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„Es ist ein Wunder, dass die Belarussen als Nation überlebt haben”

 

War die Friedlichkeit der Proteste von 2020, die im Sommer vor vier Jahren begannen, ein Fehler? Wie unterscheiden sich die kulturhistorischen Prägungen in Belarus, Russland und in der Ukraine? Was sind die tragischsten Ereignisse in der belarussischen Geschichte? Warum konnte sich die belarussische Nation trotz aller Unkenrufe doch formieren?  

In einem Gespräch mit dem Online-Medium Gazeta.by nimmt der belarussische Journalist Alexander Klaskowski den Leser mit auf eine fulminante Tour durch die wechselhafte Historie seines Landes.

Source Salidarnasc/Gazeta.by

Bahdana Paulouskaja: Viele Wissenschaftler, mit denen wir im Kontext unseres Projektes sprechen konnten, merkten an, dass wohl keine Nation in ihrer Entwicklung so viele Hürden überwinden musste wie die belarussische. Und dennoch gibt es die Belarussen. Wie haben wir überlebt? 

Alexander Klaskowski: In gewisser Weise ist das einfach ein Wunder und ein Glücksfall, denn viele Völker sind verschwunden, ohne Nationen zu werden. Ich denke, dass den Belarussen ein bestimmter Charakterzug nützlich war, nämlich ihre Anpassungsfähigkeit. Die rauen Lebensbedingungen und viele feindliche Angriffe ließen die Fähigkeit entstehen, jedem Widerstand zum Trotz zu überleben.  

Zudem würde ich die Besonderheiten der belarussischen Natur anführen: Wälder und Sümpfe. Der Wald bot Rettung, er ernährte und schützte, wenn die Fremden kamen und die Siedlungen niederbrannten. Und wenn es keinen Wald in der Nähe gab, galt das Prinzip „versteck dich in den Kartoffeln“. Doch das bedeutet nicht, dass die Belarussen Angsthasen sind. Ich bestreite dieses Stereotyp, das einige verbreiten. Wir haben viele Helden in unserer Geschichte. Bei uns gab es das Rittertum, unser Adel hatte ruhmreiche Kampftradition, und selbst in der Sowjetarmee schätzte man die Belarussen als gute Soldaten.  

Wir überlebten auch, weil es in unserer Geschichte immer wieder Menschen gab, die den Belarussen halfen, sich als Nation zu verstehen. Diese Menschen wurden vernichtet, doch unser Land brachte immer neue, strahlende Persönlichkeiten hervor, Intellektuelle und Aktivisten. Dazu gehörten Kastus Kalinouski, Winzent Dunin-Marzinkewitsch, die Luzkewitsch-Brüder, Branislau Taraschkewitsch, Janka Kupala und Jakub Kolas, ebenso die Gründer der BNR und die Begründer der BNF. Auch Sjanon Pasnjak ist zu erwähnen. Heute stehen einige seiner Äußerungen in der Kritik, und viele meinen, seine politische Zeit sei längst vorbei, doch er bleibt in jedem Fall eine einzigartige Persönlichkeit. 

Am Ende von Gorbatschows Perestroika war die BNF sehr aktiv. Denken wir nur an die berühmte Sitzung der Unabhängigkeit im August 1991, in der sich die kleine, aber gut organisierte und politisch erfahrene Oppositionsfraktion der BNF durchsetzte, dass die Unabhängigkeitserklärung den Status eines Verfassungsgesetzes erhielt. Etwas später wurden die weiß-rot-weiße Flagge und das Pahonja-Wappen zu Staatssymbolen. 

Einer der großen Protestmärsche im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Dimitri Bruschko

Welche negativen Charakterzüge haben wir Belarussen? Was steht uns im Weg? 

