2000 bis 4000 Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien sitzen im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus bei Temperaturen um den Gefrierpunkt fest. Immer wieder versuchen Gruppen, die Zäune und Grenzvorrichtungen in Richtung EU zu durchbrechen. Mittlerweile stehen rund 15.000 polnische Soldaten an der Grenze, die ein Durchkommen der Flüchtlinge zu verhindern versuchen, sie immer wieder in Richtung Belarus zurückdrängen. Belarussische Grenzer treiben die Flüchtlinge dagegen immer wieder in Richtung Polen. In Minsk protestierte eine große Gruppe von Migranten am Sportpalast im Zentrum der Hauptstadt.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wirft den belarussischen Machthabern vor, mit der Flüchtlingskrise „einen hybriden Angriff” auf die EU gestartet zu haben. Polen wertet Alexander Lukaschenkos Rolle in der Krise als „Staatsterrorismus”, der deutsche Außenminister Heiko Maas nennt ihn einen „Schleuser”. Der belarussische Außenminister Wladimir Makej dagegen hält die Krise an der Grenze für eine Provokation durch die NATO und droht mit Vergeltung. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow sagte: „Die Lage ist definitiv angespannt, alarmierend – sie erfordert ein verantwortungsvolles Handeln aller Beteiligten.” Unterdessen telefonierte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Wladimir Putin und bat ihn, auf Lukaschenko einzuwirken. Die Lage an der östlichen EU-Grenze spitzt sich weiter zu. Weitere EU-Sanktionen sollen den belarussischen Machthaber zusätzlich unter Druck setzen. Lukaschenko droht im Gegenzug, den Warenverkehr durch sein Land und den Transit von Öl und Gas in Richtung EU zu blockieren.
In Politik und Medien wird derweil auch in Belarus debattiert, wie der Konflikt zu lösen und zu bewerten sei. In der staatlichen Zeitung SB.Belarus segodnja meint der Politikanalyst Juri Schewzow ganz im Sinne der offiziellen Rhetorik des Machtapparats, dass Polen die Schuld an dem Konflikt trage: „Dieses Land lebt mit monströsen Vorstellungen von sich selbst und der Realität. Und deshalb haben die Polen kein Recht, sich als Europäer zu bezeichnen. Indem sie an der Grenze Gräueltaten begehen, verletzen sie europäische und christliche Werte.” Die belarussische Führung inszeniert sich in einer Krise, die sie selbst geschaffen hat, als „Beschützerin von humanitären Werten”. Darauf spielte die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja mit ihrer Aussage auf Twitter an: „Erinnern wir uns: Die Migrantenkrise an der Grenze zwischen Belarus und der EU hat nicht erst gestern oder vor einem Monat begonnen. Sie begann mit der politischen Krise in Belarus im letzten Jahr.” Im eigenen Land geht Lukaschenkos Machtapparat seitdem brutal gegen die eigene Bevölkerung vor. Die polnische Regierung hat sich schon früh auf die Seite der Protestbewegung in Belarus gestellt. Polen war einer der EU-Staaten, die die Sanktionen gegen Lukaschenko vorangetrieben haben. Durch den Flüchtlingsstrom, der von den belarussischen Machthabern seit Anfang Juli lanciert und flankiert wird, soll also nicht nur die EU, sondern auch Polen abgestraft werden. Polen erwägt nun, seine Grenzen zu Belarus vollständig zu schließen. Auch die Ukraine, die auf 1000 Kilometern an Belarus grenzt, überlegt, ihre Grenzvorrichtungen zu verstärken.
In seinem Text für das Medium Naviny.by rückt der Journalist Alexander Klaskowski vor allem die belarussische Sichtweise auf den Konflikt in den Vordergrund. Dabei fragt er, ob es Lukaschenko gelingen kann, die EU mit seiner Taktik zu schwächen, welche Rolle Putin in Lukaschenkos Eskalationsplan spielt und ob der Kreml überhaupt Interessen an einer weiteren Eskalation der Krise hat.
Schadenfreude ist bekanntlich die schönste Freude. Aber hat Minsk auch rationale Gründe, diese Krise zu eskalieren? Wird es Lukaschenko gelingen, Europa „zu beugen“, wie er es ausdrückt? Und wie wird sich Russland angesichts dieser Eskalation verhalten – das Land, das zweifellos weit mehr Einfluss auf die belarussische Führung hat als die anderen Beteiligten?
„Und ihr Halunken, ihr Verrückten, wollt, dass ich euch beschütze?“
Die belarussische Führung gibt sich unschuldig: Die Menschen aus den Problemländern seien legal eingereist, sie begingen keine Verstöße und so weiter und so fort. Das ist natürlich pure Heuchelei.
