Wenn in Deutschland über den Kohleausstieg diskutiert wird, dann geht es meistens um Klimaschutz. Und wenn über russische Energieträger diskutiert wird, dann geht es meist um die Abhängigkeit von russischem Gas. Dabei verfehlen beide Diskussionen ein gemeinsames Problem: Rein rechnerisch ist die Abhängigkeit von russischer Steinkohle höher als die von russischem Gas – 39 gegenüber 32 Prozent des jeweiligen Gesamtverbrauchs in Deutschland. Außerdem kommt der Großteil russischer Steinkohle aus der Region Kusbass – und das hat gravierende Folgen für die Umwelt, vor allem im Kusnezker Becken selbst.
2018 und 2019 haben die deutschen Kohlekonzerne Einfuhrrekorde für Steinkohle aus dem Kusbass verzeichnet. Der Rohstoff ist dort so preiswert zu bekommen, wie kaum woanders. Das hat zu tun mit indirekten russischen Subventionen für den Transport, aber unter anderem auch damit, dass der Staat kaum Geld dafür ausgibt, die Umweltfolgen des Tagebaus zu beseitigen.
Diese Folgen sind mittlerweile verheerend, die steigende Zahl der Krebs- und Lungenerkrankungen alarmierend. Takie Dela hat sich in die Region aufgemacht und mit Menschen vor Ort gesprochen.
Im vergangenen Winter fiel in Kisseljowsk in der Oblast Kemerowo schwarzer Schnee. Ein halbes Jahr später wandten sich die Stadtbewohner mit einer Videobotschaft an den Premierminister Kanadas, Justin Trudeau, und den Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres. Sie berichteten von der schlechten Umweltsituation in ihrer Region und baten um Asyl.
In Kisseljowsk leben etwa 90.000 Menschen. In der Stadt und ihrer unmittelbaren Umgebung befinden sich neun Tagebauanlagen. Überall in Kisseljowsk liegt der penetrante Bahnhofsgestank von Teeröl und brennender Kohle in der Luft, als hielte man seine Nase an einen abfahrenden Zug.
Kohlekessel färben weiße Hunde grau
Wir treffen Natalja Subkоwa, Aktivistin und Chefredakteurin der unabhängigen Zeitung Nowosti Kisseljowska, vor einem windschiefen zweistöckigen Gebäude – das ist ihr Haus. Zum letzten Mal sei es in den 1990ern geprüft worden, sagt sie. Schon damals gab es 64 Prozent Verschleiß. Heute weigere sich die Lokalregierung, das Gebäude als nicht bewohnbar einzustufen. Und um ein unabhängiges Gutachten in Auftrag zu geben, fehle das Geld. Im Hof qualmt ein kleines Kohlekesselhaus und färbt alles, einschließlich der ehemals weißen Hunde, grau. Im Erdgeschoss von Nataljas Haus wohnt der Bergarbeiter Ljoscha mit seiner Familie, er ist gerade von der Schicht zurück. Während seine Frau uns die Spuren vom Schimmel zeigt, der sich durch die Wände frisst, sprechen Natalja und Ljoscha über das Belüftungssystem – es funktioniert schon lange nicht.
„Du könntest versuchen, das Ofenrohr von unten zu putzen, damit er besser zieht – dann ist es vielleicht nicht ganz so schlimm“, schlägt Natalja vor.
„Glaubst du, das hätte ich noch nicht?“ Ljoscha gestikuliert heftig mit den rußschwarzen tätowierten Armen. „Wir haben schon zweimal den Schornsteinfeger kommen lassen, damit der alles durchputzt, das hat überhaupt nichts gebracht. Danach ist aus dem Schornstein eine Ratte auf meine Tochter gefallen, ihr direkt auf Kopf! Da fasst man besser nichts an!“
Damit der Schimmel sich wenigstens nicht ausbreitet, raten die Kommunalbehörden, häufiger zu lüften – aber das geht auch nicht: Draußen schwirrt Kohlestaub, und das Haus wird sowieso schon nicht warm. Die Temperatur in den Wohnungen sei in den letzten Jahren stetig gesunken, sagen die Bewohner. Das liege an der schlechten Qualität der Kohle in den Heizkesseln – die schaffe keine Wärme, sondern nur permanente Kopfschmerzen.
Luftverschmutzung, schlechte Wasserqualität, Krebserkrankungen – das alles führen die Umweltspezialisten und die Stadtbewohner auf die Kohleförderung aus dem Tagebau zurück.
Der Wechsel von den Minen zum Tagebau vollzog sich hier in den 1990er Jahren, die Regierung begründet ihn nach wie vor mit der Sicherheit der Bergarbeiter: Beim Tagebau wird niemand verschüttet. Aber das Verfahren zerstört Acker- und Waldflächen: Ganze Landstriche verwandeln sich in Mondlandschaften.