Ich begegne der Frage nach einem nationalen Charakter grundsätzlich mit einer gewissen Skepsis. Da gibt es viele Vorurteile und Stereotype. Ich habe auch schon temperamentvolle Esten und phlegmatische Ukrainer getroffen. Schon zu Sowjetzeiten und auch heute noch heißt es, die Belarussen zeichne ihre Gastfreundlichkeit aus. Aber sind die Georgier etwa nicht gastfreundlich? Auch den Tschuktschen sagt man Gastlichkeit nach. Das ist also alles durchaus fragwürdig. Oder es wird dieses negative Stereotyp kultiviert, dass die Belarussen mehr als andere untereinander streiten. Als wären Menschen aus anderen Ländern auf Social Media höflicher. Überhaupt haben einige Belarussen diese Angewohnheit, irgendwelche negativen Eigenschaften des Nationalcharakters zu finden oder sich auszudenken und dann sich darüber zu beschweren. Das lehne ich ab. Ich sehe wenig Sinn darin, sich als Nation schlechtzumachen. Wir müssen unsere Vorzüge und Stärken hervorheben, um uns so zu motivieren und Menschen, die heute in einer sehr schwierigen Situation sind, optimistisch zu stimmen – ob in Belarus oder im Ausland, im erzwungenen Exil

Der Journalist Alexander Klaskowski / Foto © privat

Dann beschreiben Sie doch bitte unsere positiven Eigenschaften.

Als positiv betrachte ich die Besonnenheit, die vernünftige Vorsicht und die Gesetzestreue, die man uns Belarussen nachsagt. Wobei aus Werten oft auch Schwächen werden können. Besonnenheit kann zu Trägheit und Unentschlossenheit werden, daher rührt diese belarussische Redensart „Vielleicht gehört das ja so?”. Und Gesetzestreue wird von den heutigen Machthabern oft ausgenutzt, denen es, wie wir wissen, selbst „manchmal nicht nach Gesetz zumute ist“ (Lukaschenka). 

Hätten die Demonstrierenden 2020 versucht, den Palast der Unabhängigkeit zu stürmen, hätte es massenhaft Tote gegeben

Oder nehmen wir dieses Bild aus dem Jahr 2020, das im Netz und in den Medien viral ging, als protestierende Belarussen ihre Schuhe auszogen, bevor sie auf eine Parkbank stiegen. Es gab viel Kritik daran, besonders von Ukrainern, die meinten, wir sollten die OMON lieber mit Molotow-Cocktails angreifen. Aus meiner Sicht ist es nicht korrekt, den Belarussen vorzuwerfen, sie hätten im Jahr 2020 nicht entschlossen genug gehandelt. Während der Maidan-Aufstände in der Ukraine herrschten völlig andere Bedingungen als während der Proteste in Belarus. Die Ukrainer hatten es nicht mit einer so brutalen Diktatur zu tun, es gab finanzielle Mittel, um die Straßenaktionen über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten, denn einige Oligarchen setzten sich dafür ein, es gab starke unabhängige Medien, eine Opposition im Parlament, eine Spaltung der Eliten und vieles mehr. 

Hätten die Teilnehmenden dieses spontanen, friedlichen Aufstandes in Belarus 2020 Steine genommen und die OMON mit Steinen beworfen, hätten sie das Regime auch nicht überwältigt, sondern nur noch härtere Reaktionen erlebt. Auch so haben sehr viele stark gelitten. Hätten die Demonstrierenden im August 2020 versucht, den Palast der Unabhängigkeit zu stürmen, hätte es massenhaft Tote gegeben. Dort standen Schützenpanzer mit großkalibrigen Maschinengewehren bereit. Lukaschenka sagte später selbst, dass er nicht gezögert hätte, „die Armee zu aktivieren“, also die Protestierenden zu erschießen. Diese Proteste hatten also praktisch gar keine Chance.

Wie lässt es sich erklären, dass wir uns so von unseren Nachbarn unterscheiden, mit denen wir doch eigentlich eine gemeinsame Geschichte teilen, vom Großfürstentum Litauen über die Rzeczpospolita hin zum Russischen Reich und der UdSSR? 

Bei den Russen gab es die Periode des mongolisch-tatarischen Jochs, das auch in der Mentalität seine Spuren hinterlassen hat. Die belarussischen Gebiete wurden davon kaum tangiert, auch wurden sie vom Westen kaum von den Deutschen Ordensrittern heimgesucht, auch dank des Widerstands und einiger herausragender Siege. Während im Großfürstentum Moskau der Despotismus herrschte, galten bei uns die für die damalige Zeit fortschrittlichen Gesetze des Großfürstentums Litauen, unsere Städte erhielten das Magdeburger Stadtrecht. Mit anderen Worten, bei uns wurde damals schon die Achtung der Person, des Eigentums und des Rechts kultiviert. Heute macht dies den Unterschied zwischen Russen und Belarussen aus.  

