichgültigkeit: Bei uns verrotten ja ganze Meisterwerke der Holzbaukunst, die Bauträger verschandeln die Altstädte mit ihren Hochhäusern, und überhaupt weiß niemand den Wert der sowjetischen Mosaiken zu schätzen! Und weil die Politiker die Emotionsregungen der Bevölkerung gerne für ihre Zwecke benutzen, schafften es plötzlich der Abriss irgendeines verlassenen Anwesens oder die misslungene Rekonstruktion einer alten Kirche in die Schlagzeilen.
Auch die Mäzene ließen nicht lange auf sich warten – so wurde das Land beispielsweise von einer ganzen Welle großer Freilichtmuseen für Technik überrollt. Oder, der aktuellste Trend: die Renaissance der Dampfeisenbahn auf regulären Strecken in Touristenorten. Das rief die Enthusiasten auf den Plan – die einen brachten die lange ausgemusterten Schmalspurloks wieder in Gang, die anderen eilten in die tschuchlomische Einöde, um Holzhütten zu restaurieren. Die Stadtverwaltungen produzierten mal reihenweise einförmige Straßenskulpturen oder wetteiferten darum, wer das absurdeste Festival veranstaltet, mal eröffneten sie ganz anständige Museen.
Vor langer Zeit konstatierte Anton Krotow, der Guru der russischen Tramper-Szene, Reisen werde vom Tourismus abgelöst. Er meinte damit eher das ferne Ausland, während der postsowjetische Raum lange Zeit die letzte Hochburg der touristischen Terra incognita zu bleiben schien. Aber wenn man zurückblickt, stellt man plötzlich fest, dass auch diese Bastion gefallen ist. 2020 sprudelt plötzlich dort das Leben, wo 2010 noch verschlafene, weltfremde Vergessenheit herrschte. Die unermesslichen heimischen Weiten zu bereisen ist einfacher und sicherer geworden, doch das Erstentdecker-Gefühl von einst wartet längst nicht mehr hinter jeder Ecke.