Auch bei den historischen Protesten im Jahr 2020 in Belarus waren immer wieder Regenbogenfahnen zu sehen. Den politischen Selbstermächtigungsprozess unterstützten Menschen unterschiedlichen Alters, aus den verschiedensten Berufen und den unterschiedlichsten sozialen Gruppen. So war auch die durchaus aktive LGBT-Szene des Landes dabei, die in den vergangenen 15 Jahren sich und ihren Anliegen als Teil der Zivilgesellschaft immer mehr Gehör verschafft hat.
Homosexualität wird in Belarus seit 1994 nicht mehr per Gesetz verfolgt und geahndet, stößt in weiten Teilen der konservativen Gesellschaft aber immer noch vielerorts auf Ablehnung. So kommt es nicht nur durch die Vertreter des Systems Alexander Lukaschenko immer wieder zu öffentlichen Beleidigungen, sondern auch zu Anfeindungen durch Aktivisten konservativer oppositioneller Gruppen. Der LGBT-Aktivist Andrej Sawalei nimmt dies zum Anlass, sich in einer Kolumne für das Online-Medium KYKY ordentlich Luft zu machen. Dabei fordert er, dass auch die neue demokratische Bewegung echte Toleranz gegenüber der LGBT-Community noch lernen müsse.
Vor langer Zeit, 2017, war ich mit meiner Freund:in Gleb Kowalskaja mal auf der Suche nach unwiderlegbaren Belegen, dass es in Belarus Homophobie gibt. Das war eine ganz schön mühselige Angelegenheit.
Damals konnten sich nur wenige anständige öffentliche Figuren eine homophobe Rhetorik erlauben, etwa Pawel Sewerinez und Eduard Paltschys (sie sind heute politische Gefangene). Und auch unter den Vertreter:innen des Regimeapparats waren nicht allzu häufig Adepten einer offenen Homophobie anzutreffen: Beiden Seiten erschien es vor fünf Jahren nicht comme il faut. Für die groben Ausfälle von Schunewitsch im Stile eines homophoben Gandalf musste sich [der damalige Außenminister] Makei sogar entschuldigen. Von ihm stammt auch das meiner Meinung nach LGBT-freundlichste Zitat aller Politiker in der gesamten Geschichte des unabhängigen Belarus: „Das Thema der traditionellen Familie und der Minderheitenrechte ist sehr wichtig und nicht alles ist da eindeutig.“
Aber wie heißt es so schön: Ich bin nicht homophob, aber ...
Damals kamen Gleb und ich bei einer Literpulle Tschernihiwske zu dem Schluss, dass der deutlichste Beleg für ein homophobes Belarus in einem Doppelmord auf der Grundlage von Hass bestehen würde, den wir begehen, indem wir uns gegenseitig Messer ins Herz stießen. Am helllichten Tag, auf dem Höhepunkt der Herbst-Verkaufsmesse für Kartoffeln und rote Beete in der Traktorenfabrik.
Es schien, als wäre es nur so möglich, die wirkliche Dimension des Problems in unserem Land offenzulegen, wo die Existenz von Homophobie nicht nur von sowjetoiden Bürokratenärschen und regimetreuen Richter:innen geleugnet wird: Die weigern sich, das Motiv Homophobie bei offensichtlich durch Hass begründete Verbrechen zu erkennen. Das geschieht aber auch bei demokratisch gesinnten Personen des öffentlichen Lebens.
Bemerkenswert ist, dass damals auch die Bitte laut wurde, den Begriff „homophob“ nicht auf sie anzuwenden – als sei das etwas Beleidigendes, oder etwas, das mit der Wirklichkeit nichts zu tun hätte. Dass das „Brandmal homophob“ unerwünscht war, spiegelte in gewissem Maße das Bedürfnis wider, das Einzigartige an der eigenen Position zu unterstreichen, die keineswegs zu Gewalt aufrufe und nicht konservativ oder veraltet sei. Die sogar im Gegenteil sehr fortschrittlich und weitsichtig sei. Man akzeptiere einfach nicht die „Propaganda“, dass „uns fremde Werte“ aufgenötigt werden oder überhaupt unsere Seelen vor der Sünde „bewahrt“ würden. Diesen ganzen Schwachsinn. Aber wie heißt es so schön: Ich bin nicht homophob, aber ...