Die Ukrainer hingegen sind eher ein südländisches Volk. Manchmal hört man, die Ukrainer seien die Italiener Osteuropas, die Belarussen wiederum die Deutschen Osteuropas. Das ist in meinen Augen ein treffender Vergleich. Die Ukrainer sind durchaus temperamentvoller, sie haben die Traditionen der freien Kosaken und der Rebellion, und das bedingt auch Besonderheiten in ihrer Geschichte und Gegenwart – wie sie beispielsweise im Jahr 2022, als ihnen eine Niederlage innerhalb von drei Tagen prophezeit wurde, den russischen Invasoren absolut unerwartet einen Schlag ins Gesicht versetzten. Wir dagegen haben mit den Litauern recht viel gemeinsam, auch wenn uns unsere slawische Herkunft von ihnen trennt. 

Gibt es ein besonders tragisches Ereignis in unserer Geschichte, das sich Ihrer Ansicht nach stärker als andere in der belarussischen Mentalität niedergeschlagen hat und dessen Nachwirkungen wir bis heute spüren? 

Die belarussische Geschichte ist insgesamt tragisch. Über Jahrhunderte hinweg wurde der Genpool der Nation dezimiert, weshalb ich immer wieder sage: Es ist ein Wunder, dass die Belarussen überlebt haben, dass sie bestehen und weiterhin wunderbare, große Persönlichkeiten hervorbringen. Hier kann man auf die Kriege mit den Moskowitern eingehen, als die Hälfte der Bevölkerung umkam. Das war eine riesige Tragödie. Aber diese Ereignisse liegen sehr lange zurück, die heutigen Belarussen wissen nur aus Büchern davon. 

Natürlich muss auch der Zweite Weltkrieg genannt werden. Das war ein kollektives Trauma, das bis heute spürbar ist. In meiner Kindheit und Jugend waren Gespräche über die Invasion der Hitlertruppen, über den Hunger und die Angst der Menschen vor Erschießung sehr häufige Themen unserer Eltern und Großeltern. Die Veteranen sprachen übrigens nicht so gern über den Krieg, und wenn sie doch etwas erzählten, zum Beispiel bei einem Gläschen nach der Banja, dann war da keine Romantik, kein Pathos, sondern einzig, dass es eine furchtbare, blutige Angelegenheit gewesen sei. Womit man heute in Russland und auch in Belarus hausieren geht, dieser verlogene Patriotismus mit „wir können es wiederholen“, das hat überhaupt nichts mit der wahren Erinnerung an den Krieg zu tun. Tatsächlich sind die Belarussen Pazifisten. Selbst soziologische Studien zeigen das, wenn es um die Einstellung zum Krieg in der Ukraine geht. Ich denke, das ist einer der Faktoren, der Lukaschenka und Putin davon abgehalten hat, das belarussische Militär in den Krieg hineinzuziehen.   

Heute stehen das Überleben der Nation und die Unabhängigkeit von Belarus auf dem Spiel 

Andererseits nutzt das jetzige Regime die belarussische Hauptsache-kein-Krieg-Einstellung auch für sich aus. Lukaschenka ist bemüht, sich als weisen und allmächtigen Friedensschützer in Belarus darzustellen, obwohl sein Regime in Wahrheit als Co-Aggressor dem Kreml in seinem ungerechten Krieg gegen die Ukraine hilft. Jedoch hält das Lukaschenka nicht davon ab, mit seinem Spitz irgendwo an die litauische Grenze zu fahren und zu erzählen, wie er das blauäugige Belarus vor den NATO-Horden und den Flüchtlingen bewahrt. Bei einem Teil der Bevölkerung hat er damit Erfolg. Auch Tschernobyl gehört zu den tragischen Ereignissen.

Und nicht zuletzt das frischeste kollektive Trauma – das Jahr 2020. Auf der einen Seite dieser Aufschwung von Nationalgefühl, Politisierung, das Moment des gesellschaftlichen Erwachsenwerdens, als sich zeigte, als wir als politische Nation mit einer starken Zivilgesellschaft auftraten. Auf der anderen Seite aber die schwere Niederlage des friedlichen Aufstandes, die bei Hunderttausenden, vielleicht sogar Millionen von Belarussen zu physischen und psychischen Traumata führte. Und heute, wo unser irres Regime den Grad der Repressionen und der Angst hochdreht, parallel dazu aber die Souveränität stückchenweise an Moskau abgibt, ist schon allein Lukaschenkas eine nationale Tragödie. Denn offensichtlich stehen das Überleben der Nation und die Unabhängigkeit von Belarus auf dem Spiel.

