Im zweiten Jahr des russischen Angriffskrieges fiel nicht nur die Gegenoffensive der Ukraine enttäuschend aus. Auch unter den Unterstützern Kyjiws bröckeln die Einheit und die Entschlossenheit. Dazu habe auch der neue Krieg im Nahen Osten beigetragen, argumentiert Alexander Baunow von der Carnegie-Stiftung. Kriegsgegner in Russland und außerhalb würden einander zunehmend fremd.
Panzersperren vor der „Mutter Ukraine“ in Kyjiw. Die Statue wurde 1981 in der Sowjetunion als „Mutter Heimat“ errichtet und 2023 umbenannt / Foto: © IMAGO, EST&OST
Das Jahr 2023 ist zum Jahr der großen Relativierung geworden. Im Frühling, Sommer, Herbst und Winter 2022 erlebte Europa einen Schock: Russland, das größte und militärisch stärkste Land des Kontinents, ist tatsächlich fähig, genau wie es die heutigen Erwachsenen als Kinder erzählt bekamen, einfach so, ohne jeden Vorwand, Panzer, Raketen und Kampfjets über die Grenze zu schicken, Städte zu bombardieren und unter Beschuss zu nehmen, Gebiete zu erobern und zu annektieren, um den Lebensraum für das eigene ungerechtfertigt gekränkte Volk zu vergrößern, und seine Politiker können reden wie wahnsinnig gewordene Diktatoren aus historischen Kinofilmen.
Ganz Europa erfasste das Gefühl: Das ist ein Angriff auf uns alle. Sogar in Russland selbst war diese Gefühl verbreitet. Ukrainische Flaggen wurden gehisst, wo früher nicht einmal Nationalfahnen hingen – an Museen und Theatern, an europäischen Botschaften in fremden Hauptstädten, an Baustellen und Autobahnraststätten. Ukrainischen Staatsbürgern standen die Grenzen offen wie niemandem je zuvor – ohne Einschränkungen, ohne dass sie einen Aufenthaltstitel beantragen mussten, sogar mit einer Arbeitserlaubnis in jeder beliebigen Branche.
Schließlich hatte genau jene Armee angegriffen, deren Manöver man jahrzehntelang gefürchtet und von der man gesagt hatte, dass ihr Marsch auf europäische Hauptstädte auch ohne Atomwaffen nur wenige Tage dauern würde. Und sie benahm sich stellenweise noch grausamer, als man es von ihr erwartet hatte. Der Einsatz von Bodentruppen eines europäischen Staates gegen sein Nachbarland löste schon für sich genommen einen Schock aus, doch der Anblick zerstörter Städte, von Menschen, die sich bei Kerzenlicht in den Metrostationen drängten, von Gräbern in den Innenhöfen von Wohnblocks mit Namensschildern aus Pappe übertraf alle Filme und Serien, die je von einem Einmarsch der Russen gehandelt hatten.
Die augenblickliche Identifizierung mit den Opfern motivierte zu entschlossenem Handeln. Sanktionen in Handel, Finanzwirtschaft und Verkehr, die vor dem Einmarsch noch sehr unwillig und nur als äußerste und hypothetische Maßnahmen diskutiert wurden – der Ausschluss aus Zahlungssystemen, die Einstellung des Flugverkehrs, das Einfrieren von Vermögen, ein Embargo, das der eigenen Wirtschaft schadet –, wurden mit einer Geschwindigkeit beschlossen, die alle überraschte. Als die ukrainischen Streitkräfte überraschend hartnäckig Widerstand leisteten, flossen finanzielle und militärische Hilfen in die Ukraine, deren Dimensionen man vor dem Krieg nicht annähernd in Betracht gezogen hatte.
