Warum begegnen Menschen in den westlichen Ländern Belarus mit so wenig Interesse? Warum läuft Belarus meistens unter dem Radar der internationalen Aufmerksamkeit? Warum gibt es so wenig Interesse für die belarussische Literatur? Das sind Fragen, die viele Belarussen umtreiben und die auch aktuell wieder in den sozialen Medien diskutiert werden. Der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič hat dazu einen launigen, polemischen aber auch analytischen Post für seinen Facebook-Account geschrieben, der vom Online-Portal Budzma übernommen wurde. „Die meisten, die über die Aussichten der belarussischen Literatur im Westen diskutieren“, schreibt Bacharevič, „verstehen meiner Meinung nach die fünf wichtigsten Dinge nicht.“
Erstens. Uns gibt es nicht.
Im Westen gibt es Belarus praktisch nicht. Die belarussische Sprache nicht, die belarussischsprachige belarussische Literatur nicht, die belarussische Geschichte nicht, Belarus nicht als Text, den andere verstehen und annehmen, der akzeptiert ist und in den großen Welttext eingeht. Auf die belarussischsprachige belarussische Literatur schaut man immer ein wenig argwöhnisch und herablassend. Genau wie auf die Sprache Balbuta.
Folgendes muss man verstehen: Die belarussische Literatur wird in der Regel abgelehnt, ohne gelesen zu werden, ohne dass Bücher und Manuskripte auch nur aufgeschlagen werden. Es genügt zu hören: „belarussische Literatur“ – sofort denken sie an etwas selbstverständlich Schwaches. Es ist sehr schwer, die Menschen vom Gegenteil zu überzeugen. Ein belarussisches Buch kann sein, wie es will – spannend, genial, schlecht, wunderlich, unterhaltsam, langweilig ... Ganz gleich. 99 Prozent nehmen es gar nicht in die Hand, lesen keine einzige Seite, denn es ist ja belarussisch, also direkt uninteressant. Deshalb: Ein Hoch auf die ausländischen Enthusiasten, Wissenschaftler und Übersetzer, die hin und wieder doch westliche Verleger überreden, in den Text zu schauen, ihn schätzen zu lernen und eine Übersetzung herauszugeben! Denn wenn ein belarussisches Buch doch einmal gelesen wird, ruft es häufig wohlwollende Verwunderung hervor: So ist das also, wir wussten ja gar nicht, dass es bei euch interessante Autoren gibt.
Und noch ein Hinweis: Belarussische historische Belletristik ist für den westlichen Leser im Grunde pure Fantasy. Eine Geschichte von einem ausgedachten Land und ausgedachten Menschen, von Monstern und Magiern. Aber Fantasy gibt es im Westen so viel, dass niemand auch noch eine belarussische Version braucht, die Anspruch auf Ernsthaftigkeit erhebt. Die belarussische historische Prosa läuft dem westlichen Geschichtsbild zuwider. Daher gibt es dort keine Perspektive für sie.
Zweitens.
Hundertmal habe ich es gesagt und sage es jetzt noch einmal: Der westliche Buchmarkt hat seine Erwartungshaltung. Für die belarussische Literatur gibt es ein winziges Regal – wie auch für andere kleine Literaturen. Die belarussische Literatur interessiert den Westen nur dann, wenn sie sich mit der ihr zugewiesenen Rolle abfindet. Für den westlichen Leser, Kritiker und Verleger kann die belarussische Literatur nur dann interessant sein, wenn sie aus der Position der Opfer spricht: „Wir sind unglücklich und leiden, bei uns herrschen Finsternis, Diktatur, Hoffnungslosigkeit, Tschernobyl, Lukaschenka, Zweiter Weltkrieg, Okkupation usw.“ – oder aus der Position der Zeugen: „Wir erzählen euch jetzt, wie das ist – erst in der Sowjetunion, dann unter Lukaschenka, am eigenen Leib alle Schrecken von Totalitarismus, Armut, Elend und Diktatur zu erleben.“ Wenn belarussische Literatur versucht, mehr als das zu sein – Warnung, Idee, Reflexion, pure Kunst, Philosophie, all das, was jede große Literatur eben einfach sein kann – sagt man uns: Stopp. Lasst mal die Finger davon, das ist unser Privileg. Woher wollt ihr denn etwas von der Welt verstehen? Wie kommt ihr darauf, dass ihr das Recht habt, etwas anderes als Opfer oder Zeugen zu sein? Denkt daran, aus welchem Loch ihr gekrochen seid – und dann überlegt gut, ob ihr uns etwas beibringen könnt. Räumt erst einmal bei euch selbst auf.
