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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Wassil Bykau

Fotografien von der Beerdigung des belarusischen Schriftstellers Wassil Bykau im Juni 2003 gleichen Bildern, wie man sie seit Sommer 2020 aus Minsk kennt. Eine mehrtausendköpfige Kolonne zieht den Prospekt im Zentrum der Stadt entlang, viele der Teilnehmer schwenken weiß-rot-weiße Fahnen. Sie trauern um den wohl populärsten und wirkmächtigsten belarusischen Autor der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, um einen Chronisten der Wunden, die dieser Krieg in Belarus hinterlassen hat. Wer war dieser ehemalige Frontsoldat, in dessen Werk sich der Partisanenkampf und das Nationale, sozialistischer Realismus und Existenzialismus durchkreuzen? Und wie wurde aus ihm einer der schärfsten Kritiker der Regierung Alexander Lukaschenkos?

Der Schriftsteller Wassil Bykau 1999 in der Literaturwerkstatt Berlin / Foto © IMAGO/gezett

Geboren am 19. Juni 1924 in dem Weiler Bytschki im Norden von Belarus als Sohn einer einfachen Bauernfamilie, sind Kindheit und Jugend Bykaus durchzogen von Entbehrungen. Insbesondere die Erfahrung der Kollektivierung und das damit einhergehende Gefühl der Entmündigung verankern sich tief im Gedächtnis des jungen Bykau, ebenso das Verschwinden von Nachbarn im Zuge des Großen Terrors. Gleichzeitig macht er früh Bekanntschaft mit Literatur, mit den Büchern russischer und ausländischer Schriftsteller, bald aber auch mit Werken in seiner Muttersprache, dem Belarusischen, der Sprache seines zukünftigen Schreibens. Sein zeichnerisches Talent bringt ihn 1939 an die Kunstschule in Witebsk, wo in der Frühzeit der Sowjetunion neben Marc Chagall auch solch prägende Künstler der Avantgarde wie Kasimir Malewitsch oder El Lissitzky gelehrt hatten. Das Jahr, das er in Witebsk verbringt, stellt die einzige formale künstlerische Ausbildung dar, die Bykau Zeit seines Lebens erhält.

Mit dem Kriegsausbruch beginnt die prägendste Zeit in Bykaus Leben. Ab 1942 dient er in der Roten Armee. Er gehört der Generation von Soldaten an, unter der die Opferzahlen am höchsten sind: Von den Frontsoldaten der Jahrgänge 1922 bis1924 überleben nur drei Prozent den Krieg.1 Bykau selbst entgeht dem Tod, wird jedoch zweimal verwundet. Als Artillerieoffizier kämpft er in der Ukraine, Moldau, Rumänien und Ungarn, stößt zu Kriegsende bis nach Österreich vor. Er sieht jahrelang sein Zuhause nicht, erhält erst 1944 seinen ersten Brief. Für kurze Zeit hält ihn seine Familie durch eine falsch ausgestellte Sterbeurkunde sogar für tot. Auch nach dem Krieg ist die Armee noch lange Teil seines Lebens: Auf einige wenige als Künstler und Zeitungsredakteur im westbelarusischen Grodno (belarusisch: Hrodna) verbrachte Jahren folgt 1949 die erneute Einberufung, Bykau muss wiederum Jahre fern der Heimat verbringen. Erst 1955 wird er entlassen. Verhältnismäßig spät also, in seinen frühen Dreißigern, kann aus dem Soldaten Bykau endgültig der Schriftsteller Bykau werden – auch wenn diese Kategorien im Hinblick auf sein Werk durchaus fließend sind.

Bykau und die Leutnantsprosa

Bykau veröffentlicht ab den späten 1940er Jahren Prosatexte. Als wesentlich gelten jedoch erst die Erzählungen Shurauliny kryk (Der Schrei des Kranichs) von 1959 und Trezjaja raketa (Die dritte Leuchtkugel) von 1962, die ihn zu einem Hauptvertreter der sogenannten „Leutnantsprosa“ machen, des Schreibens ehemaliger Soldaten, die ihre Kriegserfahrung in literarischen Texten verarbeiten. Gerade Trezjaja raketa ist in der gesamten Sowjetunion ein großer Publikumserfolg. In diesen frühen Erzählungen deuten sich bereits viele der später herausragenden Qualitäten von Bykaus Schreiben an. In beiden befindet sich eine Gruppe von sechs Frontsoldaten in einer ausweglosen Situation, in der jede Entscheidung unter dem Einsatz von Leben und Tod getroffen werden muss. Vor diesem Hintergrund werden Fragen der Moral, von Verrat und Treue, von Selbstüberwindung und Selbstaufgabe gestellt und an Figuren verhandelt, deren Biografien exemplarisch in die jüngere sowjetische Geschichte zurückgreifen. Die Vergangenheit der Protagonisten kommt in den Fokus, der eine ein ehemaliger Kleinkrimineller, der andere ein Opfer der Kollektivierung, der dritte ein Kind des Apparats. Es wird erkundet, inwiefern sie im Moment der Entscheidung über ihre Vergangenheit und die ihnen zugefügten Kränkungen hinausgehen können. Bykaus Krieg, dies zeigen schon seine ersten Werke, ist ein Krieg aus der Ameisenperspektive, ohne große Siege, Pläne oder Heldentaten, sein Sinn ist fraglich. Moral konstituiert sich einzig im Kleinen, zwischen konkreten Individuen, in Reaktion auf extreme Situationen.

