War jemand in der UdSSR von Beruf Fotograf, so arbeitete er für eine Zeitung, einen Betrieb oder eine staatliche Stelle wie das Standesamt. Für den Beruf des „freien Fotografen“, sei es als Künstler oder als Journalist, gab es im sowjetischen Staat keinen Raum. Umso interessanter sind daher Initiativen wie die Gruppe TRIVA, ein Zusammenschluss dreier Betriebsfotografen beim Metallurgischen Kombinat im sibirischen Nowokusnezk, die es sich 1978 zur Aufgabe machten, „die derzeitige Epoche aus der Position des Humanismus fotografisch zu dokumentieren”.
Die Mitglieder von TRIVA – Wladimir Sokolajew, Wladimir Worobjow und Alexander Trofimow – arbeiteten nicht fürs private Archiv. Sie waren als „künstlerisches Kollektiv“ offiziell registriert und organisierten Ausstellungen ihrer Werke, teils in den Räumen ihres eigenen Kombinats, teils in anderen Städten und sogar im Ausland (mehr Details hier auf Russisch). Dabei mussten sie die Besonderheiten ihres sowjetischen Umfelds in Betracht ziehen: „Natürlich gab es diesen Parteisekretär für Ideologie“, erinnert sich Sokolajew, „das war ein Typ mit Einfluss, und wenn wir eine Ausstellung machten, dann mussten wir das berücksichtigen. Aber was du nicht ausstellst, dafür gibt es auch keinen Parteisekretär für Ideologie. Er läuft dir ja nicht hinterher, wenn du fotografierst, und schaut dir über die Schulter. Er weiß nicht, welche Bilder ich im Apparat habe, welche Abzüge ich mache, was ich Freunden zeige.“
Vier Jahre lang ging die Arbeit gut. 1982 gelang es TRIVA sogar, ihre Fotografien beim World Press Photo Award einzureichen. Der erste Schritt zur Internationalisierung bedeutete jedoch auch das Ende von TRIVA: Auf „Empfehlung des Bezirkskomitees der KPdSU“ wurde die Gruppe aufgelöst, da sie „ideologisch schädliche Fotografien“ hervorbringe.
Die Arbeiten der Gruppe sind heute wenig bekannt, selbst in Russland. Dabei steht ihre außergewöhnliche Qualität völlig außer Frage: Die Herangehensweise von TRIVA läßt sich – mit ihrem Augenmerk auf den entscheidenden Augenblick im Strom des Alltäglichen – durchaus mit der von Cartier-Bresson vergleichen. In ihrer fotografischen Unmittelbarkeit bieten diese Bilder einen Einblick ins Alltagsleben der UdSSR unter Breshnew, während der Zeit der Stagnation, wie er in anderen Zeitzeugnissen – dem Kino oder der Literatur – kaum je zu finden ist.
Alexander Trofimow. Regenschauer in Sotschi. 1978
Wladimir Sokolajew. Feierliche Registrierung eines Neugeborenen. Standesamt des Zentralen Bezirks. Nowokusnezk. 1.10.1983
Wladimir Sokolajew. Behandlung mit UV-Licht im Kinderheim Nr. 4. Suworow-Straße. Nowokusnezk. 22.01.1981
Wladimir Sokolajew. Gymnastikwettkampf der Betriebssportgruppe im Gorpromtorg (dt. „Städtische Abteilung für Handel mit gewerblichen Waren“). Nowokusnezk. 10.04.1983
Wladimir Worobjow. Frau bietet Suppenfleisch zum Kauf an. Nowokusnezk. 1984
Wladimir Sokolajew. Abendliche Schlange vor den Sandunowski-Bädern. Moskau. 30.04.1984
Wladimir Sokolajew. Wind in der Stadt. Bahnhofsvorplatz. Nowokusnezk. 11.05.1981
Wladimir Worobjow: Entlassung aus dem Wehrdienst. Prospekt der Metallurgen, Nowokusnezk, 1982
Wladimir Sokolajew. Gesang vom Frauenchor auf einem Stadtfest. Nowokusnezk. 7.06.1979
Wladimir Sokolajew. Eingang zur Ballettschule. Teatralnaja-Straße in Leningrad. 24.06.1982
Wladimir Sokolajew. Fitnessgruppe im Schwimmbad RODNIK (dt. „Quelle“). Nowokusnezk. 5.04.1983
Wladimir Worobjow. Mona Lisa auf einem beruflichen Wettbewerb der Ölbohrarbeiter. Niederlassung Elan. Nowokusnezker Bezirk. 26.05.1983
Wladimir Sokolajew. Schafe hütende Zigeunerin. Gebiet Ongudai. Altai Gebirge. 30.07.1980
Wladimir Sokolajew. Portrait eines Zechenarbeiters mit Hut. Kusnezker metallurgisches Kombinat. Nowokusnetsk. Juni 1977
Wladimir Sokolajew. Pause bei den Bäckern. Bäckerei in der Gemeinde Ongudai. Altai Gebirge. 28.07.1980
Wladimir Sokolajew. Masleniza-Fest im Bezirk Ordshonikishew. Nowokusnezk. 24.03.1985
Wladimir Sokolajew. Erste Hilfe. Versuch der Rettung einer Selbstmörderin auf der Pokryschkin-Straße. Nowokusnezk. Mai 1978
Wladimir Sokolajew. Hammelbrust-Hälften auf der Vera-Solomna-Straße. Nowokusnezk. 8.09.1988
Wladimir Sokolajew. Neujahrsrodelbahn an der Kirow-Straße. Nowokusnezk. 1.01.1983
Wladimir Sokolajew. Mauer, an der man sich zum Sonnenbaden trifft – auch im Winter. Peter-und-Paul-Festung. Leningrad. 28.02.1982
Alexander Trofimow. Fahrradfahrer in der Gemeinde Maly Antibes. Bezirk Mariinski. 1983
Wladimir Sokolajew. Gummitwist im Hof an der Toljatti-Straße. Nowokusnezk. 9.05.1985
Wladimir Sokolajew. Autoreparatur auf dem Seitenstreifen des Prospekts Kurako. Nowokusnezk. 13.10.1981
Wladimir Sokolajew. Zuschauer an der Ehrentafel. Masleniza-Fest. Nowokusnezk. 24.03.1985
Wladimir Sokolajew. Vor den Feierlichkeiten zum Jahrestag der Oktoberrevolution wird das Lenin-Mausoleum einer Reinigung unterzogen. Moskau, 5.11.1988
Wladimir Sokolajew. Eine Frau eilt zur Demonstration am 1. Mai, in der Hand ein Schild mit der Aufschrift „Glück“. Obnorski-Straße. Nowokusnezk. 1.05.1983
Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, einführender Text: Martin Krohs
Veröffentlicht am 01.02.2016