Was war das wichtigste Initialereignis für die Nationsbildung? 

Vielleicht mutet diese Antwort für einen Menschen mit demokratischer Grundhaltung paradox an, aber ich würde sagen: die Gründung der BSSR. Natürlich strengten die Bolschewiki dieses Projekt vor allem deshalb an, weil es vorher die BNR gegeben hatte. Aber, Hand aufs Herz, die BNR hatte keinen Erfolg, sie vermochte es nicht (und konnte es unter diesen Bedingungen wohl auch nicht schaffen), ein richtiger Staat zu werden. Sie war ein vornehmlich virtuelles Gebilde, auch wenn die historische Bedeutung dieses Momentums zweifellos enorm ist.  

Die Körnchen, die Ende der 1980er Jahre gesät wurden, die Samenkörner des nationalen Selbstbewusstseins und des staatsbürgerlichen Bewusstseins, sie traten 2020 ans Licht 

Die BSSR war natürlich nicht unabhängig. Zwar war die Souveränität der Unionsrepubliken in der sowjetischen Verfassung festgeschrieben, es gab sogar das Recht auf Austritt aus der UdSSR, aber wer glaubte damals daran, dass Moskau so etwas zulassen würde? Zu Stalins und Breschnews Zeiten war das selbstverständlich undenkbar, aber infolge der Perestroika Gorbatschows begann die Sowjetunion zu zerfallen, und Belarus erlangte seine Unabhängigkeit. Im Gegensatz zu beispielsweise Tatarstan und Baschkirien, die nur Autonome Sowjetrepubliken waren. In diesem Sinne erfüllte dieser sowjetische Status also doch einen Zweck.  

Zweitens würde ich noch die Perestroika, den Zerfall der Sowjetunion und die ersten Jahre der Unabhängigkeit gesondert herausstellen. Eben diese Phase der Wiedergeburt am Ende der 1980er und in der ersten Hälfte der 1990er war eine fantastische, einmalige Zeit. Dank der Belarussischen Volksfront (BNF), ihren engagierten Persönlichkeiten, den Anführern der nationalen Wiedergeburt, begannen Hunderttausende unserer Landsleute, sich vollkommen als Belarussen zu fühlen. Auch ich, wenn ich das so pathetisch sagen darf, bin in diesen Jahren zum bewussten Belarussen geworden. Diese politische Aktivität brach plötzlich wie ein Bach unter dem Eis hervor, es fanden Kundgebungen statt, die weiß-rot-weiße Flagge wehte über den Plätzen. Es war eine kurze, aber sehr intensive Periode.  

Und im Jahr 2020 funktionierte es auf fantastische Weise erneut. Die klassische, „alte“ Opposition, wie man sie nennt, hat zwar anscheinend ihren Einfluss verloren und tat sich bei den Straßenaktionen nicht sonderlich hervor. Aber diese Körnchen, die damals gesät wurden, die Samenkörner des nationalen Selbstbewusstseins und des staatsbürgerlichen Bewusstseins, sie traten 2020 ans Licht, und wir sahen über den Protestzügen ein Meer aus weiß-rot-weißen Fahnen.  

Der zweite Teil des Gesprächs mit Alexander Klaskowski erscheint am 6. August 2024 bei dekoder.  

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Den historischen Hintergrund für die Entstehung der BNR bildeten drei Faktoren: die im September 1915 erfolgte Besetzung belarusischer Gebiete durch das Deutsche Reich, die Machtergreifung der Bolschewiki in der Oktoberrevolution von 1917 und die Friedensverhandlungen beider Parteien in Brest-Litowsk, die sich von Dezember 1917 bis März 1918 erstreckten. Angetrieben vom Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung beriefen die Große Belarusische Rada, die Zentrale Belarusische Militär-Rada und das belarusische Exekutivkomitee der Westfront in der ersten Novemberhälfte einen Ersten Belarusischen Kongress nach Minsk ein. Dieser trat am 18. Dezember (nach julianischem Kalender am 5. Dezember) zusammen, um über die zukünftige Staatsform und das Verhältnis zu Russland zu beraten. Eingeladen waren 1872 Delegierte aus allen Teilen des Landes, die die unterschiedlichsten politischen Interessengruppen vertraten. Um einem potentiellen Separatismus einen Riegel vorzuschieben, lösten Truppen der Bolschewiki die Versammlung am 31. Dezember (nach julianischem Kalender am 18. Dezember) in dem Moment auf, als eine demokratische Republik ausgerufen werden sollte. Aktiv blieb indes deren neu geschaffenes Leitungsorgan, die Rada (dt. Rat).