Seine so geartete Beschäftigung mit dem Krieg vertieft Bykau in den folgenden Jahrzehnten. Das führt allerdings dazu, dass seine Texte immer wieder mit der Zensur in Konflikt geraten, durch die alle literarischen Texte in der Sowjetunion müssen, denn sie stellen die klassische sowjetische Erzählung vom Sieg im Großen Vaterländischen Krieg infrage – ähnlich denen seines Landsmanns und Zeitgenossen Ales Adamowitsch. Besonders anfällig sind Bykaus Texte, weil sie vom Belarusischen ins Russische übersetzt werden müssen, um ein Publikum in den anderen Republiken der Sowjetunion zu erreichen. Trezjaja raketa etwa wird in der russischen Übersetzung stark sowjetisiert, und noch im hohen Alter ist Bykau sehr unzufrieden damit, dass seine Alpiiskaja balada (Alpenballade) von 1964 in einer qualitativ minderwertigen Übersetzung um die Welt ging – schließlich wurden die meisten Übersetzungen nicht auf Basis des belarusischen Originals, sondern der russischen Übersetzung angefertigt.2 Deswegen entschließt sich Bykau in den 1960ern dazu, seine Bücher selbst ins Russische zu übersetzen. Das gibt ihm zum einen Sicherheit im Hinblick auf die Qualität der Übersetzungen, zum anderen aber auch die Möglichkeit, seine Texte nicht nur in Belarus, sondern auch im Zentrum des literarischen Lebens, in Moskau, zur Erstveröffentlichung anzubieten. Damit schafft er sich einen gewissen Spielraum im Umgang mit der Zensur, kann doch manches Mal im Zentrum etwas gesagt werden, wovor man sich in der Provinz noch fürchtet.

Existenzialismus zwischen den Fronten

Beispielhaft zeigt sich dies an der Geschichte der Erzählung Sotnikau (Die Schlinge) von 1970. Diese hängt in Belarus so lange in der Zensur fest, dass Bykaus Selbstübersetzung in Moskau dank der verhältnismäßig liberalen Veröffentlichungspolitik der Zeitschrift Nowy mir deutlich vor dem stark zensierten Original erscheinen kann. In diesem Text kulminiert die Bykausche Auffassung vom Krieg. Die beiden Protagonisten, Rybak und Sotnikau, wie viele der Helden aus Bykaus mittlerer Schaffensphase Partisanen, werden von der belarusischen Hilfspolizei der deutschen Besatzer gefangengenommen. Während Sotnikau bereitwillig für seine Ideale in den Tod geht, läuft Rybak zu den Besatzern über. Sotnikau ist jedoch keine Geschichte über Gut und Böse, richtig und falsch, sondern eine über Uneindeutigkeiten, Zufälle, widrige Umstände und das Überleben in ihnen. Seinen Ausgang nimmt Rybaks Verrat damit, dass er seine Rolle als Opfer, dem nur der Tod als Ausweg bleibt, nicht akzeptieren kann:

Nein, mit dem Tod konnte er sich nicht abfinden, den konnte er um nichts in der Welt gehorsam hinnehmen, und wenn er das ganze Polizeigebäude in Trümmer schlug oder Partnou und diesen Stas mit bloßen Händen erwürgte. Sie sollten ihm nur zu nahe kommen …3

Der idealistische Tod Sotnikaus ebenso wie der unbedingte Überlebenswille Rybaks stellen die Frage nach dem Wert des zwischen die Fronten geworfenen Lebens und nach der Gültigkeit moralischer Kriterien in dieser Situation. Es ist die Radikalität dieser Frage, derentwegen Bykau oft in die Nähe der existentialistischen Philosophie gestellt wird. Dagegen erhebt Larissa Schepitkos Verfilmung unter dem Titel Woschoshdenije (Aufstieg), auf der Berlinale 1977 als einziger sowjetischer Film jemals mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, die Erzählung in biblische Höhen: Sie zeigt den Verrat Rybaks als Judasgeschichte in schneeverwehter Ausweglosigkeit, während Sotnikau als Jesus am Galgen stirbt.

