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In Belarus leben

In der Sowjetunion wurde über den Terror der Stalin-Zeit so gut wie nicht gesprochen, selbst in Familien wurden die schrecklichen Geschichten über ermordete und verschwundene Angehörige wie ein Tabu behandelt. Die Autorin unseres neuen Essays in unserem Projekt Spurensuche in der Zukunft, die unter dem Pseudonym Wolha Waloschkina schreibt, beschäftigt sich in ihrem aufrüttelnden Text mit der Frage, was die verdrängte Gewalterfahrung auch mit der Gesellschaft in ihrer Heimat, in Belarus, gemacht hat und macht. Denn auch die belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko nutzen Gewalt und Repression, um Andersdenkende zu bekämpfen und letztlich ihre eigene Macht zu bewahren. Vor allem seit den Protesten des Jahres 2020 hat sich diese Staatsgewalt und damit ihre Unterdrückungsmethoden nochmals radikalisiert. Dazu kommt der Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine auch von belarussischem Territorium aus führt.
Wolha Waloschkina beschreibt, wie es ist, mit dieser Gewalterfahrung zu leben, und sie fragt sich, wie diese Gewalt und damit die postsowjetischen Diktaturen überwunden werden können, um eine andere Zukunft zu ermöglichen.

Russisches Original
 

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„Knoten der Hoffnung“ / Illustration © ToslaDieser Text gehört für mich zu den schwierigsten, die ich je geschrieben habe. Ich habe damit mehrere Monate verbracht, im Sommer 2022. Einige Bilder erschienen mir im Traum, ich schrieb und löschte ganze Absätze, öffnete und schloss die Datei, las bereits Geschriebenes wieder und wieder, ich tauchte in politischen Nachrichten ab, eine Stunde am Tag lag ich nur auf dem Sofa und starrte an die weiße Zimmerdecke. 

Ich trug den Essay über das Leben in Belarus stückchenweise zusammen. Wie auch mich selbst.

Warum sträubte sich alles in mir gegen diese Aufgabe? Es ist schwer, aus der Diktatur heraus mit der eigenen Stimme zu sprechen. Zudem wehrte sich meine Psyche hartnäckig gegen die Erfahrung existenziellen Horrors: In einer zerrissenen Welt kann man nicht leben, die zweigeteilte Realität ist unerträglich, die Ungewissheit der Zukunft zermürbt. Als pulsierte in mir ein schwarzer, sehniger Knoten, in dem all das Entsetzen und die Wut komprimiert und meine persönlichen Traumata für immer mit den (geo)politischen verwoben sind. Doch auf paradoxe Weise kristallisieren sich dort auch meine Werte heraus und konzentriert sich meine schöpferische Energie. In den vergangenen zwei Jahren habe ich viel geschrieben, auf Russisch und auf Belarussisch, und ganz anders als vorher. Und ich konnte in mich gehen und stundenlang zeichnen.


1.

„Wenn ihr erwachsen seid, werdet ihr im Kommunismus leben!“ – erklärt die betagte Lehrerin den Erstklässlern in der ersten Unterrichtsstunde feierlich. Ich bin sechseinhalb Jahre alt und sitze in Paradeuniform in der Schulbank. Große Augen, Zöpfe mit blauen Schleifen, adrette weiße Schürze und braunes Wollkleid (das heftig kratzt). Für jede Bestnote klebt die strenge und gerechte Lehrerin einen roten Sowjetstern auf den Deckel des Schulheftes. Ich war eine Einserschülerin, und meine Hefte sahen aus wie Breshnews Brust, voller Orden. 

Dabei war zu Beginn der 1980er das Versprechen des Kommunismus bereits ein naiver Anachronismus, kaum einer glaubte an seinen Aufbau. Vor den Fenstern der Schule zog Breshnews real existierender Sozialismus vorbei. So hieß es offiziell, und das bedeutete: Die Partei macht sich die Hände nicht schmutzig, den Kommunismus sollen die nachfolgenden Generalsekretäre aufbauen, und Breshnew ist ewig. Bald würde ohnehin alles zusammenbrechen, doch das wusste damals noch niemand. 

Die Schule war so neu wie das ganze Viertel am Minsker Stadtrand mit seiner komplexen Geometrie neun- und zwölfstöckiger Wohnblöcke. Im Mai war alles ringsum mit grünem Gras und gelbem Löwenzahn bedeckt. 

