Es war eine simple Idee, die bis heute großen Erfolg hat: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hob die US-Regierung ein akademisches Austauschprogramm aus der Taufe, dass es besonders begabten Studierenden und Forschenden aus der ganzen Welt erlauben sollte, einige Zeit an einer amerikanischen Hochschule zu verbringen. Allerdings unter einer Bedingung: Die jungen Wissenschaftler müssen nach Abschluss des Programms wieder zurück in ihre Herkunftsländer gehen. Die USA wollten nicht die klügsten Köpfe abwerben. Vielmehr sollten die Stipendiaten zur Entwicklung ihrer Heimatländer beitragen – und wohl auch etwas vom Geist der freien Forschung und Wissenschaft in die Welt tragen.
Seitdem hat das Fulbright-Programm mehr als 50 Nobelpreisträger hervorgebracht. 20 Alumni brachten es bis zum Außenminister. Einer wurde sogar Generalsekretär der Vereinten Nationen (der Ägypter Boutros Boutros-Ghali). Sogar im Kalten Krieg schickte die Sowjetunion talentierte Nachwuchsforscherinnen und -forscher an Hochschulen des Klassenfeindes. Doch Anfang 2024 erklärte die russische Regierung das Institute of International Education (IIE), den Träger des Fulbright-Programms, zur unerwünschten Organisation. Russinnen und Russen, die da bereits in den USA studierten oder eine Zusage für ein Stipendium hatten, fürchten sich jetzt vor der Rückkehr in ihre Heimat.
Blick auf das Hauptgebäude der Moskauer Staatlichen Lomonossow-Universität / Foto © Mikhail Tereshchenko/TASS Publication/imago-images
„Der Bewerbungsprozess für das Fulbright-Programm dauert ungefähr ein Jahr. Er verläuft in fünf Runden, aus denen man jeweils ‚rausfliegen‘ kann. Insofern ist das Ergebnis langersehnt und natürlich auch beflügelnd“, erinnert sich Irina Perfilowa, die heute an der University of Tennessee studiert.
Irinas Fach ist untypisch für das Fulbright-Programm: Sie ist eine der Ersten, die mit einer sportlichen Studienrichtung teilnehmen darf – Sport für Menschen mit Behinderungen.
„Ich hatte einen genauen Plan, wie ich später in Moskau an meinem Thema weiterarbeiten wollte, und ich wusste auch, warum ich dafür zunächst in die USA musste“, sagt sie.
Vom Prestigeprogramm zur unerwünschten Organisation
Am 11. April 1972 unterzeichneten die USA und die UdSSR ein Abkommen über die Zusammenarbeit in Wissenschaft, Technik, Bildung, Kultur und anderen Bereichen. Diese bilaterale Zusammenarbeit überdauerte lückenlos den Kalten Krieg und sein Ende. Heute erstreckt sich das Fulbright-Programm auf 160 Länder. Derweil ist seine Geschichte in Russland nach einem halben Jahrhundert vor Kurzem abgerissen.
„Das erste Alarmsignal war für mich das Gesetz über ausländische Agenten“, erzählt Irina. „Den Status eines ausländischen Agenten kann man bekommen, wenn man aus dem Ausland Finanzierung erhält. Im Rahmen des Fulbright-Programms bekommen wir ein Stipendium – also Geld aus dem Ausland. Mittlerweile genügt sogar schon ‚Einfluss aus dem Ausland‘. Aber was bedeutet das? Wenn wir zum Beispiel hier studieren – ist das Einfluss aus dem Ausland?“
Laut Irina steht in dem offiziellen Vertag, den die Stipendiaten unterschreiben, dass sie nach ihrer Teilnahme das amerikanische Fulbright-Programm in Russland auf dem Gebiet von Kultur und Bildung vertreten werden.
Das birgt die Gefahr, auf die Liste der ausländischen Agenten zu geraten. Und da ausländische Agenten keine Bildungsarbeit leisten dürfen, können die Fulbright-Alumni ihr erworbenes Wissen nicht weitergeben. So können viele von ihnen die Projekte, die sie sich vor ihrem USA-Aufenthalt vorgenommen haben, gar nicht mehr umsetzen.