Lassen wir die Frage, wie diese Leute nach Belarus gebracht wurden einmal beiseite. Zumindest gibt es strenge Regeln für das Betreten von belarussischen Grenzgebieten durch Ausländer. Doch während Hunderte von Belarussen, die in geschlossenen Kolonnen durch die Straßen liefen, das mit Gefängnis bezahlen mussten, wird es dahergelaufenen Gestalten aus irgendeinem Grund nicht verwehrt. Die belarussischen Sicherheitskräfte präsentieren sich bei solchen unerlaubten Aktionen als reinste Knuddelbären.
Lukaschenko hat am 9. November ein Interview mit Igor Korotschenko, dem Chefredakteur der russischen Zeitschrift Nazionalnaja oborona (Nationale Verteidigung) genutzt, um ziemlich durchsichtige Botschaften an Europa zu übermitteln: „Ihr habt Sanktionen gegen mich verhängt, gegen die Belarussen. Ihr habt einen hybriden Krieg gegen Belarus angezettelt – Medien, Wirtschaft, Politik, jetzt seid ihr schon beim Militärischen und der Sicherheit angelangt. Und ihr Halunken, ihr Verrückten, wollt, dass ich euch beschütze, und das auch vor Migranten?“
"Die Hoffnungen anderer Gegner Lukaschenkos, Putin könne ihn zähmen oder gar ganz absetzen, sind derweil naiv." / © Viktor Tolochko / Sputnik Images
Nach Lukaschenkos Meinung ist es von der EU ein wenig töricht, „von mir zu verlangen, dass ich, wie bislang, das aus eigener Tasche bezahlen und stoppen soll“. Kurz und gut: Ändert eure Politik gegenüber dem Regime, setzt euch an den Verhandlungstisch und zahlt, wenn ihr dieses Problem loswerden wollt. Die Propagandisten des Regimes erklären klipp und klar, Lukaschenko könne diesen Albtraum „mit einem Fingerschnippen“ beenden.
Bislang scheint Europa jedoch nicht geneigt, vor Minsk in die Knie zu gehen. Polen und Litauen verhalten sich trotz Kritik von der UN und Menschenrechtlern hart gegenüber den ungebetenen Gästen und schlagen ihnen die Tür vor der Nase zu.
Zudem arbeitet Brüssel an einem fünften Sanktionspaket, um Minsk für diese Politik zu maßregeln. Das Image des Regimes auf der internationalen Bühne wird immer abstoßender; es wird vom Westen immer deutlicher als Bedrohung der Sicherheit in der Region wahrgenommen, als Quelle der Instabilität für die Gemeinschaft der demokratischen Länder.
Das Regime setzt auf die Schwäche der europäischen Politiker
Kann man also sagen, dass Lukaschenkos Spiel zum Scheitern verurteilt ist? Wie lässt sich die Hartnäckigkeit des Regimes bei der Eskalation der Migrationskrise erklären?
Die belarussische Regierung, die darauf abzielt, Europa zu verärgern, wendet hier „dieselbe Logik an wie bei ihren inländischen Gegnern“, so der Politikexperte Waleri Karbalewitsch in einer Stellungnahme gegenüber Naviny.by. Seiner Meinung nach ist die Regimeführung vor allem von einem Bedürfnis nach „elementarer Rache“ getrieben.
Es gebe aber auch ein rein rationales Kalkül – nämlich, Europa zu den Bedingungen des Regimes an den Verhandlungstisch zu zwingen. „Lukaschenko hält europäische Politiker für Schwächlinge“, so Karbalewitsch. Und wenn etwa der österreichische Bundeskanzler Alexander Schallenberg im Vorfeld einer Konferenz zu Belarus in Wien erklärt, man könne mit Minsk nicht nur in der Sprache der Sanktionen sprechen, gibt er der belarussischen Führung Grund zu der Annahme, dass es sinnvoll sei, den Druck auf Europa zu verstärken. Zwar sei es Lukaschenko bisher nicht gelungen, die EU „zu beugen“, aber es gebe auch keine starke Reaktion aus Europa. „Die Europäische Union ist ratlos“, so Karbalewitschs Fazit.
Auch Pawel Ussow, Leiter des Zentrums für politische Analyse und Prognose in Warschau, äußerte gegenüber Naviny.by die Meinung, dass „es zurzeit in Europa keine politischen Führer gibt, die die volle Verantwortung übernehmen und die willensstarke Entscheidung treffen könnten, das Lukaschenko-Regime ohne Rücksicht auf die Folgen zunehmender Spannungen zu bezwingen“.
Lukaschenko, so der Politologe, „handelt nach dem Prinzip der maximalen Spannungseskalation“. Er setze auf die Erfahrung, dass europäische Politiker bei steigendem Leidensdruck dazu neigen, „den Weg des Kompromisses zu gehen, eine Möglichkeit zum Dialog zu suchen“. Zudem habe der belarussische Regent „nichts mehr zu verlieren“, was das Image eines zivilisierten Politikers angeht.