Vertreter der belarusischen Nation waren in Brest-Litowsk nicht zugegen. Im Gegenteil: Das Territorium der historischen Landschaft Belarus wurde bei den Verhandlungen nicht einmal als eigenständige Größe erachtet. Zu einem Abschluss kamen die Verhandlungen erst, nachdem deutsche Truppen Mitte Februar 1918 die bis dato westlich von Minsk gelegene Frontlinie überschritten hatten und bis zum Dnjepr vorgedrungen waren. In der Folge wurde am 3. März in Ergänzung zu dem sogenannten Brotfrieden mit der Ukrainischen Volksrepublik ein Abkommen mit Sowjetrussland erzielt, das die neu eroberten Gebiete einer vorübergehenden deutschen Okkupation unterstellte. Dadurch stand die belarusische Rada vor einem Problem: Das Land, für das sie sich zuständig fühlte, war nun entlang der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Linie von Daugavpils (damals Dünaburg) bis Brest (zeitgenössisch Brest-Litowsk) in einen deutsch kontrollierten unabhängigen Hoheitsbereich im Westen und in ein deutsch besetztes, aber sowjetrussisches Gebiet im Osten geteilt. Zudem blieb der östliche Teil der sich am Fluss Prypjat erstreckenden Landschaft Polesien inklusive der Stadt Brest-Litowsk der Ukrainischen Volksrepublik überlassen.2

Übersichtskarte mit Unterscheidung von annektierten und besetzten Gebieten des gesamten Frontverlaufs nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk. Da die Deutschen im Februar 1917 bis an den Dnjepr vorgedrungen waren, gibt die Karte die unübersichtlichen Verhältnisse nur annäherungsweise wieder./ Karte © Gemeinfrei3

Die Basismanifeste

Am Vorabend der deutschen Einnahme von Minsk verabschiedete das Exekutivkomitee der Rada des Allbelarusischen Kongresses am 21. Februar 1918 das erste von drei Basismanifesten (belaruss. Ustaunaja hramata: wörtl. Statuten-Urkunde) der Völker der Belarus. Bereits der Titel implizierte eine multikulturelle Perspektive auf ein gemeinsames Hoheitsgebiet. Das Exekutivkomitee berief sich auf das Selbstbestimmungsrecht des belarusischen Volkes und respektierte die Autonomieansprüche anderer, namentlich nicht genannter Völker oder nationaler Minderheiten. Infrage kamen hierbei vor allem Polen, Russen und Juden. Entscheidend war die eigenmächtige Übertragung der Regierung an ein Volkssekretariat der Belarus. Dieses sollte die demokratischen Ziele fixieren, die nach dem Sturz der zaristischen Herrschaft möglich geworden waren, und eine Allbelarusische Konstituierende Versammlung einberufen.4 Allerdings untersagten die deutschen Besatzer bereits am 25. Februar das Gebaren des Volkssekretariats als Regierungsbehörde, welches in der Inbeschlagnahme des ehemaligen Gouvernementsgebäudes und dem Hissen der weiß-rot-weißen Fahne seinen Ausdruck gefunden hatte.5 Später zeigten sich die Deutschen aus pragmatischen Gründen gewillt, eine Vertretung des Volkes in sozialen und kulturellen Belangen zu tolerieren. Ausgeschlossen blieb eine eigenständige militärische Organisation für das neue Staatsgebilde. Unter diesen Voraussetzungen etablierte sich das Volkssekretariat gegen den anfänglichen Widerstand der deutschen Militärs als eine Art provisorische Regierung.