Unterdessen aber scheinen Vertreter des Regimes wie auch Verfechter demokratischer Vorstellungen mitunter zu denken, dass sie durch homophobe Ausfälle aller Art nichts zu verlieren haben. Sei es die Erniedrigung von Schwulen, mit dem der Protest im Telegram-Kanal des kriminalitäts- und korruptionsbekämpfenden GUBOPIK diskreditiert wurde, oder aber die zauberhafte Werbesprache von Stepan Putilo („schwule Looser“), der damit gewissermaßen andeutete, dass es etwas angenehmer sei, schwule Angehörige der OMON zu hassen, als OMON-Mitglieder „normaler Orientierung“. Oder andere homophobe „Scherze“ von durchaus anständigen Leuten, die uns – statt uns LGBT-Menschen als gleich anzuerkennen – instrumentalisieren und dämonisieren, indem wir zu Feinden, widerlichen Monstern oder Sündenböcken gemacht werden.
Solche homophoben Ausfälle mögen zwar sehr bequem sein, doch bringen sie der hellen Seite der Macht, den Jedis, nicht die erwartete Dividende, und können dies per definitionem auch nicht: Diese schmutzigen Tricks nützen schließlich allein den dunklen Siths und können den Jedi ihr Karma nur verderben.
Das Bestreben, Schwule zu erniedrigen, kann die Lage regimetreuer Gestalten schon nicht mehr verschlechtern (die haben eh nichts zu verlieren). Die progressive prodemokratische Bewegung aber hat jedes Plus für ihr Karma bitter nötig. Und wenn man es dort unterlässt, öffentlich die Ehre und Würde von LGBT-Menschen als unverrückbare Größe anzuerkennen, wird man keine Punkte sammeln. Im Gegenteil: Sie werden von uns keine große Unterstützung bekommen. Und wenn man denn der Propaganda glaubt, dann könnte die widerliche Schwulenlobby in der Tat ganz humorlos den teuflischen Plänen der Fünften Kolonne Vorschub leisten.
Echte Toleranz muss sich in der Praxis erweisen
Wenn meine Freunde aus der Ukraine auf Insta Stories schreiben: „Ihr Schwuchteln, was macht ihr da!“, wobei sie sich an die russischen Besatzer wenden, die ihre Städte vernichten und unschuldige Menschen umbringen, muss ich mich sehr zurückhalten. Denn das folgt dem Motto: „jetzt ist nicht die Zeit dafür“, „erst besiegen wir den Feind, dann kümmern wir uns um die Homophobie“, „verwässere nicht die Agenda“ ... Und das ist ein Fehler. Den gleichen Fehler habe ich 2020 gemacht, als ich meine LGBT-Agenda hintenanstellte, um unsere „gemeinsame belarussische“ Agenda nicht aufzuweichen (, ach die arme).
Doch wenn unsere gemeinsame Agenda derart wackelig ist, dass sie durch ein Foto von einer Demonstration in Minsk verwässert wird, auf dem sich junge Frauen unter einer weiß-rot-weißen Flagge vor belarussischen Soldaten im Hintergrund küssen, dann stimmt vielleicht irgendwas mit dieser Agenda nicht?
Putin schickt seine Truppen ins Nachbarland und verkündet von der Tribüne herab, dass sie angeblich die traditionellen Traditionen und hochwertvollsten Werte vor eben diesen Schwuchteln schützten, die gemeinerweise wollen, dass es ein Elternteil eins gibt und ein Elternteil zwei gibt.
Es kommt zu einer fundamentalen Auswechselung der Begriffe und dadurch zur Manipulation. Und dieses Durcheinander muss entwirrt werden, man muss klarmachen, wer „diese Schwuchteln“ sind. Wo ist der Unterschied zwischen dem Ruf „Für euch, ihr Schwuchteln!“ bei Bachmut, wenn eine Rakete auf die Besatzer abgeschossen wird, die gekommen sind, dein Haus zu zerstören, und dem Ruf „Da kommen die Schwuchteln“, bevor man einem Unbekannten, der am Sonntagmorgen aus einem Schwulenclub in Minsk kommt, ins Gesicht schlägt, und dem abfälligen „Arschficker kommen hier nicht rein“ aus dem Mund von Schunewitsch?