Putin spielt sein eigenes Spiel
Im Kontext dieser Eskalation wird klar, dass Moskau Minsk die Bälle zuspielt. Am 10. November versuchte die weiterhin amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Migrationskrise mit Wladimir Putin zu besprechen. Dieser jedoch, so teilt der Pressedienst des Kreml mit, „schlug vor, eine Erörterung der entstandenen Probleme im direkten Kontakt der offiziellen staatlichen Vertreter – der EU-Mitglieder und Minsk – in die Wege zu leiten“. Kurz gesagt, er hat Europa gepflegt zu Lukaschenko geschickt.
Tatsächlich wäre es eine starke Vereinfachung anzunehmen, dass Putin nur daran denkt, wie er in seinem Konflikt mit dem Westen am besten Lukaschenkos Interessen vertreten kann. Moskau spielt sein eigenes Spiel. Ussow weist unter anderem darauf hin, dass mittlerweile Kampfflugzeuge vom Typ Tu-22M3 der russischen Luftstreitkräfte im belarussischen Luftraum patrouillieren.
„Ist die Migrationskrise vielleicht nur ein Deckmantel, um russisches Militär nach Belarus zu schicken?“, fragt der Leiter des Zentrums für politische Analyse und Prognose Pawel Ussow. Ihm zufolge könnte Putin höchstpersönlich der Europäischen Union die Vermittlerrolle in der Lösung der Krise aufnötigen und daran die Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen Russland knüpfen, indem er eine Art Normandie-Format einfordert, in dem Moskau als vollwertiger Partner für Europa agiert.
Mit anderen Worten, der Kreml wäre auf diese Art in der Lage, sein Problem der politischen Kontrolle über Belarus zu lösen und gleichzeitig „Lukaschenko zur Realisierung der eigenen Außenpolitik im Hinblick auf die EU zu instrumentalisieren“, erklärt Ussow zusammenfassend.
Die Führungselite ist es nicht gewöhnt, Schritte vorauszuberechnen
Generell ist die Behauptung, in dieser Situation würde der Schwanz mit dem Hund wedeln, zumindest bestreitbar. Ja, Lukaschenko trumpft mit dem russischen Atomschild auf und muss sich tatsächlich, trotz all seiner Kunststücke, nicht vor einer Intervention des Westens fürchten (obwohl man immer wieder – auch im Gespräch mit Korotschenko – an die Schicksale von Saddam Hussein und Muammar Gaddafi denkt, die die westlichen „Halunken“ „einfach getötet“ haben).
Die Hoffnungen anderer Gegner Lukaschenkos, Putin könne ihn zähmen oder gar ganz absetzen, sind derweil naiv. Die beiden autoritären Regime sind artgleich und geistesverwandt, zudem hat der Kreml bislang weder einen wirklichen Ersatz für den belarussischen Führer noch ein zuverlässiges Instrumentarium für einen solchen Machtwechsel.
Auf einem anderen Blatt steht, dass der Kremlchef seine Mission keinesfalls in der Schaffung möglichst bequemer Bedingungen für den belarussischen Problempartner sieht, und auch nicht in seiner Rettung um jeden Preis. Im Gegenteil, Moskau nutzt dessen wachsende Konfrontation mit dem Westen aus und verstärkt seine militärische Präsenz in Belarus (was nicht in Lukaschenkos Interesse und noch weniger im Interesse der belarussischen Souveränität liegt). Erweitert man den Blick, wird klar, dass die russische Führung Belarus in ein Netz von Abhängigkeiten verstrickt hat, aus dem es auch eine neue Führung nicht herauslösen kann.
Gleichzeitig ist der Kreml bereit, den skandalträchtigen Verbündeten beim Wort zu nehmen: Ah, du sagst, die Polen und andere Aggressoren werden gleich mit ihren „Leoparden“ in den Unionsstaat einfallen? Dann lass uns doch mit ein paar Militärbasen und einigen „Iskander“-Raketensystemen an den Grenzen zum heimtückischen NATO-Monster aushelfen. Und du könntest dann eigentlich, nachdem du bezüglich der Krim-Anerkennung schon A gesagt hast, endlich mal B sagen (was die Beziehungen zur Ukraine automatisch erheblich verschlechtern und Minsk weiter isolieren würde).
Hinzu kommt noch, dass die fortgesetzte strikte Abweisung der illegalen Migranten durch Polen und Litauen zu einer Ansammlung dieser Menschen in Belarus führen kann, die zum innenpolitischen Problem für das Regime würde. Dadurch wäre die belarussische Regierung, so Karbalewitsch, notgedrungen zu einer „Drosselung dieser Operation“ gezwungen.
Doch aktuell beobachten wir noch immer eine Erhöhung der Einsätze. Die belarussische Führungselite ist es nicht gewöhnt, viele Schritte vorauszuberechnen und hofft scheinbar nach wie vor darauf, Europa „beugen” zu können.
Im Endeffekt riskiert Minsk, sich in jeder Hinsicht zu verrechnen. Die Beziehungen zum Westen werden endgültig begraben und Belarus rutscht noch tiefer in Moskaus imperiale Falle.