Russische Mediziner haben einst großes Ansehen genossen. Heute ächzt das Gesundheitsystem unter vielen Lasten: Die Pharmaindustrie kauft Ärzte für zweifelhafte Studien, die Ausbildung ist praxisfern und veraltet, und für gute Mediziner gibt es kaum Karriereperspektiven. Der Autor des Artikels, selbst Kardiologe und in leitender Management-Position in einer großen Krankenhausgruppe tätig, nennt die Missstände beim Namen und fordert einen tiefgreifenden Wandel im Medizinsektor.
Wollte man das russische Gesundheitssystem in seiner derzeitigen Form durch höhere Geldinvestitionen verbessern, könnte man auch gleich versuchen, Feuer mit Benzin zu löschen. Selbst in dem hypothetischen Fall, dass alle russischen Kliniken von einem Moment auf den anderen auf dem neuesten Stand der Technik wären, über die modernsten Medikamente verfügten und die dort arbeitenden Ärzte genauso viel verdienten wie ihre amerikanischen Kollegen, hätte dies, wie ich vermute, auf die Qualität der Behandlung der meisten Patienten wenig Auswirkungen.
Zwar würde sich die Behandlung einiger klar umrissener Patientengruppen, die vor allem auf bestimmte Arzneimittel angewiesen sind, spürbar verbessern. Das sind z. B. Kinder mit sogenannten seltenen Krankheiten, Patienten mit Hämoblastosen (Blutkrebs) oder mit Infektionen, die eine moderne intravenöse Antibiotikatherapie erfordern, aber auch einige zehntausend Patienten mit vergleichsweise seltenen schweren Erkrankungen, bei denen die herkömmlichen Behandlungsmethoden nicht angeschlagen haben und die nun auf die Verschreibung extrem kostspieliger Arzneimittel hoffen, z. B. Targetproteine, Biologika. Doch bei Millionen Patienten, die an weit verbreiteten Krankheiten leiden, an koronarer Herzkrankheit, an Bluthochdruck, Magengeschwüren, Asthma, chronisch obstruktiver Lungenerkrankung, Harnsteinen oder operierbaren Krebsformen, um nur einige zu nennen, würde sich wohl selbst dann kaum eine rasche Besserung einstellen, wenn das Gesundheitssystem über unbegrenzte Mittel verfügte.
Ohne gute Ärzte können Apparate nicht heilen
Der Krebs, der nicht entdeckt wird, weil der Arzt den Patienten nicht zur Diagnostik schickt, wird weiterhin nicht diagnostiziert werden. Eine Struktur, die bei einem gewöhnlichen Ultraschall oder CT nicht gefunden wird, wird auch dann nicht erkannt werden, wenn man dem untersuchenden Arzt ein Gerät der Extraklasse hinstellt. Ein Notarzt, der heute bei einem Infarkt keine Lyse einleitet (in der Hauptstadtregion gehören die hierfür nötigen Präparate zur Ausstattung), wird dies auch nach einer Gehaltserhöhung nicht tun. Neurologen werden ihre Patienten weiterhin mit den ihnen vertrauten, gänzlich ineffektiven Nootropika und Gefäßpräparaten behandeln, und der Allgemeinmediziner verschreibt bei einer einfachen Erkältung Immunmodulatoren und virenhemmende Mittel, die nicht nur unwirksam, sondern auch nicht ungefährlich sind. Auch wenn Bauchchirurgen bei einer Operation an der Bauchhöhle die besten Endoskop-Modelle verwenden, macht sie das nicht effektiver oder sicherer. Und so weiter und so fort.
