Der Begriff der orthodoxen Zivilisation wurde geprägt von dem britischen Kulturtheoretiker und Geschichtsphilosophen Arnold Joseph Toynbee und dem amerikanischen Politologen Samuel Huntington. Seit der Jahrtausendwende taucht er des Öfteren auch in Texten und Reden prominenter Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) auf. Es handelt sich jedoch ursprünglich nicht um einen Begriff religiöser Herkunft.
1996 sorgte der amerikanische Politologe Samuel Huntington mit seinem Buch The Clash of Civilisations für Aufsehen. Er teilte die Welt in Kulturkreise ein, die in ihrem Aufeinandertreffen an den „Bruchlinien“ für Konflikte sorgen würden1 Damit sind zunächst keine Konflikte zwischen Staaten oder politischen Systemen gemeint, sondern Auseinandersetzungen auf gesellschaftlicher Ebene. Sie können aber durchaus eine politische Dimension erlangen und mit militärischer Gewalt ausgetragen werden. Neben einem westlichen Kulturraum, dessen Kernstaaten die USA, Frankreich und Deutschland darstellen, verortet Huntington in Europa noch einen slawisch-orthodoxen Kulturraum, mit Russland als Kernland.
Um die Jahrtausendwende wurde der Begriff orthodoxe Zivilisation mit Rekurs auf Huntington dann von der ROK übernommen. Dabei flossen auch neue, spezifisch kirchliche Vorstellungen in den Begriffsgebrauch ein. Federführend waren hier der Erzpriester Wsewolod Tschaplin und der frühere Metropolit von Smolensk und Kaliningrad und heutige Patriarch der ROK Kirill. Auch auf dem Weltweiten Russischen Volkskonzil vom Jahr 2004, das Russland und die orthodoxe Welt2 zum Thema hatte, wurde das Konzept eingehend behandelt.
Insgesamt steht bei der kirchlichen Rezeption des Begriffes die selbständige kulturell-historische Entwicklung des orthodoxen Raumes im Vordergrund. Das östliche Christentum, so die Idee, habe seine christlichen Wurzeln immer bewahrt. Kirche und Staat stünden durch das Prinzip der Symphonia, das heißt, des Strebens nach Einvernehmen von Staats- und Kirchenoberhaupt, in einem besonderen Verhältnis. Die orthodoxe Handlungsmaxime laute, den Menschen auf dem Weg zur Erlösung zu helfen, den wahren Glauben und das ewige Leben zu finden. Pragmatische Fragen des Alltags stehen völlig im Hintergrund. Darin sieht Tschaplin den Unterschied zum Protestantismus. Der Westen, sagt Tschaplin, habe seine christlichen Wurzeln verloren. In seiner postchristlichen, säkularen Kultur seien nicht alle Fragen des Lebens zu beantworten. Jede Gesellschaft und im Idealfall auch jeder Staat sollte daher eine geistliche Mission haben3.
Zwei Aspekte spielen im Konzept der orthodoxen Zivilisation eine Schlüsselrolle: die Ablehnung des Individualismus und die ideologische Abgrenzung zum Westen. Letzteres ließ sich jedoch nach der Aufnahme orthodoxer Länder wie Rumänien und Bulgarien in die EU immer schwieriger begründen. Ab 2004 wurde daher das Konzept der russischen Welt in den Mittelpunkt gestellt, das seitdem die Idee der orthodoxen Zivilisation im öffentlichen Bewusstsein mehr und mehr verdrängt.
Beide Konzeptionen verbindet, dass ihr Gültigkeits- bzw. Einflussbereich über Russland hinausreicht und auch die Staaten umfasst, in denen russische Minderheiten leben. So beschränkt sich eben auch die Idee der russischen Welt nicht allein auf Russland – wenngleich Russland stets das Kernland bleibt.4 Der südosteuropäische Raum hingegen spielt, obwohl ebenfalls orthodox geprägt, bei der russischen Welt keine Rolle.