Nach mittlerweile knapp zwei Jahren hat diese Anteilnahme ihre Intensität verloren. Europa und Amerika sehen die Ukraine zwar noch immer als Opfer, das Hilfe und Mitleid verdient, die US- und EU-Bürger fühlen sich jedoch selbst nicht mehr unmittelbar bedroht. Ein Verbündeter wurde angegriffen, ein Protegé, aber nicht sie selbst. Nicht, dass sie von Russland sofort den Anfang des Dritten Weltkriegs erwartet hätten, aber die Verschiebung wichtiger politischer und moralischer Grenzen deutete auf seinen möglichen Ausbruch hin und ließ einen schnellen Verlauf befürchten. Doch er blieb aus.
Die Stärke des ukrainischen Widerstands hat erst überrascht. Dann führte sie dazu, dass man sich im Westen entspannte
Auf paradoxe Weise spielte die Stärke des ukrainischen Widerstands, die entscheidende Erfolge für Russland verhinderte, zumindest in einer Hinsicht gegen die Ukraine: In Europa und Amerika entspannte man sich wieder. Die Russen sind einmarschiert und sie marschieren weiter, aber man weiß jetzt, dass sie noch lange nicht ankommen werden, vielleicht auch nie. Was wie der Anfang eines Dritten Weltkriegs aussah, entpuppte sich als zweiter Jugoslawienkrieg – wieder ein lokaler Konflikt an der europäischen Peripherie, der mit dem Zerfall eines verspätet sterbenden autoritären Imperiums zu tun hat und mit dem man sich schwer identifizieren kann.
Es kam zu einer Entfremdung, zu seiner teilweisen Verdrängung aus dem eigenen Alltag/Erleben/Leben. Die ukrainischen Flaggen werden weniger, mancherorts sieht man bereits mehr palästinensische, und an Solidaritätskundgebungen mit der Ukraine nehmen immer weniger Menschen teil. Die These von der praktisch vollständigen Identifikation mit dem Opfer wurde von der Antithese der Entfremdung und Verdrängung des Kriegs an die Peripherie abgelöst.
Nach dem Schema These und Antithese: Die praktisch vollständige Identifikation mit dem Opfer wurde von der Entfremdung und Verdrängung des Kriegs an die Peripherie abgelöst.
Der erste Auftritt Selenskys vor einem fremden Parlament beeindruckte. Mit jedem weiteren Auftritt nimmt die Wirkung ab
Genauso wie der gesamte Krieg hat auch das Image von Präsident Selensky eine Relativierung erfahren. Dadurch, dass der Krieg so langsam, so weit weg und so fremd geworden ist, hat sich das Bild verändert, das die Welt von Selensky hat. So wie der Krieg ist er [dem Westen – dek.] fremd geworden, ein eigenartiger, peripherer Held. Ein Held – durchaus, aber keiner, der „zu uns gehört“.
Eine Heldentat ist immer leichter zu begreifen, wenn es sich um ein einmaliges Ereignis handelt. Klassische Tragödien sind rund um einmalige Heldentaten konstruiert. Der Präsident des Landes, das sich so tapfer verteidigt, verlässt unter Kugelhagel die Hauptstadt, um in Felduniform in einem ausländischen Parlament aufzutreten, wo er tosenden Applaus erntet und widerstandslos ein Hilfspaket entgegennimmt. Beim ersten Mal. Beim zweiten, dritten und vierten Mal ist es schwieriger, denselben Effekt zu erzielen.
Wahlen zu gewinnen ist einfacher, als populär zu bleiben. Selensky verschwindet allmählich von den Titelblättern. Das unangenehme Bild des russischen Präsidenten in einem normalen Anzug erscheint weltweit dem Normalbürger auf einmal doch geläufiger als das angespannte, heroische Image Selenskys, der allein durch seinen Anblick eine emotionale Reaktion einfordert, zu der immer mehr die Kraft fehlt – Spannung hält man ja nicht so lange aus.
Die Abkühlung im Außen hat die Situation im Inneren angeheizt. In die ukrainische Politik ist die gewohnte (und ganz natürliche) Konkurrenz zurückgekehrt, und damit einhergehend der Verdacht, dass der aktuelle Held womöglich nicht der Einzige ist, dass an seiner Stelle ein anderer stehen könnte, und wer weiß, vielleicht sogar ein noch tapfererer.