Ich versichere Ihnen, es wird nach wie vor Millionen nicht diagnostizierter Krankheiten und Falschbehandlungen geben, denn der Erfolg einer Behandlung hängt nicht davon ab, ob die Ausstattung und Labors topmodern und die Medikamente die allerneuesten sind; in erster Linie kommt es darauf an, dass der Arzt sein Fach beherrscht, im klinischen Denken erfahren und mit neuen Heilverfahren vertraut ist. Die Anwendung hochwirksamer biologischer Präparate durch einen schlecht ausgebildeten Arzt kann mehr zerstören als die eigentliche Krankheit. Der kritische Zustand der russischen Medizin ist vor allen Dingen bedingt durch die tiefgreifende Krise der medizinischen Ausbildung. Die medizinische Ausbildung in der Sowjetunion galt zu Recht als eine der besten der Welt. In den neunziger Jahren und zu Beginn der 2000er jedoch erlebte dieses System einen Niedergang. Nur wenige blieben in der Medizin, höchstens ein Drittel aus glühender Leidenschaft für den Beruf – für die meisten wurde es ein Tribut ans Überleben zu lernen, irgendwie Geld lockerzumachen.
Mediziner haben sich von der Pharmaindustrie kaufen lassen
Zahlreiche Professoren der Medizin, die heute von oben herab auf Kollegen und Patienten blicken, waren jahrelang gezwungen, vor der Regierung und der Pharmaindustrie zu Kreuze zu kriechen. Man kann sie dafür schwerlich verurteilen, konnten mit den Geldern doch Institute und Fakultäten am Leben erhalten werden. Der Nebeneffekt jedoch war furchtbar: Russische Fachzeitschriften quollen über vor tendenziösen, von der Pharmaindustrie bezahlten Artikeln, Vorträge „führender Wissenschaftler“ bei großen Kongressen enthielten unverhüllt Werbung für pharmazeutische Produkte, und zwar keineswegs für die besten. Die angewandte medizinische Wissenschaft, ganz zu schweigen von der Grundlagenforschung, geriet in eine starke Abhängigkeit von der Industrie.
In den darauffolgenden fetten Jahren vergaßen etliche Professoren, die inzwischen Karriere gemacht hatten, wofür sie unter solch großen Mühen Mittel beschafft hatten, und steckten die Gelder, die mittlerweile flossen, nicht länger in die Forschung und den Unterhalt des Personals. Anstatt junge Ärzte auszubilden und wissenschaftliche Studien durchzuführen, zogen sie es vor, im ganzen Land umherzureisen, um durch Sponsorengelder finanzierte Vorträge zu halten und wissenschaftlich gänzlich wertlose Auftragsstudien über Pharmazeutika durchzuführen. Sie wurden benutzt, um die Medikamente auf dem russischen Markt zu promoten und sie im Register der lebensnotwendigen und wichtigsten Medikamente zu platzieren. Um sich vom Wahrheitsgehalt dieser Aussagen zu überzeugen, können Sie jede beliebige große russische Fachzeitschrift aufschlagen und die Artikelüberschriften und Lobhudelei in den Ergebnissen lesen.
abgeschnitten vom internationalen know-how, oft mit gefälschten Diplomen
Die letzten zwanzig Jahre waren die Ärzte dauerhaft mit einem überaus heiklen ethischen Dilemma konfrontiert: Entweder du verkaufst dich, oder du führst ein Leben in Armut. Die Lebensbedingungen der Fakultätsangehörigen und Lehrer der medizinischen Hochschulen, die ihren moralischen Prinzipien treu geblieben sind, haben sich katastrophal verschlechtert. Hier kommt erschwerend hinzu, dass eine qualitativ hochwertige ärztliche Ausbildung sehr teuer ist. Die heutigen Ärzte und Mediziner waren vom Zugang zu akademischem Wissen abgeschnitten: Bibliotheken schafften keine westliche Literatur an, das Abonnement einer Fachzeitschrift (ca. 100–500 $ pro Jahr) oder der Ankauf von wissenschaftlichen Artikeln (5–30 $ pro Stück) galten als Luxus. Die Lektüre neuerer russischer Bücher oder Artikel hatte im Allgemeinen entweder aufgrund der schlechten Qualität oder aufgrund des tendenziösen Inhalts praktisch keinen Sinn.