Beim Tagebau wird niemand verschüttet
Im Süden des Kusbass, im Umkreis von Nowokusnezk, gibt es dutzende Tagebaugebiete und Schwerindustrieunternehmen. Hier ist alles in diesen besonderen Smog gehüllt, einen trüben Dunst, der aus den unzähligen Schloten der Kraftwerke, Kohlekessel und Fabriken aufsteigt.
„Zu Sowjetzeiten war der Kusbass ökologisch betrachtet eine der besseren Regionen“, erzählt uns Maxim Utschwatow, der Gründer des Portals Otkryty Gorod [dt. Offene Stadt]. „Die Kohle wurde überwiegend unter Tage gefördert, das verursachte weniger Staub, Tagebau gab es kaum. Die Kohle ging vor allem in den Eigenbedarf der Region: in die Metallindustrie und die Kraftwerke hier in Kusbass. Aber in den letzten zehn Jahren haben sich die Prioritäten verschoben: Mittlerweile fördern wir die Kohle einfach nur und verkaufen sie dann ins Ausland.“
In Wirklichkeit wurden auch in der Sowjetunion Tagebauanlagen errichtet, allerdings nicht in Stadtnähe. Batschatski ist eines davon, es gehört zu den größten Russlands und ist bis heute nicht erschöpft. 1949 eröffnet, gilt sie mittlerweile als eine lokale Sehenswürdigkeit: Die Halden von Batschatski sieht man schon von Weitem, insgesamt erstreckt sich der Tagebau über zehn Kilometer.
Auf dem Grubengrund hätten locker das Hauptgebäude der MGU und einige Hochhäuser aus Moskau City Platz
Wir kämpfen uns durch Schneemassen und Berge von Bauschutt bis zum Grubenrand von Batschatski vor. Die Grube ist fast 300 Meter tief. Auf dem Grund hätten locker das Hauptgebäude der MGU und einige Hochhäuser aus Moskau City Platz. Oben dröhnen und poltern tonnenschwere Muldenkipper und Bagger, im dichten Kohlestaub und Methan wirken sie wie Spielzeugautos.
Die Häuser am Rand der Siedlung sind etwa einen Kilometer von den Abraumhalden entfernt; theoretisch wurde die Schutzzone für solche Objekte also beachtet. Dennoch ist die Siedlung von einer dünnen Kohlestaubschicht überzogen – und die dringt durch jede noch so schmale Ritze in die Häuser, außerdem sind die Sprengungen auf dem Tagebau manchmal so heftig, dass sie anthropogene Erdbeben auslösen. Das bislang stärkste ereignete sich 2013 und lag bei 6,1 Grad auf der Richterskala. Unterirdische Erschütterungen waren sogar in allen benachbarten Regionen spürbar, im Kusbass wurden etwa 5000 Häuser beschädigt. Daran, dass die aktive Seismik in Batschatski menschengemacht ist, zweifeln weder die Wissenschaftler noch die Stadtbewohner. Die Risse in den Häusern sind noch heute zu sehen.
Zurück in Kisseljowsk. Ein aktiver Tagebau qualmt mitten in der Stadt. Doch wir bemerken zunächst nur die schwarz-weißen Berge vom abgebauten Gestein und die BelAZ, die auf ihren Ladeflächen brennende Kohle abtransportieren.
„Der gesundheitsschädlichste Job im Tagebau ist Baggerfahrer“, sagt Natalja. „Die arbeiten ganz unten und atmen bis zu zwölf Stunden lang Methan und Qualm ein, kaum einer von ihnen wird 60. Die BelAZ-Fahrer kommen wenigstens zwischendurch mal hoch und können kurz Luft schnappen, die haben es etwas besser. Mein Mann fährt schon 17 Jahre auf seinem BelAZ , alle staunen, dass er noch so gut aussieht, aber vor kurzem haben auch bei ihm die Bursitiden angefangen, das sind Schleimbeutelentzündungen in den Gelenken. Er hat irrsinnige Schmerzen, aber er arbeitet weiter, was soll man sonst machen?“
Natalja führt uns in eine graue Sackgasse, an deren Ende allmählich eine große Schutthalde ansteigt: ein altes Grubenfeld. In den 2000er Jahren wurden die Stollen aufgegeben und die obere Erdschicht teilweise direkt freigelegt, um an die Kohlevorkommen zu gelangen. Die Einheimischen sagen, das gängige Verfahren, die Tagebauanlagen freizulegen, geht heute so: Die obere Schicht wird weggesprengt, den Rest besorgen dann die Bagger und Muldenkipper, und das, bis alle Schichten verwertet sind.