Der Heroismus des Staatsoberhaupts birgt noch einen weiteren gefährlichen Aspekt: Mit seiner eigenen Heldenhaftigkeit verlangt er auch von anderen Heldentum. Als Zielscheibe Nummer eins sieht er jedoch, anders als die Könige im Mittelalter, davon ab, seiner Truppe vorauszugaloppieren oder in einem Baldachin über dem Schlachtfeld zu thronen. Vom beherzten Retter ist er zu einem geworden, der andere in den Tod schickt.
Die Stabilisierung des Bösen
Der Stillstand an der Front schwächt die Argumente jener, die dazu aufrufen, die Aggression durch entschiedenes Handeln zu stoppen. Immerhin hat die Aggression ja quasi von selbst nachgelassen.
Putins Truppen sind nur zu lokalen Offensiven in der Lage, die die Front fast nicht verschieben. Auch die Ukraine verteidigt sich derzeit eher, als Land zu befreien. In Moskau will man keine Mobilmachung, man hofft einfach, dass der Ukraine bald die Soldaten für die Verteidigung ausgehen, und dann reichen die russischen für den Angriff.
Als klar wurde, dass ein verpatzter Anfang nicht automatisch ein verpatztes Ende bedeuten muss, ist Putin regelrecht aufgeblüht. Nachdem er selbst mutwillig die Stabilität zerstört hat, derer er sich früher rühmte, ist eine neue Form der Stabilität auf den Trümmern der alten entstanden. In diesem neuen Gleichgewicht spielen dieselben Gruppen eine Rolle. Es bringt sowohl Neues als auch unwiderbringliche Verluste, aber es hält. Die Antwort auf die Frage, wie lange Russland noch Krieg führen kann, bleibt unterdessen vage: Solange es muss, kann es auch.
Man könnte meinen, die russische Wirtschaft sei aufgrund der enormen Militärausgaben überhitzt, sie leide unter hoher Inflation und einem Mangel an Technologien, die Zinsen der Zentralbank seien höher als je zuvor. Doch nicht einmal hier denkt jemand an die „Sanktionen aus der Hölle“, die so schlimm geklungen hatten. Das Verbot von Überweisungen an ausländische Banken und internationale Börsen provozierte einen Boom von Investitionen im Inland: Geld einfach auf dem Konto liegen zu haben, ist in Zeiten extrem hoher Kriegssteuern zu riskant. Staatliche und private Rüstungsinvestitionen brachten 2023 ein Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent, die verarbeitende Industrie verzeichnete ein Wachstum von 7,4 Prozent, und ganz nebenbei glich sich das Gefälle zwischen armen und reichen Regionen aus.
Während sich die Russen, die dem Krieg entflohen, mit der Eröffnung von Bankkonten herumschlugen, konnte Russland dank der Form der Sanktionen mit dem Verkauf von Gas nach Europa 200 Milliarden Dollar zusätzlich einnehmen. Und russisches Erdöl, das an Bord eines nicht versicherten Tanker eines Zwischenhändlers einen russischen Hafen verlässt, wird zum internationalen Produkt und, wenn auch mit Preisnachlass, auch von westlichen Verbrauchern bezahlt. Die Frage, die alle quälte, ob denn das gewohnte Leben mit dem Krieg vereinbar sei, wurde positiv beantwortet – in Russland wie im Rest der Welt.
Der moralische Schock, den die Bevölkerung westlicher Länder beim Anblick der zerstörten zwar ost-, aber doch europäischen Städte erlebte, konnte Gesellschaften in weiterer Entfernung von Europa nicht erfassen. Für sie sind getötete Ukrainer ungefähr so wie für den westlichen Durchschnittsbürger getötete Afghanen: relativ ferne Opfer. Auch die Sanktionen werden nicht von allen mitgetragen. Tiefgreifende und flächendeckende sekundäre Sanktionen des Westens gegen Drittländer sähen aus wie ein Wirtschaftskrieg gegen Entwicklungsländer und sind somit undenkbar.