Das Viertel war am Stadtrand anstelle einiger Dörfer errichtet worden, deren Einwohner in den neuen Häusern ebenfalls Wohnungen bekamen. Aus dem alten Wald rund um diese Dörfer wurde ein Park für Spaziergänge. Im Frühling war er voller weißer Schneeglöckchen. Und an den Maifeiertagen saßen ganze Familien in diesem Wald auf Decken, grillten am Lagerfeuer Fleisch und tranken. 

Jenseits der Ringautobahn ging dieser Kiefernwald weiter – da war der Ort, an dem Ende der 1930er Jahre Massenerschießungen stattfanden. Heute kennt man ihn als Kuropaty. Auf Befehl des NKWD wurden nachts Gruben ausgehoben, die Tschekisten brachten in Transportern  die Verurteilten herbei, stellten oder legten sie reihenweise auf und schossen ihnen in den Hinterkopf. Und in der nächsten Nacht die nächste Fuhre ... Noch heute liegen dort zehntausende namenlose Körper unter der Erde. Viele Jahre blühten auf ihnen im März die weißen Schneeglöckchen, die auf Belarussisch praleski heißen, hier aber kurapaty genannt werden. 

Vor der Perestroika wurde über Kuropaty nicht laut gesprochen und schon gar nicht geschrieben. Und doch hatten die ehemaligen Dorfbewohner eine Ahnung, vielleicht hatten es  die Alten ihnen zugeflüstert. 

Nach dem Unterricht wurden die Grundschüler auf die Waldlichtung geführt, wo wir alles machen durften, außer nach Hause laufen. Wir begannen, uns Gruselgeschichten auszudenken, setzten uns in einen Kreis und erzählten: An diesem Klettergerüst darf man nicht baumeln – da hat sich vor Kurzem einer erhängt. In dem schmutzigen Rohr unter der Autobahn liegt ein menschliches Herz (ich habe es mit eigenen Augen gesehen). Im Wald gab es viele Wege und Pfade, Gräben und Erdhügel, und wir munkelten, das sei ein Friedhof ohne Kreuze. Und die Schaschlik-Griller saßen auf Gräbern, direkt über den Schädeln. 

Das Schaurige zeigte sich uns Kindern der späten „Stagnation“ in der Luft, in Gerüchten und Geflüster, es war immer und überall. Sowjetische Kinder liebten Schauermärchen. Von der Frikadelle in der Schulkantine, in der jemand einen Fingernagel gefunden habe, weil im Keller ein riesiger Fleischwolf stehe, der aus Menschen Hackfleisch mache, vom Pionierhalstuch, mit dem ein Mädchen erwürgt worden sei, vom Sarg auf Rädern (Gefangenentransporter?), der in der dunklen Nacht durch die Stadt fahre und sich langsam deinem Haus nähere ... In einem Keller in meinem Viertel lebten Skelette, die Passanten bei lebendigem Leibe die Haut abzogen und sie in ebensolche Kellerbewohner verwandelten. Jemand habe unmenschliche Schreie gehört. Und hüte dich davor, dich nachts diesem Keller zu nähern – dort häuten sie dich!


2.

Wir befinden uns im 21. Jahrhundert, meine Kindheit ist 40 Jahre her. Wir dachten, die Zeit sei vorangeschritten, hin zu Biotechnologie, Robotern, virtuellen Welten und neuen Problemen. Doch plötzlich erhob der Archipel GULAG seinen Rücken, überwuchs mit klebriger Haut und stieg aus den Tiefen, um alles umher zu vernichten und zu vergiften. All diese Jahre hatte das Monster, vom stalinschen Totalitarismus genährt, seine Zeit abgewartet. Nun zermalmt es wieder Menschen.

Tatsächlich kam seine Wiederkehr gar nicht so unerwartet. Weder in Belarus noch in Russland hatte man das Monster je offiziell verabschiedet. Statt eines historischen Gedenkens an die Traumata der sowjetischen Vergangenheit nur Risse, Schweigen und schizophrenes Stückwerk.

Ein Beispiel: In der Nähe von Minsk entstand im 21. Jahrhundert die Stalin-Linie, offiziell ein staatliches Museum für sowjetische Militärtechnik, ein sogenannter „historisch-kultureller Komplex“, aber auch eine touristische Attraktion. Hier kann man Selfies mit sowjetischen Panzern machen und in einen Panzerzug klettern. Es gibt auch eine steinerne Stalin-Büste, vor der Patrioten (so steht es auf der Webseite) Kränze und Blumen niederlegen.