Ihr werdet überrascht sein: Es gibt da offen gestanden keine Grenze! In jeder dieser Situationen werden LGBT-Menschen dämonisiert oder als etwas Negatives oder Widerliches markiert. In jeder dieser Situationen wird Gewalt legitimiert, weil es angeblich einen Grund gibt, sich „zu schützen“. Dabei muss man verstehen, dass „Schwuchteln“ vollkommen abstrakte, stereotype Gestalten sein können. Oder es sind einfach von Propaganda-Idioten erfundene Horrorgeschichten. Die Opfer dieser von Homophobie genährten Gewalt hingegen sind ganz real. Man hat uns weismachen wollen, dass ein Überfall auf Belarus vorbereitet wurde und „sie“ gezwungen waren, einen Präventivschlag zu führen. Genau so hat der Mörder von Michail Pischtschewski vor Gericht erklärt, dass er eine Bedrohung wahrgenommen habe und gezwungen gewesen sei, sich zu verteidigen. Dabei holte er weit zu einem „Präventivschlag“ gegen einen Kiefer aus, der dazu führte, dass Mischa 20 Prozent seines Gehirns entfernt werden mussten, dass er 16 Monate im Koma lag und dass er schließlich starb.
Solange wir uns nicht bewusst machen, dass Homophobie tatsächlich das Böse, Krieg und Zerstörung in sich trägt, solange wir Versuche weißwaschen, die eigenen Werte mit Hass gegen Mitmenschen zu „verteidigen“, wird unsere Agenda marode und leicht zu verwässern sein.
Uns wurde von der Kindheit an gesagt, die Belaruss:innen seien sehr tolerant. Aber seien wir ehrlich: Es ist sehr leicht, abstrakt „andere“ Menschen zu respektieren, ohne tatsächlich mit ihnen in Berührung zu kommen – wenn diese „anderen“ im öffentlichen Raum praktisch nicht vorhanden sind. Öffentlich erkennbare LGBT-Menschen lassen sich landesweit an einer Hand abzählen, und selbst in Minsk begegnet man nur selten Menschen mit einer anderen Hautfarbe als der weißen ...
Echte Toleranz, nämlich die Respekt vor unseren Unterschieden, muss sich in der Praxis erweisen, wenn einem im Freundeskreis nämlich nicht die Ohren dröhnen von Scherzen mit Anflügen von Antisemitismus, Islamophobie, Frauenhass oder Homophobie. Wenn Schwarze auf der Straße nicht von Passant:innen angegafft werden. Es bedeutet nicht, dass man plötzlich alle „anderen“ dieser Welt mögen muss. Man kann die Würde eines Menschen selbst dann respektieren, wenn man diese oder jene Werte anderer nicht teilt oder sie gar letztendlich nicht versteht. Man muss nur einem Menschen schlicht das Recht zubilligen, er oder sie selbst zu sein, auch wenn jemand einem vielleicht nicht gefällt. Und die Antwort auf die Frage, warum einem dieser konkrete Mensch nicht gefällt, wird einem sehr viel Interessantes offenbaren, nämlich über sich selbst.
Wenn ich vor 2020 in den sozialen Netzwerken in den eher seltenen Beiträgen über LGBT homophobe Kommentare las, dachte ich für mich: „Nun, das sind wohl im Grunde Lukaschisten. Es kann ja nicht sein, dass Leute nach Demokratie streben und dann sowas schreiben.“ Nach 2020 wurden solche LGBT-Beiträge noch seltener, doch die Zahl der homophob Kommentierenden blieb gleich, und viele von ihnen schmücken sich mit dem Pahonja und mit weiß-rot-weiß.
Und ich frage mich: Hat es in Belarus wirklich einen Wertewandel gegeben? Werden in einem neuen Belarus wirklich neue Institutionen ein neues Niveau an Respekt für die Bürger:innen des Landes zeigen? Oder gibt es bei der Rhetorik von „manchmal geht es nicht um Gesetze“ [Zitat von Lukaschenko gegenüber Strafverfolgern im Kontext der Proteste von 2020 – dek] und „zuerst Demokratie, dann alles andere“ doch einen gemeinsamen Nenner, nämlich den fehlenden Respekt für die Rechte von LGBT-Menschen?
Der Diktator kann auf seine Bürger:innen pfeifen und sie zutiefst erniedrigen, weil seine Macht auf Angst und Terror beruht, und weil die Menschen nichts als Figuren auf einem Schachbrett sind. Innerhalb der Bewegung für ein freies Belarus aber muss jede und jeder respektiert werden, und zwar nicht irgendwann nach dem Sieg einer Revolution, sondern konkret, hier und jetzt.
Wenn man sich unsere Unterstützung sichert, könnte ein Schritt hin zu einer solchen Solidarität getan werden, einer Solidarität, für die bei unseren Demonstrationen Flaggen sämtlicher Coleur von Bedeutung sind. Weil hinter jeder dieser Flaggen Menschen stehen, und weil die Flagge für uns konkret einen riesigen Wert darstellt. Und in unseren Reihen werden die Werte gegenseitig respektiert, oder?