Weiß-rot-weiße Fahne am Balkon des Belarusischen Volkssekretariats, Minsk Februar 1918. Abbildung aus der Monatsschrift „Varta“ (dt. Warte) vom Oktober 1918 / Foto © gemeinfrei

Am 9. März 1918 wurde schließlich in einem zweiten Basismanifest der Völker der Belarus die Belarusische Volksrepublik ausgerufen. Dem Exekutivkomitee der Rada kam es diesmal darauf an, die staatliche Wiedergeburt der Belarus zu verkünden, die über drei Jahrhunderte zuvor angeblich ein Goldenes Zeitalter erlebt hatte. Nicht von ungefähr wählte die BNR neben der weiß-rot-weißen Fahne auch den Wappenreiter des Großfürstentums Litauen (Pahonja) als staatliches Symbol. Gleichzeitig wurde in Anlehnung an die ersten Dekrete der Sowjetmacht im Interesse einer Massenbasis unter Punkt 7 der Großgrundbesitz aufgehoben („Das Land wird ohne Kauf denjenigen übergeben, die es bearbeiten.“) und unter Punkt 8 der achtstündige Arbeitstag versprochen. Eine Provokation an die deutsche Besatzungsmacht wie an die Regierungsvertreter der benachbarten Länder stellte die Tatsache dar, dass neben der Unabhängigkeit auch das gesamte Siedlungsgebiet des belarusischen Volkes als Territorium beansprucht wurde. 

Die entscheidende Passage des wegen seiner Unabhängigkeitserklärung berühmt gewordenen dritten Basismanifests vom 25. März 1918 lautet:

Zusammen mit den Völkern Russlands haben die Völker der Belarus vor einem Jahr das Joch des russischen Zarismus abgeschüttelt, der die Belarus am stärksten unterdrückte und der, ohne das Volk zu fragen, unser Land in das Feuer eines Krieges gestürzt hat, welcher unsere Städte und Dörfer völlig zerstörte. […]

Von dieser Stunde an erklärt sich die Belarusische Volksrepublik zu einem unabhängigen und freien Staat. Die Völker der Belarus selbst werden durch ihre Konstituierende Versammlung über die künftigen nationalen Bindungen der Belarus entscheiden.

Damit widersetzte sich die Rada der in Brest-Litowsk beschlossenen Teilung ihres Landes. Stattdessen vertrat die Rada den Standpunkt des Ethnographen Efim Karski, der in seiner 1917 wiederveröffentlichten Karte aus dem Jahr 1903 ein über die damaligen Verwaltungsgrenzen hinausreichendes Territorium markiert hatte. Es umfasste nicht nur die Gebiete von Minsk, Wizebsk (russ. Witebsk) und Mahiljou (russ. Mogiljow), sondern auch Hrodna (russ. Grodno) mit Belastok (poln. Białystok), Wilnja (lit. Vilnius), Smalensk (russ. Smolensk) und Tscharnihau (ukr. Tschernihiw). Abstriche wurden lediglich in der vermeintlich mehrheitlich von Ukrainern bewohnten Region bei Brest gemacht.

Karskis „Etnographische Karte des weißrussischen Stammes“ von 1903 mit den belarusischen Mundarten / Karte © gemeinfrei6

Einig waren sich die selbsternannte belarusische Regierung und die politischen Interessenvertreter des Landes aber keinesfalls. Nach dem 25. März verließen mehrere Rada-Mitglieder die Regierung wegen ihres eigenmächtigen Schritts. Die 1917 gewählte, mehrheitlich von sozialistischen Parteien jenseits der Bolschewiki besetzte Stadtduma (d. h. Stadtrat) von Minsk distanzierte sich sogar ganz von der BNR. Ihrer Ansicht nach sollte die Sache eines belarusischen Nationalstaats einer Konstituierenden Versammlung vorbehalten bleiben. Dadurch sah sich die belarusische Regierung vor das Dilemma gestellt, weder bei den politisch aktiven Belarusen, noch bei den sogenannten nationalen Minderheiten über einen uneingeschränkten Rückhalt zu verfügen.