Am anderen Ende der Stadt liegt die Gedenkstätte Kuropaty. Nach Ausgrabungen, Publikationen, öffentlichen Aktionen und der dritten staatlichen Kommission seit Beginn der 1990er führte an der Anerkennung Kuropatys als Gedenkort für die stalinschen Repressionen  kein Weg mehr vorbei. Doch ständig passieren hier dubiose Geschichten. Zuerst wurde ganz in der Nähe ein Schnellrestaurant eröffnet (was in Belarus nie ohne behördliche Erlaubnis geschieht) – mit Blick auf eine Reihe hölzerner Gedenkkreuze am Waldrand. Dann wurde die Ausgestaltung des Geländes angeordnet, die mit der Entfernung der Kreuze begann, weil sie von den Aktivisten angeblich ohne Genehmigung aufgestellt worden waren. Das war 2019, eine symbolische Geste des Staates: Nur der Staat darf bestimmen, woran und wie sich die Belarussen erinnern.

Kommen wir zu einem schönen, in zarter Pastellfarbe gestrichenen Gebäude mit Säulen und einer riesigen Eisentür im Stadtzentrum: der belarussischen KGB-Zentrale. Wie ein ehemaliger Häftling in einem öffentlichen Interview erzählt hat, finden sich dort in allen Verhörräumen Spuren des Kults um Felix Dsershinski – Porträts, Büsten, Zitate. Und gleich um die Ecke ist der Dsershinski-Klub, wo man laut Webseite ein Bankett bestellen kann.

Im selben Stadtviertel steht der Pischtschalowski-Palast, ein Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, das auf dem Stadtplan des Online-Portals Yandex als historische Sehenswürdigkeit markiert ist. Manchmal interessieren sich Touristen, die mit belarussischen Realia nicht vertraut sind, für eine Besichtigung. 

„Wie kann ich eine Führung im Pischtschalowski-Palast buchen?“, fragte kürzlich jemand im Chat.

Die ehrliche Antwort von Belarussen:

„Stellen Sie sich mit einer weiß-rot-weißen Flagge davor, und Sie werden sofort hereingebeten.“

Dieses Gebäude wird seit mehr als 200 Jahren als Gefängnis genutzt, aktuell als Untersuchungshaftanstalt. Zudem werden dort, glaubt man Gerüchten, Todesurteile vollstreckt. Seit 2020 gehört die Mehrzahl der Gefangenen, die hier auf ihren Prozess warten, zu den „Politischen“. Also zu Menschen, denen eine Verurteilung wegen Andersdenken und Widerstand gegen das Regime droht. 
Wenn es einen Touristen an diesen historischen Ort verschlägt, sieht er einen hohen Zaun, Stacheldraht, Sicherheitskräfte und eine lange Schlange von Menschen, die Päckchen übergeben möchten. Fotografieren ist hier verboten.


3.

Wie lebt man hier zwei Jahre nach der Revolution von 2020? Die Realität ist zweigeteilt.

Einerseits die stickige Stadt, die Hitze, die sengende Sonne, die Sandalen bleiben am Asphalt kleben. Aus meinem Fenster sehe ich den Himmel, ein Konvoi aus Wohnblöcken und das Stadion. In dessen Mitte hat ein einsamer Belarusse sein Handtuch auf dem Gras ausgebreitet und liegt in Unterhose und Sonnenbrille da, holt sich seine Ration Bräune und Vitamin D, um das kommende Halbjahr mit grauem Himmel, Matsch und Nebel gesund zu überstehen. Es wirkt wie eine Geste belarussischer Dickköpfigkeit: kein Urlaub, kein Visum, zu heiß, um quer durch die ganze Stadt zum Strand zu fahren – also genießen wir den Sommer unter gegebenen Umständen und denken uns Meer, Wellen und Sand einfach dazu. 

Das Leben sprudelt. Menschen erledigen Geschäfte und Einkäufe, in Unterführungen und an Metroausgängen breitet sich der urwüchsige Handel aus: Rentnerinnen, Kleingärtner und Kolchosbauern stehen reihenweise da und verkaufen den Städtern, was sie in ihren Gärten ernten. 

Bei einer alten Frau kaufe ich einen Becher Blaubeeren, rühre sie in mein Eis und esse es genüsslich mit einem Teelöffel. 