Drittens. Übersetzer
Ich schreibe hier ausschließlich über die belarussischsprachige Literatur. Denn die russischsprachige Literatur, die sich belarussisch nennt, ist ein ganz anderes Phänomen. Übersetzer aus dem Russischen gibt es zuhauf. Man muss niemandem erklären, was das imperiale Russland ist, seine Kultur, Geschichte, seine Sprache, seine Literatur. Stellt man die belarussische russischsprachige Literatur in einen russischen, sowjetischen oder postsowjetischen Kontext – dann hat man auch in der belarussischen Literatur ganz gute Aussichten, gesehen und gelesen zu werden.
Aber was sollen die belarussischsprachigen Autoren in dieser Situation tun?
Im Westen, das lohnt sich zu wissen, fürchtet man sich sehr vor Nationalismus. Die belarussischsprachige belarussische Literatur wird häufig als nationalistische Literatur wahrgenommen. Vielleicht sagt man euch das nicht direkt ins Gesicht. Man denkt es aber. Und man denkt auch: „Anstatt in ihrer kleinen Sprache zu schreiben, die nicht mal in ihrem Land wirklich jemand spricht, könnten sie doch lieber Russisch schreiben – und wären anerkannt und verständlich. Und anstatt über ihre eigenen Sachen auf Belarussisch zu schreiben, könnten sie sich doch dem Russischen und Sowjetischen zuwenden, das ist klar, verständlich und verkauft sich! Aber euer Belarus als Europa – das klingt ja lachhaft ... Das soll Europa sein? Belarus ist ein kleines Russland, als solches sehen wir es, und so ist es interessant für uns, und alles, was diesem eleganten Muster widerspricht, ist naiver Nationalismus und der kindische Versuch, auf unseren europäischen Schnellzug aufzuspringen.“
Viertens
Nun müssen wir auch ein wenig über die eigene Schuld der belarussischen Literatur sprechen. Häufig, wenn nicht in der Mehrheit der Fälle, ist sie langweilig-traditionell, kriegerisch-traditionalistisch, demonstrativ verschlossen für westliche Einflüsse, konservativ und nationalistisch im negativen Wortsinne, fremdenfeindlich und sowjetisch. In vielen ihrer Erscheinungsformen zeigt sie keinen Wunsch, vom Westen zu lernen, Entdeckungen zu machen, Kontakt zur Welt aufzubauen. Idiotischer Größenwahn, literarisches Chuch'e, das macht sie aus, die belarussische Literatur. „Wir brauchen das alles nicht, es ist fremd, wir sind groß und besser als alle, die wir kennen, denn wir haben Schamjakin und Dunin-Marzinkewitsch.“ Mit einem solchen Credo kommst du nirgendwohin. Die großen Nationaldichter Kupala und Kolas, gemachte Ikonen, kennt im Westen niemand, und mit diesen Ikonen und der bolschewistischen Flagge der Sowjetliteratur, mit dem Stolz auf den stalingeschaffenen „Künstlerbund“, ohne Sprachkenntnisse, ohne Interesse daran, was sich in der westlichen Literaturwelt tut, im Glauben an die eigene Ausnahmestellung treten die alten belarussischen Schriftsteller mit unsicherem Lächeln in die große Welt hinaus und beklagen sich: Und wo sind wir? Wo ist unsere Sichtweise, wo die Anerkennung? Wir haben sie verdient! Wieso sieht uns niemand?
Fünftens
Die großen westlichen Verlage – das ist Kommerz, das ist kapitalistisches Unternehmertum. Es geht zuallererst um Geld. Und wenn ein Buch niemand lesen will, es nicht einmal durchblättern möchte, dann wird es sich nicht verkaufen. Deshalb erscheinen die belarussischsprachigen belarussischen Bücher, die relativen Erfolg in kleinen Leserkreisen haben und hoffentlich auch zukünftig erscheinen werden, in kleinen und unabhängigen Verlagen – wo Geld zum Glück nicht alles entscheidet. Das sind Orte, wo Verleger arbeiten, die sich für unsere Literatur und unsere Kultur interessieren, die Bücher lieben, das Wort, die Idee, den Stil – und nicht Millionenauflagen. Für den westlichen Markt ist das ist völlig normal. Es gibt riesige Verlage, es gibt kleinere, und es gibt ganz kleine – jeder hat sein Publikum, seine Nische, seine Erfolge und seine Ausrichtung. Hauptsache ist, all das schließt Kontakte, Wechselwirkungen und Perspektiven auf größere Sichtbarkeit und Rezeption nicht aus.
