Nach Moskau?! Neeee, Blogger Michail Drabkin bereist lieber das unbekannte Russland. Auf der Plattform discours stellt er sein Best-of der schönsten kleinen Städte vor: subjektiv, geschichtsträchtig und fernab der Touristenrouten.
Die meisten meiner kleinen Lieblingsstädte liegen merkwürdigerweise nicht auf dem Goldenen Ring, der eine der wenigen echten Kultur-Tourismus-Routen Russlands darstellt.
Vielleicht ist das aber auch gar nicht merkwürdig – denn touristische Beliebtheit schadet oft der ursprünglichen Atmosphäre einer Stadt. Insbesondere in unserem Land, wo der Massentourist noch nicht gelernt hat, Aspekte wie Authentizität zu schätzen. Und dann oft etwas Grelleres oder Effektvolleres möchte als das Alltagsleben einer kleinen altehrwürdigen Stadt und die Überreste ihres langen Lebens mit ihrem wahren Antlitz.
Vor hundert Jahren – zu dem Zeitpunkt, als sich das architekturhistorische Gesicht der russischen Städte im Großen und Ganzen herausgebildet hatte – waren die Städte im Westen des Landes insgesamt größer, wohlhabender und bevölkerungsreicher als die Städte östlich von Moskau. Trotz alledem liegen mittlerweile alle gut erhaltenen historischen Städte auf dem Längengrad der Hauptstadt oder östlich davon – denn westlich davon verlief der Große Vaterländische Krieg.
Die kleineren Städte hatten besonders stark unter dem Krieg gelitten – sie wurden weniger erbittert verteidigt und später weniger achtsam wiederaufgebaut; das Leben dort war einfacher, aber auch prekärer, die Menschen kehrten nach der Zerstörung und Verwüstung weniger gern dorthin zurück.
Hier nun die drei authentischsten, besterhaltenen, mir herzensliebsten kleinen Städte Russlands. Das Ergebnis von dutzenden Reisen durch Zentralrussland. Wundervolle kleine Städte gibt es mehr als ein Dutzend, die drei, die hier vorgestellt werden, sind die aller-, allertollsten.
Torshok
Torshok ist die schönste Stadt in der Oblast Twer, die insgesamt reich ist an schönen kleine Städten: Kaschin, Beshezk, Stariza, Toropez gibt es da auch noch.
Von den zehn vollständig erhaltenen vorrevolutionären Stadtvierteln, hier der pittoreske Fluss Twerza.
Gebäude, die vor dem 17. Jahrhundert errichtet wurden, gibt es in Torshok nicht. Doch Bauten aus dem 18. und 19. Jahrhundert in dieser Konzentration sind genauso beeindruckend wie altrussische Kirchen und Wohnhäuser.
Praktisch direkt durch die Stadt verläuft die Autostraße Moskau – Sankt Petersburg. Insofern könnte es hier theoretisch mehr als genug Touristen geben. Man müsste sie nur mal herholen.
Kassimow
Kassimow ist eine der wenigen Dutzend Flussstädte, an steilem Ufer über großem Wasser.
Solche Städte gibt es gar nicht mal so sehr im Zentrum des Landes, sondern eher an der Wolga und den großen Flüssen des Wolgabeckens.
Da ist der quadratische Hauptplatz mit Kirche und Handelsreihen und noch die Kaufmannsvillen, doch in Kassimow hat alles auch eine asiatische Note: Im 15. Jahrhundert wurden die Stadt und die umliegenden Ländereien dem tatarischen Zarensohn Kassim geschenkt, als Auszeichnung für wichtige, dem Moskauer Fürsten erwiesene Dienste. So entstanden in der Stadt tatarische Siedlungen und die älteste Moschee in einer nicht-muslimischen Region.
Die Atmosphäre in Kassimow ist auch insofern so besonders, als es weit abgelegen ist von den wichtigen Zentren und Hauptstraßen des Landes.
Die Abgelegenheit in Verbindung mit einer recht guten wirtschaftlichen Lage ließ Kassimow zu einem lokalen Zentrum werden, zu einem Anziehungspunkt für die nord-östlichen Gebiete der Oblast Rjasan.
Gorochowez
Gorochowez ist eine wenig bekannte Stadt zwischen Wladimir und Nishni Nowgorod. Wladimir ist ein traditionelles Zentrum auf dem Goldenen Ring, und Nishni Nowgorod ein in den letzten Jahren an Fahrt aufnehmendes Zentrum des Massentourismus.
Gorochowez dagegen bleibt ein eher lokales touristisches Zentrum, das mehr von Menschen aus Nishni Nowgorod besucht wird. Gorochowez liegt praktisch am östlichen Rand von Zentralrussland. Was die Zahl an altrussischen Bürgerhäusern und Palästen angeht, liegt es mit Moskau und Pskow jedoch ganz weit vorn.
Es ist insgesamt eine recht kleine Stadt, kleiner als Torshok und Kassimow.
Bei den städtebaulichen Umgestaltungen unter Katharina der Großen erhielten praktisch alle russischen Provinz- und Gouvernementsstädtchen ein in Rechtecken angelegtes Straßennetz.
Es gibt sehr wenige Orte, wo die verwinkelte pittoreske mittelalterliche Stadtstruktur erhalten geblieben ist. Einer dieser Orte ist Gorochowez.
Das historische Zentrum unterscheidet sich hier durch extreme Kompaktheit, die Altstadt misst nur 500 mal 500 Meter.
Die Stadt befindet sich genau an dem Ort, wo die Hochebene von Wladimir und Susdal auf den Fluss Kljasma zuläuft. Für die Altstadt blieb nur eine kleine Terrasse zwischen Hügeln und Fluss.
Daher kommt auch eine andere Besonderheit der Stadt: Das Zentrum liegt hier nicht auf einer Anhöhe, wie das in der Rus üblich war, sondern vor allem in einer Niederung, und nur die Ränder laufen den Hang der Hügel hinauf. Die Hügel werden hier natürlich Berge genannt.
Die verhältnismäßig wohlhabende Oblast Wladimir in Verbindung mit der Nähe zu Nishni Nowgorod plus der Lage an der M7 mit ihrem regen Verkehr lassen Gorochowez gepflegter aussehen als Torshok und sogar Kassimow.
Interessant ist, dass alle drei Städte am Rand von Zentralrussland liegen.
Torshok – an der vormaligen Grenze des Nowgoroder Gebiets zu den südlich davon gelegenen Fürstentümern war ein Schlüsselpunkt der historischen Korntransporte in den Norden.
Kassimow war die südöstliche Festung der Wladimirer Rus, zwischen den Wäldern der Meschora am rechten Ufer der Oka und den Mordwinischen Wäldern am linken.
Gorochowez ist auch eine Grenzfestung, und zwar des Fürstentums Wladimir-Susdal, östlich und südöstlich davon lagen bulgarische, mongolisch-tatarische und tatarische Besitzungen.
Alle drei Städte entstanden ungefähr Mitte des 12. Jahrhunderts – damals erlebte die nord-östliche Rus eine Blüteperiode, alle paar Jahre wurden neue Städte gegründet, und schließlich wurde die Hauptstadt der Rus von Kiew nach Wladimir verlegt.
Text und Fotos: Michail Drabkin/discours
Übersetzung: dekoder-Redaktion
Veröffentlicht am 04.07.2019