Das nächste Signal im Leben der Fulbright-Stipendiaten war die Äußerung des Chefs des russischen Auslandsgeheimdienstes Sergej Naryschkin im Januar 2024: Das Fulbright-Programm versuche zusammen mit einer Reihe anderer US-amerikanischer Programme, die massenhaft in den Westen geflüchtete systemkritische Opposition zu ersetzen und die Studierenden zu „Stützpfeilern der fünften Kolonne zu machen“. Und am 7. März überreichte das Außenministerium der Russischen Föderation dem Botschafter der USA ein offizielles Schreiben mit der Aufforderung, jegliche Vermittlungstätigkeit von drei Non-Profit-Organisationen einzustellen – darunter das Institute of International Education (IIE), den Träger des Fulbright-Programms. Am selben Tag wurde das IIE zur in Russland unerwünschten Organisation erklärt. Am 29. März beendete das IIE die Tätigkeit des Fulbright-Programms in Russland, um eine Verfolgung der russischen Bewerber zu vermeiden. Allerdings befinden sich gegenwärtig über 100 Stipendiaten in den USA. Sie setzen ihre Zusammenarbeit mit dem IIE und dem ebenfalls in den USA ansässigen Austausch Programm Cultural Vistas fort. Gemäß ihren Verträgen und ihren Visa der Kategorie J-1 sollten sie bald nach Russland zurückkehren: rund 30 von ihnen in den nächsten Monaten, die anderen innerhalb der nächsten Jahre.
Das Fulbright-Programm ist keine Ausnahme. Daniil Kirsanow, ein weiterer Stipendiat, ist der Meinung, die russische Regierung setze auch Teilnehmer anderer Austauschprogramme unter Druck – sowohl russisch-amerikanischer Programme als auch russisch-europäischer.
Zuhause warten Strafen
Eine russische Anwältin, die nicht namentlich genannt werden möchte, sagt, dass die Rechtspraxis in Russland momentan schwer einzuschätzen sei. Allerdings sei die Wahrscheinlichkeit, dass die Fulbright-Stipendiaten als ausländische Agenten klassifiziert würden, hoch. Wobei die Strafe für eine Zusammenarbeit mit der unerwünschten Organisation IIE, die das Fulbright-Programm finanziert, zunächst gar nicht so hoch erscheint: ein Bußgeld von 5000 bis 15.000 Rubel [ca. 50 bis 150 Euro]. Wie die Juristin anmerkte, sind Verfahren, die einzig und allein die Zusammenarbeit mit einer unerwünschten Organisation betreffen, selten: der Papierkrieg ist enorm, die Strafe mickrig.
Doch kann ein Bußgeld wegen einer Zusammenarbeit mit IIE leicht den Anstoß zu einem größeren Verfahren geben. Wenn gegen einen ausländischen Agenten zwei Bußgelder verhängt wurden, so genügt das, um ein Strafverfahren gegen ihn einzuleiten, und dann droht eine Haftstrafe. Haben Sie Materialien von Doshd, Radio Swoboda oder Meduza weiter verbreitet? Haben Sie Geld an unerwünschte Organisationen überwiesen? Haben Sie sich irgendwann pro-ukrainisch geäußert oder an ukrainische Organisationen gespendet? Viele unserer Gesprächspartner, die sich heute in den USA befinden, gestehen ein, genau das getan zu haben. Das heißt, sie müssen mit einem Strafverfahren rechnen.
„Noch gibt es wenige Strafverfahren, das ist eher zur Einschüchterung“, erklärte die Anwältin. „Konkret wegen Zusammenarbeit mit dem IIE gibt es bisher noch gar keine Verfahren. Insofern werden die Teilnehmer des Programms – zumindest bis auf Weiteres – mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne Konsequenzen zurückkehren können.“
Sowohl unsere Juristin als auch die Kuratoren des Fulbright-Programms empfehlen den Stipendiaten im Vertrauen, die Teilnahme an diesem Prestigeprogramm lieber nicht zu erwähnen. Selbst in Bewerbungsgesprächen mit seriösen Arbeitgebern sollte man sie besser verschweigen.