Andererseits werden jeden Tag Menschen festgenommen – für Likes in Sozialen Medien, für Stadtführungen, für das Abonnement von Telegram-Chats, dafür, dass sie 2020 schon einmal 15 Tage für die Teilnahme an Demos gesessen haben. Die Gerichte und andere Strafverfolgungsorgane übererfüllen den Plan. Einfach so nimmt man dir deine Lebenszeit und deine Gesundheit. Schrecklich, sich vorzustellen, wie stickig es damals in den vollgestopften Gefängniszellen war. Es gibt Strafkolonien, in denen die Wärter und ihre Führung sich bemühen, die „Politischen“ zu brechen, psychisch wie physisch. Briefe und Päckchen von Unterstützern werden nicht zugestellt. Für Renitenz gibt es Karzer. Oder man wird in Kolonien mit üblem Ruf und besonders strengem Regime überstellt. 

Ein Mensch, der dort gesessen hat, berichtete, dass er mit seinem Löffel den Abort auskratzen musste. 


4.

„Wir haben alles und keinen Krieg!“, sagt eine Frau mit einem Einkaufswagen voller Essen laut in der Warteschlange an der Kasse, vielleicht zu jemand anderem, vielleicht zu sich selbst. 

Der Krieg herrscht in der Ukraine, und auch von unserem Gebiet aus fliegt der Tod dort hin. Die Bilder und Spuren durchdringen auch unsere Wirklichkeit, deshalb ist auch bei uns Krieg.

In der Nacht trete ich ans Fenster – gegenüber ein stiller, blockförmiger Ameisenhaufen, die Belarussen schlafen in ihren Mauselöchern. Da sehe ich plötzlich ein von Explosionen zerfetztes Gebäudeskelett, schwarze Betondecken, versengte Innereien von Wohnungen. 

Krieg bedeutet schwarze tote Erde, verstümmelte Körper, tote Kinder, unwürdig verscharrte Leichen, die neunte Woge von Angst und Schrecken. Er ist eine Katastrophe der Entmenschlichung, stellt die Welt auf den Kopf. 

Seit dem 24. Februar erhalte ich Nachrichten von ukrainischen und russischen Freunden. Eine ukrainische Kollegin fragte, warum ich in den sozialen Netzwerken nichts über den russischen Angriffskrieg schreibe, es sei die Hölle bei ihnen. Meine Kyjiwer Freundin antwortete auf meine besorgte Nachfrage, dass die erste Explosion bei Sonnenaufgang zu hören gewesen sei, der Flughafen in der Nähe ihres Viertels sei bombardiert worden, aber sie und ihr Sohn hätten noch eine Weile geschlafen. Seitdem schreibt sie nur noch in ukrainischer Sprache über ihren Alltag, mit einem erlesenen Sinn für schwarzen Humor. Auch eine russische Freundin schrieb mir damals. Sie fragte, wie es mir geht, und wir umarmten uns virtuell.

Ich war wie gelähmt – genau wie damals, am 13. und 14. August 2020, als uns eine Welle von Beweisen für Folter und Misshandlungen im Okrestina-Gefängnis überrollte. Daraufhin brach es aus den Belarussen heraus, sie gingen auf die Straße, um NEIN zu Gewalt zu sagen. Gegen den Krieg in der Ukraine demonstrierten sie auch – jedoch nicht so viele wie 2020. Die Menschen, die noch hier sind, sind von der Diktatur zermürbt. Bei der Antikriegsdemonstration in Minsk wurden 800 Menschen festgenommen. 

Ein halbes Jahr später steht fest, dass dieser Krieg die ganze Welt verändert. Unter anderem lässt er diverse Mehrheiten in ein Schwarz-Weiß-Denken zurückfallen, dessen Kreise überall divergieren. Die Propaganda übertrumpft die Realität und ersetzt Werte durch militante Klischees. Jetzt sind alle entweder „Unsere“ oder „Fremde“, und dein Pass ist dein Schicksal. 

„Alle Belarussen sind Mit-Aggressoren“, „alle Russen sind von faschistoider Propaganda verseucht“, schließen wir die Grenzen, auch für jene, die mit ihrem toxischen Staat nichts gemein haben wollen, canceln wir die Russen samt ihrer Literatur und ihrem Ballett. Alle russischen Klassiker sind von imperialem Gedankengut durchsetzt, unsere Kinder sollen weder Puschkin noch Dostojewski lesen. 