Parallel dazu mehrte sich das Phänomen der Pseudowissenschaftler mit gefälschten Dissertationen. Manche von ihnen waren in wissenschaftlichen Kreisen und Medien ausgesprochen aktiv und verbreiteten komplett falsche Informationen unter den Medizinern, die aus Sowjetzeiten noch gewohnt waren, den „Doktoren aus der Hauptstadt“ zu vertrauen. Zudem wurde das System der akademischen Grade und Titel in den Augen der Wissenschaftsgemeinde durch gehäuft auftretende dreiste Titelbetrüger faktisch entwertet. Wobei der Doktortitel oder die Habilitation als unabdingbare Voraussetzung dient für den Erhalt von Fördergeldern, für eine Publikation in einer renommierten Zeitschrift oder für die Möglichkeit, Vorträge vor einem Ärztepublikum zu halten.
Die Ausbildung junger Ärzte an den medizinischen Hochschulen und Fakultäten stützte sich in vielem noch auf die Lehrer der alten Garde, die auch unter Krisenbedingungen in der Lage gewesen waren, dem Nachwuchs medizinische Kenntnisse zu vermitteln. Doch die medizinische Wissenschaft entwickelt sich in rasantem Tempo (Innovationen erreichen Russland mit einer Verzögerung von 10 bis 20 Jahren), so dass die Kenntnisse der Lehrer der alten Schule schnell veralteten. Und das betrifft nicht nur die Spitzentechnologien, sondern auch das ganz gewöhnliche ärztliche Tagesgeschäft.
fast keine Praxis mehr in der Ausbildung
Gegenwärtig wird die Situation noch dadurch verschärft, dass man den Kurs verfolgt, Lehre und Behandlungspraxis stark voneinander zu trennen. Der Kontakt der Studenten mit Patienten ist sehr beschränkt, die Ausbildung erfolgt anhand von Modellen und Lehrbüchern in großen Gruppen. Die Fakultätsangehörigen mit der größten Erfahrung, die jahrzehntelang Krankenhausabteilungen betreut haben, werden massenhaft von der praktischen Behandlung der Patienten und der wissenschaftlichen Forschung abgezogen. All das wird mit juristischen Feinheiten begründet und kommt selbstverständlich den Chefärzten der Kliniken zupass, die so an ihren eigenen kleinen Hierarchien basteln können.
Die meisten meiner Kollegen, die an staatlichen medizinischen Einrichtungen geblieben sind, müssen ärztliche Praxis, Forschung sowie Organisation unter einen Hut bringen und dazu noch an der Uni lehren. Die Versorgung der Patienten hat Priorität, da bleibt wegen des Zeitdrucks oft der Unterricht auf der Strecke: Für gewöhnlich überträgt man die Ausbildung Assistenzärzten und Doktoranden, so bekommen auch die schwächsten Studenten ihre Testate. Darum sind die Hochschulabsolventen und glücklichen Besitzer eines Arztdiploms – sofern sie für den Erwerb von Kenntnissen nicht außerordentliche Willenskraft aufgewendet haben – überhaupt nicht in der Lage, selbst die einfachsten Fälle zu behandeln.
Der Mangel an Erfahrung führt bei den Ärzten zu Angst vor neuen Behandlungsmethoden, die man nicht überwinden kann, wenn man keinen Lehrer hat, der einem die Nebenwirkungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung erklärt. In manchen medizinischen Fachgebieten sind Ärzte, die über Expertenwissen zu modernen Technologien verfügen, gänzlich verschwunden. Auch bildet niemand mehr Lehrer aus, geschweige denn die praktischen Ärzte. Die Fortbildungen, die wir alle fünf Jahre besuchen müssen, um unsere Zulassung zu verlängern, sind reine Scheinveranstaltungen. Das Wissen, das man dort vermittelt bekommt, erinnert an das Licht ferner Sterne, das die Erde erst erreicht, nachdem sie längst erloschen sind.