„Hier kommt man an den Grubenhang von Fukushima, so nennen wir diesen Abschnitt“, erzählt Natalja. „Aber seien Sie vorsichtig, ein falscher Schritt und Sie stürzen rund hundert Meter in die Tiefe – da findet man Sie so schnell nicht wieder.“
Der Tod ist hier eine Erlösung
Am Abhang von Fukushima eröffnet sich die Aussicht auf ein schwarzes Loch mit einem Durchmesser von zwei Kilometern, dessen Grund vor lauter Qualm, Staub und Gasen kaum auszumachen ist. Das Atmen fällt schon hier schwer, nicht auszudenken, wie es unten sein muss, wo die roten Bagger ständig neue Kohle auf die Tragflächen der Muldenkipper hieven.
„Der Tod ist hier eine Erlösung“, sagt Natalja. „Das ist doch nicht normal!“
Im Frühling 2019 bemerkten die Stadtbewohner zum ersten Mal Rauch über Parnikowka im Bezirk Kisseljowsk, wo sich die angeblich geflutete Sohle des Schachts Kisseljowskaja befindet. Sie wandten sich an alle Instanzen: von der Lokalverwaltung bis hin zur UNO, denn mit einem unterirdischen Brand selbst fertigzuwerden, ist nicht möglich.
„Anfangs hieß es, da brenne eine illegale Mülldeponie. Dann hat man das Ganze mit Baggern freigelegt und es wurde noch schlimmer“, erinnert sich Witali, der 100 Meter von dem Gelände entfernt wohnt. „Am Ende hat man immerhin Löcher in die Erde gebohrt, flüssigen Stickstoff und dann Wasser reingekippt und alles mit Lehm abgedichtet, aber unter der Erde brennt es trotzdem weiter.“
Witali ist einer der Verfasser jener Videobotschaft, er erzählt uns, danach hätte jemand das Haus gegenüber in Brand gesteckt. „Entweder haben die sich geirrt oder sie wollten mir nur Angst einjagen, es ist jedenfalls nochmal gutgegangen. Ich habe mir jetzt eine Kamera am Fenster installiert, da kommt keiner so leicht ans Haus.“
Anfangs hieß es, da brenne eine illegale Mülldeponie
Wir gehen auf das Gelände, das trotz Frost irgendwie seltsam aussieht: Der Schnee bildet kleine Höcker, stellenweise sind schwarze Erde und Lehm zu sehen, die wegen der unterirdischen Hitze auch bei minus zehn Grad noch weich sind. Wenn man eine Handvoll nimmt, tritt sofort Wasser aus.
Plötzlich kommt ein lauter Knall vom nächstgelegenen Tagebau. Die Einheimischen drehen sich nicht einmal um – die nächste Schicht wird weggesprengt, sie sind es gewohnt.
Siedelt doch die Leute um, dann könnt ihr euch da meinetwegen blöde graben
„Wir sind ja alle keine Kinder, wir sind nicht blöd, uns ist schon klar, dass die Kohle gefördert werden muss. Mein Vater arbeitet auf dem Tagebau da drüben“, Witali deutet mit der Zigarette in die Richtung, aus der es eben geknallt hat. „Auch die junge Frau, die in dem Video die Erklärung verliest, arbeitet auf einem Tagebau, aber sie hatte keine Angst, an die Öffentlichkeit zu gehen. Wir verstehen alles, aber so kann man nicht leben. Natürlich soll der Tagebau in Betrieb bleiben, aber siedelt doch die Leute um, dann könnt ihr euch da meinetwegen blöde graben.“
In Kisseljowsk, das kreuz und quer von Steinbrüchen durchfurcht ist, arbeitet der Großteil der Bevölkerung in der Bergbauindustrie, deswegen fordern die Leute auch keine Schließung der Unternehmen, sondern vor allem die Einhaltung der Umweltstandards und der Arbeitsrechte der Bergarbeiter.
„Das Leben der Leute hier könnte so viel besser sein, wenn sich die Kohleunternehmen an die Umweltstandards halten würden“, sagt Maxim Utschwatow. „Aber solange alle nur ihren Profit im Kopf haben, wird sich nichts ändern, die Lage wird sich nur verschlimmern.“
Auf unserer Rückfahrt kommen wir an der Verladestelle vorbei. Wir sehen Häuserfassaden – so schwarz wie die hier abgebaute Kohle. Graue Hunde bellen uns hinterher. Am Straßenrand stehen nachdenkliche Kinder, deren Wangenröte mit Kohlestaub verdeckt ist.
Quelle: Takie Dela
Übersetzung: Maria Rajer
Erschienen am 18.02.2020