Durch die relativ geringe Intensität des Kriegs und Putins bevorstehende Wiederwahl als Präsident mit breiter Unterstützung führt kein Weg an einer langfristigen Nachbarschaft mit einer neuen, übleren Version von Russland vorbei. Es kehrt die Idee zurück, dass man mit Russland – egal in welcher Version – ein Auskommen finden muss, und damit wird die Krieg führende Diktatur durch internationale Kontakte sowohl im Osten als auch im Westen legitimiert werden.
Wenn diese Kontakte zum Westen wieder aufgenommen werden, dann werden die Sanktionen angesichts der russischen Staatseinnahmen in internationalen Handelsgeschäften wie eine Bestrafung einzelner Bürger wirken – sie treffen diejenigen, die man eben erwischen kann. Wobei es doch auch in solchen Fällen üblich ist, dass die Bürger mit dem Staat gemeinsam leiden und nicht an seiner statt. Und keiner hat eine Antwort auf so verfluchte Fragen wie: Was, wenn in Russland aufgrund der fehlenden technischen Wartung ein Passagierflugzeug abstürzt?
Die gleichzeitige Unterstützung Israels und der Ukraine ist weniger widersprüchlich, als Kritiker behaupten. Es geht hier weniger um Kriegsgegner, die auf einmal zu Kriegsbefürwortern geworden sind (allerdings trifft das längst nicht auf alle zu), sondern um Menschen, die in beiden Konflikten jeweils die Seite unterstützen, die trotz all ihrer himmelschreienden Unvollkommenheiten Zivilisationen westlichen Typs repräsentiert. Darüber hinaus sind, wenn man die alles verkomplizierenden Vorgeschichten außer Acht lässt, beide Kriege eine Reaktion auf Aggression.
Israels Krieg gegen Gaza hat den proukrainischen Konsens zerschlagen
Dennoch hat der Krieg Israels gegen Gaza die Kräfte der Bündnispartner der Ukraine zerstreut, die weltweite Aufmerksamkeit abgezogen und den proukrainischen Konsens zerschlagen. Jene, die sich einig waren über die Verurteilung Russlands und die Unterstützung der Ukraine, sind sich über Israel und Palästina in die Haare geraten und werfen einander vor, die falsche Meinung zu vertreten. Die angespannte Diskussion über den neuen Konflikt hat Anlass zum Zweifel gegeben, ob es nicht auch bezüglich Russland und Ukraine sein kann, dass keiner vorbehaltlos recht hat.
Der Nahostkrieg hat den in der Ukraine nicht nur von den Titelblättern verdrängt. Legt man die beiden Konflikte übereinander, dann stimmen bei gewissen Fragen die Konturen nicht überein: bei der Annexion von Territorium, der Fremdverwaltung von dessen Bevölkerung, bei zivilen Opfern im Zuge von Kampfhandlungen. Der Vergleich mit Israel ist gerade da unvorteilhaft für Kyjiw, wo man Länder abseits des Westens davon überzeugen will, die Ukraine zu unterstützen.
Russland ist es gelungen, die Welt in jene zu spalten, die den Einmarsch in die Ukraine als eigenes Drama erlebt haben, und jene, die gleichgültig blieben. Für die einen geht es hier um Fragen der allgemeinmenschlichen Moral, für die anderen um ganz normale Geopolitik wie eh und je und überall. Zu Letzteren zählen die meisten nicht westlichen Länder, und der Nahostkonflikt machte es ihnen leichter, bei ihrer Meinung zu bleiben. Die Antwort auf die Frage, „ob man leben kann, wenn nebenan Krieg ist“, fiel positiv aus – sowohl für die meisten Menschen als auch für die meisten Staaten. Es geht, sogar wenn es zwei Kriege sind.