Und noch einmal: ein Hoch auf alle Deutschen, Engländer, Polen, Franzosen, Litauer, Niederländer, Schweden, Norweger, Amerikaner, Schotten, die ohne besonderen persönlichen Vorteil, nur aus Interesse an unserer Literatur, versuchen, westliche Verleger für belarussische Literatur zu interessieren. Ein Hoch auf die Übersetzer, dank denen Bücher belarussischer Schriftsteller verlegt, gelesen, besprochen, präsentiert werden – und dadurch leben.
Alles in allem ist das kein fröhliches Bild. Doch nun geht es um Trost und Hoffnung. Ich bin zwar nicht sicher, ob mich das beruhigt, aber: Zum Glück oder zum Unglück sind wir nicht allein. Auf der Welt gibt es viele kleine Literaturen mit noch bescheideneren Perspektiven. Bei uns ist nicht alles so schlecht. Immerhin existiert die belarussische Literatur im Westen in Übersetzungen aus dem Belarussischen. Das reicht nicht – aber es wird immer mehr.
Was soll man also tun, wenn man so sehr dazugehören will, sein will wie alle, Erfolg haben möchte?
Man kann beginnen, in einer Fremdsprache zu schreiben. Die Konkurrenz wird aber hart sein. Außerdem gelingt es kaum, in einer anderen Sprache so zu schreiben wie in der eigenen. Es kommt einer bewussten Abkehr von Komplexität und Stil gleich. Um nicht zu sagen – einem Verrat. Denn die Hauptsache ist das Wie, nicht das In welcher Sprache. Und doch ist es eine Abkehr. Von sich selbst, zugunsten der Sichtbarkeit. Letztlich hat die absolute Mehrheit der belarussischen Autoren die belarussische Sprache erst später gelernt, nicht in der Kindheit wie eine Muttersprache. Warum also nicht noch eine Sprache lernen? Oder zwei? Oder drei?
Man kann auch auf Russisch schreiben. Wie ich schon sagte, das ist dann etwas ganz anderes und man begegnet dir ganz anders. Die Rezeption ist eine ganz andere, viel wohlwollender, leichter und mit mehr Anerkennung.
Von den schmalen Regalen, die im Westen für die belarussische Literatur bereitstehen, schrieb ich bereits. Von Opfern und Zeugen. Ich renne mir seit Jahren den Kopf an dieser Wand ein. Und manchmal scheint mir, sie gibt ein wenig nach. Genau das will ich mit der deutschen Übersetzung meines Romans Europas Hunde erreichen – erzwingen, dass ich mit diesem Buch nicht als Wilder aus einem elenden Land betrachtet werde, sondern als europäischer belarussischer Autor, der etwas zu sagen hat und dessen Land und Sprache nicht schlechter sind als andere.
Man kann es so machen wie Julia Cimafiejeva und ich. Weiterhin in dieser kleinen Sprache schreiben. Mit Ausdauer und Würde. Literatur auf Belarussisch. Eine andere belarussische Literatur schreiben – nicht die größte von allen, sondern eine von vielen Literaturen dieser Welt. Von anderen lernen, aufmerksam lesen und zuhören, möglichst offen sein. Über das Eigene schreiben, ohne das Fremde abzulehnen. Nicht zulassen, auf ein Regal, in eine Nische oder in die Grube für die Unglücklichen und Traurigen geschoben zu werden. Nicht zulassen, dass sie dich als „blutende Wunde“ vermarkten. Stets das Gefühl haben, auf Reisen zu sein. Andere Sprachen sprechen, erklären, fragen, versuchen zu verstehen: Wo sind wir? Was ist das für eine Welt? Was will sie uns sagen? Eine Reise hält jederzeit Überraschungen bereit, angenehme und weniger angenehme.