Telemedizin, writing centers und ein neues Akkreditierungssystem könnten helfen
Immerhin: Das russische Gesundheitsministerium scheint den Ernst der Lage durchaus zu erkennen. Der Weg vom Abschluss des Medizinstudiums bis zur Facharztprüfung ist wesentlich länger geworden. Um der Verteidigung minderwertiger Dissertationen vorzubeugen, wurden in den letzten Jahren die Anforderungen durch die Höhere Attestierungskommission stark verschärft. Dies betrifft allerdings im Wesentlichen die Einholung aller möglicher Gutachten und Dokumente, was eine Menge bürokratischer Verzögerungen mit sich bringt, jedoch nicht immer effektiv ist.
Ab 2016 wird statt der bisherigen Abschlüsse für Ärzte ein dem europäischen ähnliches Akkreditierungssystem eingeführt. Es sieht vor, dass sich Ärzte kontinuierlich weiterbilden und durch den Besuch von Lehrgängen und Kongressen sowie durch Publikationen Punkte sammeln können, wodurch sie zu ständiger Wissenserneuerung angeregt werden sollen. Um die Situation grundlegend zu verändern, ist es jedoch notwendig, die medizinische Ausbildung vollkommen umzugestalten. In sie muss investiert werden und nicht in die Anschaffung irgendwelcher Tomographen. Die Gehälter der medizinischen Hochschullehrer sollten mit dem Einkommen eines erfolgreichen Arztes vergleichbar sein. Die Betreuung von Krankenhausstationen und jungen Ärzten in Ausbildung sollte wieder zu einer breiten Praxis werden und zusätzlich entlohnt.
Russische Studenten müssten an den besten medizinischen Hochschulen der Welt studieren (mit der vertraglichen Garantie einer anschließenden Anstellung in Russland). Leitende Oberärzte und Professoren sollten zu Fortbildungszwecken in den besten Kliniken der Welt praktizieren, um hinterher diese Kenntnisse an die Ärzte vor Ort weiterzugeben. Zur Unterstützung russischer Mediziner, die ihre Artikel nicht in westlichen Zeitschriften publizieren können, sollten Schreib- und Übersetzungszentren geschaffen werden (nach dem Vorbild der writing centers an US-amerikanischen Universitäten). Forschern, die es geschafft haben, in einschlägigen westlichen Zeitschriften einen Artikel zu veröffentlichen oder für einen Vortrag bei einer internationalen Konferenz eingeladen werden, sollte der gleiche Respekt entgegengebracht werden wie international erfolgreichen Sportlern. Zumindest sollten sie Förderungen erhalten, die die Reisekosten decken. (Geisteswissenschaftler und Techniker staunen nicht schlecht, dass man als Arzt sämtliche Konferenzreisen aus eigener Tasche zahlt).
An den russischen Universitäten und den großen Kliniken sollten medizinische Fachzeitschriften verfügbar sein, die kostenpflichtige Artikel publizieren. Aktuelle medizinische Kenntnisse an Ärzte, selbst in der entlegensten Provinz, zu „befördern“ ist mittels Telemedizin möglich. Ebenso könnte man auf diese Weise in komplizierten klinischen Situationen schnell und kostengünstig Expertenmeinungen einholen.
Leider wird infolge der allgegenwärtigen Kommerzialisierung des Gesundheitswesens die Arbeitsleistung der praktischen Ärzte zunehmend nicht nach Qualität bewertet, sondern nach der Höhe der für die Abteilung verdienten Geldbeträge und nach Erfüllung rein formaler Kriterien. Deswegen kann es keine wirksamen Maßnahmen zur Verbesserung geben, solange für die Ärzte kein Anreiz zur Erhöhung der eigenen Qualifikation besteht.