Das Großaufgebot russischer Truppen und schweren Kriegsgeräts an der Grenze zur Ukraine hatte „internationale Besorgnis“ ausgelöst. Was soll das russische Säbelrasseln: Nur Muskelspiele oder droht gar ein weiterer Krieg? Die USA sagten der Ukraine Unterstützung zu und forderten Moskau zur Deeskalation auf. Der ukrainische Präsident Selensky drang außerdem auf einen Aktionsplan für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine.
Nachdem Biden Putin angerufen hatte und einen gemeinsamen Gipfel vorschlug, verhängten die USA tags drauf neue Sanktionen gegen Russland – unter anderem wegen des SolarWinds-Cyberangriffs. Putin ging in seiner Rede zur Lage der Nation am 21. April auf die Situation an der Grenze zur Ukraine nicht ein, warnte stattdessen den Westen, gewisse „rote Linien“ nicht zu überschreiten. Verteidigungsminister Sergej Schoigu allerdings gab am 22. April den Rückzug der russischen Truppen bekannt. Danach informierte das russische Außenministerium wiederum über Pläne, eine „Liste unfreundlicher Staaten“ einzuführen, die USA soll auf dieser Liste stehen, so Außenamtssprecherin Sacharowa.
Kriegsgefahr gebannt? Alles wieder gut? Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa ist weniger optimistisch und analysiert auf Facebook den „Tango“, den Biden und Putin tanzen: „Moskau in die Schranken weisen und gleichzeitig kooperieren: Dieses Geschaukel endet jedes Mal mit einer Eskalation“, warnt sie.
Es scheint, als sei der Krieg aufs nächste Mal verschoben. Doch die jüngste Eskalation der Spannungen entlang der Linie zwischen Russland und dem Westen verdeutlicht eine beunruhigende Dynamik.
Erstens: Russland ist bereit, das Schachbrett der Weltordnung vom Tisch zu fegen. Als Anlass könnte bereits ausreichen, dass der Kreml sich beleidigt fühlt oder den Verdacht hegt, man könne ihn ignorieren. Allein die Drohung, das Brett vom Tisch zu werfen, wirkt, weil sie beim erpressten Objekt Verunsicherung hervorruft.
Zweitens: Der Westen hat es versäumt, eine Antwort zu finden, wenn er von Russland herausgefordert wird. Bislang versuchen die liberalen Demokratien den Kreml mit einer zweigleisigen Taktik zu beschwichtigen. Kurz gesagt, mit einer Kombination zweier sich ausschließender Prinzipien: Eindämmung und Dialog.
Eindämmung und Dialog
Diese Zweigleisigkeit ist eine Reaktion auf das Phänomen, das Russland mittlerweile darstellt: Einerseits ist Russland ein Gegenspieler der liberalen Demokratien. Andererseits ist es in für den Westen lebenswichtige Prozesse eingebunden und teilweise in den Westen integriert (durch die dort verkehrenden Privatiers und die Mitgliedschaft in europäischen Institutionen).
Besonders schwer hat es da Europa. Wie soll Brüssel einen Staat mit Sanktionen belegen, der Mitglied des Europarats ist? Wie soll es einen Handelspartner bestrafen? Also beschränkt sich die EU gezwungenermaßen darauf, „Besorgnis“ zu äußern angesichts der russischen Schachzüge, die es mittlerweile zu Hauf gibt.
Nawalnys drohender Tod ist für Brüssel kein Anlass für Sanktionen
Aus der Unvereinbarkeit von Eindämmung und Dialog erwachsen weitere Probleme: Die liberalen Demokratien sind zum Beispiel nicht in der Lage, einen Mechanismus zu schaffen, der den feindlichen Handlungen Moskaus zuvorkommt. Die EU hatte nie vor, wegen der russischen Eskalation an der ukrainischen Grenze Sanktionen einführen. Erst, wenn Russland die Grenze überschritten hätte, hätte Brüssel über solche Schritte nachgedacht. Wenn Nawalny nicht bis zum Ende des Monats freikommt, will der Europarat über ein Aussetzen der russischen Mitgliedschaft nachdenken. Doch sein drohender Tod ist in Brüssel kein Anlass für Sanktionen.
Der Westen kann keine roten Linien für die Zukunft ziehen, deren Übertretung durch Russland dann eine Reaktion erfordert. Er kann kein Preisschild an etwas drankleben, das noch nicht passiert ist. Wenn der Westen die Sanktionsmaschine anwirft, dann reagiert er damit auf bereits Geschehenes. Und hofft darauf, dass Moskau den Preis für die Risiken versteht. Aber das Verständnis für die Risiken und deren Preise geht in Moskau und den westlichen Regierungen auseinander. Für den Kreml ist Risikobereitschaft vielleicht das einzige Mittel, sein Ziel zu erreichen.
Väterlicher Klaps auf den Hintern
Nun haben die USA direkt die Initiative ergriffen, um auf Russlands Sünden an den USA zu reagieren, auf die Eskalation an der ukrainischen Grenze und auch auf Nawalny. Die Reaktion ist eben jene Zweigleisigkeit. Washington geht offenbar davon aus, dass seine Ankündigungen den Preis für die russische Eskalation ebenfalls eskalieren zu lassen, diesmal in Moskau Gehör finden.