Einige Geschichten, die uns erzählt werden, lassen um die Zukunft einzelner Fulbrighter fürchten. Violetta Sobolewa zum Beispiel, die derzeit an der City University of New York in pädagogischer Psychologie promoviert, hat sich früher für Nawalnys Organisation engagiert und in amerikanischen Medien seinen Tod kommentiert. Irina Perfilowa ihrerseits engagierte sich für die russische LGBT-Community.
Den Zwang zur Rückkehr aussetzen?
Viele russische Fulbrighter würden deshalb gern in den USA bleiben und dort arbeiten. Aber die Regeln für das Visa J-1 und der Vertrag, den sie geschlossen haben, verpflichten sie, für mindestens zwei Jahre nach Russland zurückzukehren (die so genannte Zwei-Jahres-Regel).
Diese Regel wurde nicht umsonst aufgestellt: Normalerweise werden Austauschprogramme zu gleichen Teilen von den USA und einem Partnerland finanziert. Die Zwei-Jahres-Regel ist eine Art Garantie dafür, dass der Stipendiat in sein Herkunftsland zurückkehrt und sein erworbenes Wissen an andere weitergibt. Doch Russland hat sich an der Finanzierung nie beteiligt, die Kosten für die Ausbildung übernahmen die USA und die jeweiligen Universitäten.
Wir baten Julia Paschkowa, die sich bei der Kanzlei Lux Law auf Migrationsrecht spezialisiert hat, um ihre Einschätzung zur Situation mit dem J-1 Visum. Sie bestätigt, dass die Fulbright-Stipendiaten für mindestens zwei Jahre in ihr Heimatland zurückkehren müssen: „Die Einwanderungsbehörden nehmen diese Regel sehr ernst“.
Julia Paschkowa nennt aber auch Möglichkeiten, die Zwei-Jahres-Regel zu umgehen:
Ein Schreiben vom Partner-Land (in diesem Fall also von der russischen Regierung), das den Austauschstudenten von seiner Pflicht befreit, für zwei Jahre zurückzukehren. Dieser Antrag muss vom State Department und von der US-Einwanderungsbehörde USCIS beglaubigt werden. Laut Daniil Kirsanow haben russische Fulbrighter versucht, so ein Schreiben zu bekommen:
„Die Antwort auf unsere Anfrage war, dass Russland sich finanziell nicht an diesem Projekt beteiligt habe und es daher nicht als vollwertiges Austauschprogramm zu betrachten sei“, erklärt er. „Aus ihrer Sicht ist die Teilnahme russischer Studierender und Wissenschaftler am Fulbright-Programm eine private Initiative, mit der die russische Regierung nichts zu tun habe, weswegen sie auch keinen derartigen Verzicht bescheinigen könne. Theoretisch hätte die russische Fulbright-Filiale das Verzichtsschreiben verfassen können – als Organisation, die vonseiten Russlands die Verträge unterzeichnet. Aber diese wurde als Projekt der unerwünschten Organisation IIE geschlossen.“
Die zweite Möglichkeit wäre eine Einladung einer US-Bundesbehörde. Also die Teilnahme an einem Projekt, an dem die US-Regierung interessiert ist. Für junge Spezialisten sei die Aussicht darauf gering, gibt Julia Paschkowa zu bedenken.
„Wenn alles wahr wäre, was russische Medien über angebliche Spione berichten, dann wäre es nicht so schwer, auf diesem Weg ein Visum zu bekommen“, scherzt Kirsanow bitter. „Aber ich kenne keinen einzigen Fall, in dem ein Fulbrighter diese Ausnahme hätte nutzen können.“
Schließlich bliebe noch ein Antrag auf politisches Asyl. Doch das Prozedere dafür ist langwierig: Zuerst muss man der Einwanderungsbehörde Beweise vorlegen, dass man verfolgt wird. Diese leitet den Fall ans US-Außenministerium weiter, das die finale Entscheidung trifft. Einen Asylantrag hält die Anwältin Paschkowa jedoch für den aussichtsreichsten Weg. Allerdings fügt sie hinzu, dass dafür hypothetische Bedrohungen nicht ausreichen – man muss beweisen, dass man bei einer Rückkehr nach Russland persönlich gefährdet wäre.