2022 schien es, als sei mit einem Mal die große Klarheit ausgebrochen. Eineinhalb Jahre später bildet diese Klarheit keine tragende Basis mehr
Vor einem Jahr schien es, als sei die große Klarheit ausgebrochen. Der Krieg zerstörte Leben, vernichtete Pläne, entriss vielen ihr Zuhause, lieferte dafür eine unerschütterliche moralische Stütze und ein maximal belastbares Fundament für eine neue Einigkeit über unwichtig gewordene Unterschiede hinweg. Zuvor war die Möglichkeit einer solchen Einigkeit unklar, unter anderem aufgrund unterschiedlicher Ideen, mit der perfiden Diktatur zu koexistieren, die trügerische Hoffnungen nährte. Die Ablehnung des Kriegs brachte die verschiedensten Menschen mit unterschiedlichsten Erfahrungen zusammen, und es sah so aus, als würde dieses sie verbindende Wichtige nie mehr verschwinden.
Eineinhalb Jahre später ist diese Klarheit vielleicht auf individueller Ebene noch da, bildet jedoch keine einende Grundlage mehr. Die gemeinsame moralische Basis gleicht mittlerweile einem zerbrochenen Spiegel, in dem jede Scherbe zwar dasselbe widerspiegelt, aber jeweils für sich. Die Ablehnung des Kriegs wurde vom Maß aller Dinge zu einer Meinung, die man je nach Lebenslauf, Wohnort, Umfeld und sogar Staatsbürgerschaft annimmt oder auch nicht.
Russische Kriegsgegner werden in Kyjiw nicht mehr als Verbündete gesehen
Von der spontanen, intuitiv richtigen Geste, russische Kriegsgegner automatisch als Verbündete zu sehen – wie Selensky es tat, indem er für eines seiner ersten Interviews russische Journalisten einlud –, ist ein beachtlicher Teil der ukrainischen Gesellschaft dazu übergegangen, eine solche Verbundenheit gar nicht erst für möglich zu halten, und ein Teil der russischen Gesellschaft folgte. Andere wiederum schotteten sich ganz ab: Na gut, dann müsst ihr es eben ohne uns schaffen.
In beiden Fällen geht es nicht um alle, vielleicht nicht einmal um die Mehrheit, doch allein das Aufkommen solcher Ideen reichte aus, um ein eventuelles ukrainisch-russisches Bündnis gegen den Krieg im Keim zu ersticken. Aus Angst davor, die Opfer des Angriffs zu verletzen, begannen viele im Westen, sich von Gleichgesinnten in Russland abzugrenzen. Die eine, absolute Ablehnung von Krieg und Diktatur hat sich in mehrere relative verwandelt.
Wenn die vorbehaltlose Verurteilung der Aggression als einziges Kriterium, das unter den neuen Bedingungen zählt, in Zweifel gezogen wird, wird automatisch auch das Neue und Einzigartige dieser Bedingungen in Zweifel gezogen. Und somit wird die aktuelle Aggression relativiert: „Der Krieg hat bereits 2014 begonnen, wo wart ihr damals? Wir kannten Putin doch genau, Russland hat sich immer so verhalten und so weiter. Und wenn es schon immer so war, gibt es auch keinen Grund, sich jetzt aufzuregen.
Das zum Schweigen verurteilte Russland empfand lange Zeit Dankbarkeit, dass einige ihr Zuhause aufgaben, um vom Ausland aus ihre Stimme zu erheben
Die grenzübergreifende Einheit der Kriegsgegner begann ab Mitte September 2022 zu bröckeln und setzte dies das ganze Jahr 2023 auch innerhalb der russischen Gesellschaft fort. Viele Monate nach Kriegsbeginn empfand das auf sich selbst zurückgeworfene und zum Schweigen verurteilte Russland so etwas wie Anerkennung jenen gegenüber, die ihr Zuhause aufgaben, um einer zum damaligen Zeitpunkt allgemeinen Stimmung Ausdruck zu verleihen. Auf diese Haltung – danke, dass ihr sprecht und schreibt, ihr rettet unsere Würde – trifft man jetzt seltener.