Ich bin überzeugt, dass Widerstand gegen den Krieg auch bedeutet, sich der Vereinfachung der Welt und der schwarz-weißen Sicht auf die Realität zu widersetzen. Kultur umfasst immer Komplexität, Bedeutungsschichten, Interpretationsfreiheit. Mensch zu sein in einer neuen Welt heißt, Solidarität auf Grundlage gemeinsamer Werte und über Grenzen hinweg herzustellen. 

Ich werde dafür stimmen, dass im Neuen Belarus die klassische russische Literatur Teil des Lehrplans bleibt, im Fach „Weltliteratur“. Es soll gelehrt werden, wie man in der russischen Lyrik und Prosa Kontexte (auch imperialistische) erkennt und Ideen, Metaphern und Symbole frei interpretiert. Lesen kann man die Texte im Original oder in belarussischer Übersetzung – jeder, wie er will. 


5.

Mit Machtdiktaturen und Krieg ist die postsowjetische Periode vorbei, wir erleben ihren Niedergang. Vor zwei Jahren noch sah es aus, als wären wir in rasendem Tempo und unausweichlich unterwegs in die Zukunft. Neue Technologien, neue Generationen, neue Herausforderungen an die Menschheit. Doch heute sind wir mit der dunklen Seite der sterbenden Diktatur konfrontiert: In Belarus genauso wie in Russland hat sich die Macht endgültig in die gefährlichsten sowjetischen Phantasmen verstrickt: Paternalismus, antiwestliche Hetze, Kommandostil, Imperialismus, Militarismus, Expansionismus. Mit Gewalt und Propaganda flößt man das alles der Bevölkerung ein. „Die Liebste geben wir nicht her!“, sagte der ehemalige belarussische Präsident nach der verlorenen Wahl zu seinem Volk. Nein, wir vergewaltigen sie, nehmen ihr die Freiheit, ihre Rechte und Hoffnungen …

Die Zukunft ist unausweichlich, auch wenn heute niemand sagen kann, wie lange die Agonie noch dauern und wie viele Leben sie noch kosten wird. 

Irgendwann wird der Krieg enden, die russische Besatzung wird von der Ukraine ablassen, die postsowjetischen Diktaturen zerfallen. 
Die Belarussen kommen aus den Gefängnissen frei. 

Wir werden nach Hause zurückkehren.

Die nationale Idee, auf der das Neue Belarus aufbauen muss, gibt unsere Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts vor: Nie wieder Diktatur, Repression, Missachtung von Würde und Menschenrechten in unserem Land. NIE WIEDER. 

Für diese Idee wird niemand in Reih und Glied unter der weiß-rot-weißen Flagge marschieren. Zur Gewährleistung einer Zukunft ohne Diktatur werden alle politischen und sozialen Institutionen ihren Beitrag leisten – vom Parlament bis zur Bildungseinrichtung, angefangen beim Kindergarten. 

Im Pischtschalowski-Palast wird endlich ein Museum für die Repressionen und Haftanstalten der Vergangenheit eröffnet. Wir werden die Todesstrafe abschaffen und das Rechtssystem  reformieren. Die Haftbedingungen in den Gefängnissen des Neuen Belarus sollen die Würde des Menschen respektieren. Und dann stellen wir jene vor Gericht, die heute den Belarussen das Leben unerträglich machen. Jene, die ich heute Vertreter einer kriminellen Macht, Folterknechte, Propagandisten und Denunzianten nennen würde, werden nicht in stickigen Zellen um Luft ringen, auf Betonböden schlafen und Folter ertragen. Sie können gern Bücher lesen und sich selbst quälen. 

Die belarussische Lubjanka wird ihre Archive und geheimen Kellerräume öffnen. Wir werden eine kollektive Erinnerung an die belarussische Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts wiederherstellen, mit all ihren Traumata und Opfern, mit verschiedenen Sichtweisen, was es heißt, Belarusse zu sein, mit verschiedenen Erfahrungen des Widerstands gegen den russozentristischen Imperialismus. 

Das Neue Belarus wird wohl aus dem Chaos entstehen, es wird viele Diskussionen, Kränkungen und Machtkämpfe geben. Die Belarussen werden Parteien gründen und Politik erlernen. Doch das wird schon eine andere Geschichte sein, in der mein Weltbild, meine Werte und meine Professionalität in Forschung und Lehre einen Unterschied machen werden. Diese Zeiten möchte ich gern noch erleben.