Asyl kommt nicht für jeden infrage
„Wir stehen vor einer simplen Wahl: Entweder wir kehren zurück nach Hause, wo wir eingesperrt oder vor Gericht gestellt werden können. Oder wir bemühen uns um ein Studentenvisum“, sagt Daniil Kirsanow. „Das Problem ist erstens, dass zu dem Zeitpunkt, als der neue Status des IIE bekannt wurde, die Bewerbungsfristen für das PhD-Studium bereits abgelaufen waren. Außerdem ist ein Studentenvisum keine endgültige Lösung des Problems, es stellt die Zwei-Jahres-Regel nur auf Pause. Manche von uns haben versucht, ein Arbeitsvisum zu bekommen, aber erfolglos. Sogar jene, die während ihres USA-Aufenthalts geheiratet haben, stehen vor diesem Dilemma, denn eine Eheschließung ändert nichts an der Verpflichtung, für zwei Jahre nach Russland zurückzugehen.“
Die meisten Fulbrighter, die wir für ein Gespräch gewinnen konnten, ziehen jetzt entweder ein Promotionsstudium in Betracht (das kommt nur für jene in Frage, die das ohnehin vorhatten) oder ein weiteres Master-Studium oder ein Post Academic Training – ein Praktikum nach dem Studium. Allen ist klar, dass das nur temporäre Lösungen sind, mit denen man aber in den USA die Zeit überbrücken kann, um Asyl zu beantragen und zu warten, bis das Asylverfahren abgeschlossen ist.
Wir baten auch das Institut für internationale Bildung in Moskau um einen Kommentar. Dort versicherte man uns, man bemühe sich, den Kontakt zu den Projektteilnehmern aus Russland aufrechtzuerhalten und sie möglichst ausführlich zu beraten.
Natürlich hat das IIE sich redlich bemüht, etwas gegen die Zwei-Jahres-Regel zu unternehmen. Zum Beispiel hat es angeboten, den Programmteilnehmern den Umzug in ein Drittland zu bezahlen und nicht auf eine Rückkehr nach Russland zu bestehen.
„Der Umzug in ein Drittland bedeutet nicht nur ein Flugticket“, betont Irina Perfilowa, „man braucht auch ein Visum, muss eine Arbeit suchen und eine Wohnung finden, für all das braucht man vor allem in der ersten Zeit Geld. Wir haben in den USA zwar ein Stipendium bekommen, aber das war nicht so hoch, dass wir etwas hätten zurücklegen können. Keiner von uns hat Ersparnisse, und die Unterstützung durch Angehörige ist in einer Zeit, in der alle russischen Bankkarten im Ausland blockiert sind, auch nicht realistisch. Ich bezweifle, dass das ein realistischer Plan ist.“
Einer der Fulbrighter gesteht, dass er das Gefühl hat, das IIE, Cultural Vistas und das US-Außenministerium würden die Fulbright-Stipendiaten im Regen stehen lassen und dem Problem ausweichen.
„Ich habe den Eindruck, sie sind sich der Risiken nicht bewusst, denen wir ausgesetzt sind, wenn wir nach Russland zurückkehren. Ihre Unterstützung beschränkt sich momentan auf Auskunft und Beratung, aber das ist nicht genug“, sagt Kirill Schabalin.
„Es ist nicht so, dass sie uns nicht glauben würden. Aber wenn ich von diversen Strafprozessen erzähle oder von Fällen absolut willkürlicher Rechtsprechung, dann sind sie immer sehr schockiert. Die Leute können sich einfach nicht vorstellen, was in Russland los ist“, sagt Daniil Kirsanow.