Die Lage ist so gut wie aussichtslos. Die freie Presse und generell das intellektuelle öffentliche Leben konnten nach Kriegsbeginn in Russland nicht in bisheriger Form weitergehen. Und außerhalb der Staatsgrenzen hörten sie mit der Zeit auf, jene zu repräsentieren, die im Land geblieben sind. Das liegt nicht nur an Internet-Sperren und auch nicht am unterschiedlichen Alltag. Innerhalb Russlands bildet sich schrittweise eine neue Sprache heraus, eine neue Art, über schmerzhafte Themen zu sprechen, neue Modi, mit anderen Worten und anderen Intonationen seinen Widerspruch zu markieren. Die innere und die äußere Sprache sind nicht komplett unterschiedlich, aber auch nicht komplett gleich. Dass man also in verschiedenen Sprachen vom selben sprechen wird, scheint unausweichlich.
Gegen Ende des zweiten Kriegsjahres ist die Trennung der beiden russischen Gesellschaften diesseits und jenseits der russischen Staatsgrenze abgeschlossen. Die Macht und Bedeutung von Statements gegen den Krieg hat sich indessen ebenfalls abgenutzt. Im Frühling und Sommer 2022 war jedes Wort, jedes Interview maßgeblich und dreist, man wurde bestraft oder auch nicht, aber jetzt wirken dieselben Worte wie eine Wiederholung von bereits Gesagtem.
Die Entwicklung von russischen Staatsbürgern, die gegen den Krieg protestiert haben, und die von Präsident Selensky sind sich in dieser Hinsicht ähnlich. Die Zeit, die gefüllt werden muss und daher Wiederholungen verlangt, zerreibt, verwischt und entwertet die Worte und Taten. Und genau wie für Selensky gilt für jeden Kriegsgegner, der seine Stimme erhebt: Je länger der Krieg dauert, desto größer wird das Risiko, einen Fehler zu machen, etwas Falsches zu sagen. Der Aggressor hat weniger Risiko, vor dem schwarzen Hintergrund der Aggression fällt ein verbaler Fauxpas nicht so auf, der Hauptfehler ist schon begangen, ihn zu vertiefen ist schwer.
Die Separation der beiden Kriegsgegner in und außerhalb Russlands wird durch das Vorgehen der westlichen Bürokraten beschleunigt. Mit dem nachvollziehbaren Wunsch, die Kriegsbefürworter nicht einfach in Ruhe weiterleben zu lassen, als wäre nichts gewesen, zielen sie darauf ab, die Verbindung zwischen dem Innen und dem Außen endgültig abreißen zu lassen. Drei potenziell enorm wichtige Verbindungen – die russisch-ukrainische, die russisch-europäische und die russisch-emigrantische sind zu Opfern der Relativierung geworden.
Der ideale Beobachter, das ideale Opfer und das ideale Mitleid sind Vergangenheit
Im Frühling 2022 erzeugte der Schock über den Angriff eine künstliche Reinheit der Atmosphäre. Details rückten in den Hintergrund, ermöglichten es vorübergehend, dass ideale Beobachter einem idealen Opfer ideales Mitleid entgegenbringen, ohne einander zu kritisieren. Ideales Leid, ideale Solidarität. Wie leicht und schön ist es doch, die richtige Entscheidung mitzutragen, wenn plakative Gerechtigkeit siegt, das Böse bestraft wird, das Opfer sich treu bleibt und die Zeit und die Menschen das Bild nicht verderben.
Aber dieser Punkt ist überschritten. Die beinahe laborhafte Reinheit konnte sich unter natürlichen Bedingungen nicht lange halten. Anscheinend erleben wir in der dunklen Jahreszeit the darkest hour. Heute müssen wir die unter Theologen vielzitierte unitas in necessariis (dt. Einmütigkeit im Notwendigen) mit bewusster Anstrengung aufrecht erhalten, indem wir das vom Lauf der Zeit aufgezwungene soziale und politische Durcheinander überwinden. Andererseits wiegt eine unter natürlichen Bedingungen getroffene moralische Entscheidung schwerer, und der dabei herausgebildete ethische Maßstab für die Politik könnte zur universellen Norm werden.