Handlungsspielräume

Deutsche Diplomaten und Militärs vertraten die Auffassung, dass die BNR nur durch den Segen der Sowjetregierung Legitimität erlangen könne,7 nach Erich Ludendorff war „die ganze Angelegenheit eine innere Frage des großrussischen Staates“8. Die deutsche Seite setzte auf Vertragstreue gegenüber Sowjetrussland, um eine Gefährdung des Brester Friedens zu vermeiden, in dem von einer Annexion belarusischer Gebiete nicht die Rede war. Damit war das Scheitern der BNR vorprogrammiert. Sie bemühte sich zwar, den Radius ihres Einflusses abzustecken, verfügte als Projekt einer elitären Minderheit aber weder über ein Territorium, noch über eine Massenbasis. In Betracht zu ziehen ist dabei aber auch die Flucht von über zwei Millionen Menschen beim Vorrücken der Deutschen im Kriegsjahr 1915. Angeheizt durch die russische Propaganda über Gräueltaten verlief diese in Richtung Osten, wobei die größtenteils orthodoxen Flüchtenden in Russland alles andere als einen Feind erblickten und sich dann auch von Lenins Versprechen von Frieden, Land und Brot angesprochen fühlten. Letzten Endes nahm im Laufe des Jahres 1918 nur die Ukrainische Volksrepublik eine de facto Anerkennung der BNR vor.

Um eine belarusische Identität zu kreieren hatte sich die BNR neben der Propagierung eines geographischen Bewusstseins auch um die Kodifizierung der „einfachen Sprache“ (prosta mova) des Volkes bemüht. Stützen konnte sie sich dabei auf eine von Branislau Taraschkewitsch in kyrillischer und lateinischer Schrift herausgegebene Belarusische Grammatik für die Schulen.9 Außerdem verfasste der Literat Wazlau Lastouski unter dem Titel Was jeder Belaruse wissen muss eine Art nationalen Katechismus. Dieser beinhaltet in rhetorisch-didaktischer Absicht ein Frage-Antwort-Spiel, das die Bauern motivieren sollte, in ihrem Selbstverständnis als „Hiesige“ (tuteischyja) über den Horizont des eigenen Dorfes hinauszuschauen.

Wer sind wir?
Wir sind Belarusen.
Wer sind die Belarusen?
Belarusen sind ein Volk des slawischen Stammes.
Warum werden wir Belarusen genannt?
Weil wir als Belarusen geboren worden, weil uns das belarusische Land ernährt, weil wir in der Belarus aufgezogen wurden und in ihr leben.
Was ist ein Belaruse?
Ein Belaruse ist derjenige, in dessen Adern belarusisches Blut fließt, und dessen Urgroßväter, Großväter und Vater Belarusen waren.10

Neben dem Aufbau einer Lokalverwaltung und der Reevakuierung der beim Vormarsch der Deutschen 1915 geflohenen Menschen, gehörten der Import von Lebensmitteln aus der Ukraine und die Einrichtung von Schulen zu den wichtigsten innenpolitischen Aufgaben des Volkssekretariats der BNR. Im Spätsommer 1918 rückte zudem die Frage der Aufstellung militärischer Verbände auf die Tagesordnung. Denn die Deutschen zeigten sich am 27. August 1918 in einem Ergänzungsvertrag zum Brester Frieden im Interesse einer Verlegung ihrer Truppen an die Westfront gewillt, den Sowjets einen Teil der okkupierten Gebiete zu überlassen.

Exil und Nachwirkung

In der Tat begann sich das deutsche Heer nach der Novemberrevolution in Deutschland gänzlich aus dem Osten zurückzuziehen. Am 1. Januar 1919 riefen die Bolschewiki eine belarusische Sowjetrepublik aus. Neun Tage später traf die Rote Armee in Minsk ein. Die Rada floh zunächst nach Litauen, wo sie noch 1919 von Estland und Finnland und 1920 von Litauen als legitime Regierung anerkannt wurde, und ging dann dauerhaft ins Ausland, wo sie bis heute als älteste Exilregierung der Welt existiert. Unter diesen Voraussetzungen kann die BNR als ein im Ansatz steckengebliebenes Projekt der belarusischen Nationalbewegung betrachtet werden. Es handelte sich um einen illegitimen Staat ohne festumrissenes Territorium und ohne Verfassung.

Doch die Symbole der BNR blieben. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden sie im Lande selbst noch zweimal wieder aufgegriffen. Als die deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkrieges im Dezember 1943 zu Propagandazwecken einen Weißruthenischen Zentralrat in Dienst stellten, wurde die weiß-rot-weiße Fahne missbraucht. Einem logischen Schluss hingegen entsprach es, dass sich die 1988 entstandene Belarusische Volksfront (BNF) auf die BNR von 1918 bezog. Auch die 1991 gegründete Republik Belarus bediente sich der Symbole der BNR selbstverständlich als Ausdruck ihrer Unabhängigkeit. Nach Lukaschenkos Machtantritt wurden sie 1995 jedoch durch ein umstrittenes Referendum abgeschafft. Nachdem ab den späten 1980er Jahren zuerst die Nationaldemokraten den 25. März nach dem Vorbild der Patrioten in der Diaspora als Tag der Freiheit (Dsen Woli) begingen, ist das Datum heute ein Bezugspunkt der gesamten belarusischen Opposition.