Vielleicht kündigen die Amerikaner im informellen Austausch an, notfalls harte Maßnahmen zu ergreifen. Aber die Sanktionen, die Biden öffentlich nennt, wirken eher wie ein väterlicher Klaps auf den Hintern.
Biden will eindeutig keine Konfrontation mit Russland. Es geht ihm nicht darum, Putin in die Knie zu zwingen. Er brennt nicht darauf, die russische Wirtschaft zu zerstören oder einen Rachefeldzug gegen Putins engsten Kreis zu starten.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Weiße Haus erkannt hat, dass es unmöglich ist, den Kreml zu zwingen, seine Denkweise und sein Weltbild zu ändern. Folglich muss es einen Weg finden, mit einem gefährlichen Spieler zu koexistieren, bei dem jederzeit das Weimar-Syndrom auftreten kann.
Biden will, wie er es selbst formulierte, einen „Modus vivendi“. Man kann Washington verstehen. Den USA steht der Weg aus einer innenpolitischen Krise bevor. Die USA müssen sich aus Afghanistan zurückziehen – eine für sie dramatische Aufgabe. Sie müssen eine Antwort auf ihre größte Herausforderung finden – China. Zu diesen Kopfschmerzen kommen der Iran und Nordkorea. Deshalb ist es Biden wichtig, das Thema Russland einzufrieren.
Sie werden sich wohl nicht gegenseitig mit Schuhen bewerfen
Kurz gesagt, Biden hat sich für eine Beschwichtigungstaktik mit Elementen der Eindämmung entschieden (die sich im Anfangsstadium befindet). Infolgedessen beobachten wir ein surreales Szenario: Vertreter der amerikanischen Regierung kündigen an, dass es den Kreml teuer zu stehen kommt, wenn Moskau das Schachbrett weiter herumschwenkt. Gleichzeitig bereiten die Repräsentanten beider Präsidenten ein Treffen vor, bei dem sich die Staatsmänner aller Voraussicht nach nicht gegenseitig mit Schuhen bewerfen werden. Putin spricht auf einem von Biden organisierten Klimagipfel. Moskau schlägt Washington vor, den Dialog zur Abwehr von Cyberattacken wieder aufzunehmen. Fast ein Neustart!
Der Kreml hat sein Ziel erreicht – er hat Amerika gezwungen, ihm zuzuhören und ein Angebot zu machen. Es geht nicht mal so sehr um Putins persönliche Ambitionen. Sondern darum, dass Russland von den USA abhängig ist – als Achse seiner Legitimität.
Man könnte einwenden: Stimmt gar nicht! Die USA haben ihre Führungsrolle eingebüßt, jetzt ist China für Moskau viel wichtiger. Mhm, ja klar, Russland hat seine Truppen an der ukrainischen Grenze zusammengezogen, um die Aufmerksamkeit Pekings zu erregen.
Der Kreml hat sein Ziel erreicht – er hat Amerika gezwungen, ihm zuzuhören und ein Angebot zu machen
Aber was bekommt Biden, wenn er Putin einen Dialog anbietet? Die schmerzlosen amerikanischen Sanktionen könnten im Kreml den Eindruck erwecken, Amerika sei unentschlossen. Und das könnte den Kreml zu neuen Manövern veranlassen. Abgesehen davon versteht Putin unter einem Status quo in der Ukraine etwas anderes als die Ukraine selbst oder die westlichen Staaten. Wie soll man unter diesen Umständen einen Modus vivendi erreichen? Fragen über Fragen …
Währenddessen hat der Kreml sein Ziel erreicht und nimmt den Druck raus. Denn auch das ist eine Demonstration der Macht – die Kontrolle über den Zünder zu behalten. Putin hat dem Westen ja angekündigt, dass er den Verlauf der „roten Linie“ bestimmen wird.
Tatsächlich hat der Kreml eine weitere Möglichkeit, dem Westen zu antworten – indem er die unzufriedenen Russen niederwalzt. Wenn das mal nicht scharfsinnig ist: die russische Gesellschaft zu zwingen, für die westlichen Belehrungen zu bezahlen.
Geschaukel endet mit Eskalation
Und was weiter? Wir sollten bedenken: Biden ist nicht der erste US-Präsident, der versucht, eine zweigleisige Politik gegenüber Russland zu fahren – Moskau in die Schranken zu weisen und gleichzeitig zu kooperieren. Dieses Geschaukel endete jedes Mal mit einer Eskalation. Denn die Unvereinbarkeit der systemischen Prinzipien ist am Ende stärker als die gemeinsamen Interessen.
Sollten die Möglichkeiten der Einflussnahme schwinden, wird sich der Kreml immer mehr auf die Instrumente der Gewaltausübung verlassen müssen – im Inneren wie im Äußeren. Nicht einmal aufgrund einer Lust an Gewalt, sondern in Ermangelung anderer Überzeugungsmittel.
Vermutlich wird der Dialog zwischen Russland und dem Westen auch diesmal mit einem kalten Regenschauer enden. Aber jeder neue Fehlschlag wird die Risiken erhöhen, indem er die Eskalation auf eine neue Stufe treibt und den Preis erhöht, den man dafür bezahlen muss.
Genau deshalb ist die Zukunft beunruhigend. Und die kurzen Lichtblicke sollte man nicht mit einem Wetterumschwung verwechseln.
PS: Jetzt wurde Tschechien zum Testfeld für die Effektivität der westlichen Zweigleisigkeit und vor allem der europäischen Solidarität.