6.

Nach dem Absatz über Belarus in der Zukunft bin ich eingeschlafen. Ich schlage die Augen wieder auf – und bin in meiner Wohnung, mit der allzeit gleichen Landschaft vor dem Fenster: langweilige Wohnblocks, Bäume, der Trampelpfad zum Laden. Ich koche mir Kaffee, setze mich wieder an den Computer und betrete Meta Universe Belarus 2.0. Dort lebe ich, ich habe einen digitalen Pass. Ich suche mir einen Avatar aus – heute bin ich unausgeschlafen, daher wähle ich die Belarussin mit Eulenkopf – und ab zum Arbeitsmeeting. Danach ins virtuelle College, an dem ich lehre (ich unterrichte schon so lange, dass ich sogar im Schlaf Vorlesungen halte). Dann noch zu einer digitalen Kundgebung vor dem virtuellen Parlament, ins Café mit Freunden und ins Kino in einen neuen Film. Dieses ganze erfüllte Leben verläuft vor dem realen Hintergrund des virtuellen Minsk, sogar die Wege sind vertraut.

Doch ich brauche etwas Richtiges zu essen, nichts Virtuelles. Ich ziehe die Daunenjacke über, gehe hinaus, schlendere zum Laden Obst.Gemüse, der noch genauso aussieht wie in meiner sowjetischen Kindheit, das Körpergedächtnis reproduziert sogar den Geruch. Am Eingang stehen grau gekleidete Leute Schlange. Die grimmige Verkäuferin öffnet den Hebel einer Eisenkiste, die aussieht wie ein Müllschlucker, und aus seinem Schlund fallen drei Kilogramm Nahrung. Schweigend halte ich ihr mein Einkaufsnetz hin, bezahle, drehe mich um und gehe wieder nach Hause.

Die virtuelle Welt kann dir nicht das Gefühl von Wärme und Unterstützung durch einen anderen geben. Deshalb gehen die digitalen Belarussen nachts in die Stadt hinaus und treffen sich an geheimen Orten – in Kellern, verlassenen Wohnungen, leerstehenden Fabrikhallen. Das sind natürlich extremistische Versammlungen – wie alle Menschenmengen, die weder Warteschlange noch Parade sind. 

Auf uns werden Razzien angesetzt. 

Doch wir treffen uns trotzdem, um einander schweigend zu umarmen. Und gehen genauso still wieder auseinander.


7.

Angeblich brennt im Zirkus während der Auftritte der Trapezkünstler immer ein rotes Lämpchen – irgendwo über den letzten Zuschauerreihen. Das Orchester spielt ohrenbetäubend, die Scheinwerfer blenden, du hängst mit dem Kopf nach unten, fliegst und überschlägst dich in schwindelnder Höhe ohne festen Halt unter den Füßen. Und behältst das rote Lämpchen im Blick, das dir Orientierung gibt: Hier ist oben, und dort, im Dunkeln, ist der Boden oder unten, bloß nicht verwechseln.

Was für eine passende und aktuelle Metapher für das Überleben in ungewissen Übergangszeiten.

Das rote Lämpchen – das sind unsere Werte, Hoffnungen und der unbedingte Wille, das Neue Belarus zu verwirklichen. Zudem steht es für unsere persönliche Entscheidung, was wir in diesen unendlichen trüben Zeiten tun möchten. Das Land verlassen und dort Belarusse bleiben oder uns selbst bewahren und hier etwas für die Zukunft tun. Mein rotes Lämpchen ist das Kind, das ich großziehe, das Buch, das ich schreibe und die Freunde und Gleichgesinnten, an denen ich Halt finde.

Manchmal überwältigt mich auf paradoxe Weise ein akutes Gefühl für die Fülle und gleichzeitige Zerbrechlichkeit des Lebens. Das Gefühl, leben zu müssen, jetzt, einfach leben. Weil der Mensch so verletzlich ist, weil man sich nicht allein an Automatismen durchs Leben hangeln darf, ohne wirklich zu sehen, wie schön unsere Welt und unsere Menschen sein können. 

Die Belarussen und Belarussinnen, die 2020 im ganzen Land im vollkommen friedlichen Protest auf die Straße gegangen sind, waren unglaublich schön.

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)