Anmerkung der Redaktion:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

 

Zum Weiterlesen:

Dornfeldt, Matthias/Seewald, Enrico (2020): Die Beziehungen zwischen Deutschland und Belarus 1916 bis 1925, Kaunas
Michaluk, Dorota/Rudling, Per Anders (2014): From the Grand Duchy of Lithuania to Belarusian Democratic Republic: the Idea of Belarusian Statehood, 1915-1919, in: The Journal of Belarusian Studies 7 (2014) Nr. 2, S. 3-36
Rudling, Per Anders (2015): The Rise and Fall of Belarusian Nationalism 1906-1931, Pittsburgh, PA 

1.Dieser Befund gilt für Deutschland wie für die Belarus gleichermaßen. Im deutschen „Handbuch der Geschichte Weißrusslands“ von 2001 findet die BNR nur am Rande Erwähnung. Ein Standardwerk aus polnischer Feder erschien erst 2010. Es bedurfte des Jubiläumsjahres von 2018, um der Republik Belarus selbst nennenswerte Publikationen hervorzubringen, vgl. Beyrau, Dietrich/Lindner, Rainer (Hrsg., 2001): Handbuch der Geschichte Weißrusslands, Göttingen und Michaluk, Dorota (2010): Białoruska Respublika Ludowa 1918–1920: U podstaw białoruskiej państwowości, Toruń sowie die Veröffentlichungen der Akademie der Wissenschaften und einer Gruppe unabhängiger Historikerinnen und Historiker: Belaruskaja Narodnaja Rėspublika – krok da nezaležnasci: Da 100-hoddzju abvjašėnnja: Histaryčny narys, Minsk 2018; Šljachami BNR: da 100-hoddzja abvjaščėnnja Belaruskaj Narodnaj Rėspubliki, Hrodna 2018 
2.vgl. einen, den belarusischen Gebieten gewidmeten Ausschnitt aus der originalen Kartenbeilage zum Friedensvertrag von Brest-Litowsk bei Zibert, Diana [Siebert, Diana] (2018): Karta iz priloženija k Brest-Litovskomu mirnomu dogovoru: pričiny neopublikovanija i ošibki v interpretacii teksta dokumenta v nemeckojazyčnoj istoriografii, in: Žurnal Belorusskogo gosudarstvennaja universiteta, Istorija (2018) Nr. 2, S. 48-56, hier S. 49 
3.Allen, George H. (1921): The Great War, Volume 5: The Triumph of Democracy, Philadelphia 
4.vgl. Faksimiles der drei Manifeste auf der Homepage der Rada der Belarusischen Volksrepublik 
5.Dornfeldt, Matthias/Seewald, Enrico (2020): Die Beziehungen zwischen Deutschland und Belarus 1916 bis 1925, Kaunas, S. 37 
6.Ėtnografičesaja karta belorusskogo plemeni. Sost. E. F. Karskij. Petrograd 1917 (Trudy komissii po izučenij plemennogo sostava naselenija Rossii 2) 
7.Dornfeldt, Matthias/Seewald, Enrico (2020): Die Beziehungen zwischen Deutschland und Belarus 1916 bis 1925, Kaunas, S. 40 und 43 
8.Dornfeldt, Matthias/Seewald, Enrico (2020): Die Beziehungen zwischen Deutschland und Belarus 1916 bis 1925, Kaunas, S. 38 
9.Belaruskaja hramatyka dlja škol: Vydan’je B. Taraškevič. Vil’nja 1918 
10.Lastoŭski, V. (1918): Što trėba vedac‘ kožnamu Belarusu? Mensk 
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Seit ihrer Unabhängigkeit 1991 unterhält die Republik Belarus enge politische, wirtschaftliche und militärische Beziehungen zu Russland. Und auch für den großen östlichen Nachbarn ist Belarus der zentrale regionale Verbündete. Seit der Niederschlagung der Proteste von 2020 und seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben sich die Abhängigkeiten von Belarus deutlich zu Gunsten Russlands verschoben. Eine Gnose von Nadja Douglas.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)