Die von Bykau zugelassenen Uneindeutigkeiten beziehen sich jedoch ebenfalls auf die Mythen seiner eigenen Zeit – schließlich sind der Partisan und der Kollaborateur im sowjetischen Geschichtsbild eindeutig besetzte Figuren. Durch die Betonung des Zufalls und der fehlenden Selbstbestimmung im Krieg fordert er Raum für diejenigen ein, die nie Herren ihrer eigenen Existenz werden können, die im Aufmarschgebiet der Imperien leben und deshalb überhaupt erst gezwungen sind, eine der fremden Seiten zu wählen. Auch der Roman Snak bjady (Zeichen des Unheils) von 1982, in dem ein altes Bauernpaar zur Aufnahme deutscher Soldaten gezwungen wird und versucht, in der absoluten Entrechtung Leben und Würde zu bewahren, erzählt hiervon. In der letzten Szene dieses Romans setzt die Bäuerin Szepanida kurz vor ihrer Verhaftung den eigenen Hof in Flammen, auf dem sie eine selbstgebaute Bombe versteckt. Szepanida verbrennt, die Bombe aber wird zur Metapher für die kommende Rache der Geknechteten:

Niemand löschte die Feuersbrunst, das Gehöft brannte ungehindert die ganze Nacht und den folgenden Tag, die Polizisten ließen niemanden heran und hielten sich auch fern, denn sie befürchteten eine gewaltige Bombendetonation.

Die Bombe aber wartete auf ihre Stunde.4

Im Unterboden des sowjetischen Geschichtsbildes taucht mit Figuren wie Szepanida die Idee auf, die Bykau zu seinem Lebensende auf die große politische Bühne treiben soll – die belarusische Nation.

Der nationale Oppositionelle

Trotz seiner langen Armeezeit und seiner großen Publikumserfolge wird Bykau nie Mitglied der Kommunistischen Partei. Gleichzeitig gilt er ungeachtet der Implikationen seines Werkes nie als politischer Schriftsteller, wird von Staatsseite mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet, ist „Volksschriftsteller“ und von 1978 bis 1989 Mitglied des Obersten Sowjets der Belarusischen Sowjetrepublik. Diese Zweideutigkeit endet in der Perestroika. 1987 beginnt Bykau in der Unionspresse Artikel pro Demokratisierung zu schreiben, 1988 ist er einer der Mitbegründer der nationalistischen „Belarusischen Volksfront“ (BNF), wird zum Aktivisten einer zweiten nationalen „Wiedergeburt“. Diese stellt er sich als inklusiv und demokratisch vor – mit der belarusischen Sprache als einendem Element. 

Wassil Bykau bei einer Demonstration in Minsk, 24. März 1996 / Foto © Georgy LikhtarovichAuch im unabhängigen Belarus setzt er diese Aktivitäten fort, unterstützt bei der Präsidentschaftswahl 1994 den Kandidaten der BNF, Sjanon Pasnjak, und tritt nach dessen Niederlage von Anfang an als scharfer Kritiker Alexander Lukaschenkos auf, der das nationale Projekt der ersten Unabhängigkeitsjahre beendet, die Rolle der belarusischen Sprache einschränkt, demokratische Freiheiten zurücknimmt. 1995 bezeichnet er die Regierung Lukaschenkos als „Präsidentenjunta“5. Für seine Kritik wird er in der staatlichen Presse intensiv attackiert, findet für seine Bücher in Belarus keinen Verlag mehr. Später beschreibt er die Attacken so: „Diese Propaganda wollte aus mir nicht nur einen schlechten Schriftsteller, sondern auch einen ‚wahnsinnigen Nationalisten‘ machen, der davon träumt, Polen das Gebiet von Białystok und Russland Smolensk wegzunehmen.“6

Nach den Ereignissen des „Minsker Frühlings“ 1996 sieht er sich gezwungen, ins Exil zu gehen, lebt in den Folgejahren in Finnland, Deutschland und Tschechien, schreibt währenddessen an seiner Autobiografie, die 2002 unter dem Titel Douhaja daroha dadomu (Der lange Weg nach Hause) erscheint. Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich. 2003 kehrt er ein letztes Mal in seine Heimat zurück und stirbt dort am 22. Juni 79-jährig in einem Krankenhaus bei Minsk. Der Präsident ist auf Dienstreise. Die Straßen von Minsk füllen sich mit Menschen.


Anmerkung der Redaktion

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

 

Zum Weiterlesen:
Astrouskaja, Tatsiana (2019): Search for Truth: Vasil’ Bykaǔ, in: dies.: Cultural Dissent in Belarus (1968-1988): Intelligentsia, Samizdat and Nonconformist Discourses, Wiesbaden, S. 89–97
Gimpelevich, Zina J. (2005): Vasil Bykaǔ: His Life and Works, Montreal/London/Ithaca
McMillin, Arnold (1999): Vasil’ Bykaǔ: The Pain of Truth, in: ders.: Belarusian Literature in the 1950s and 1960s: Release and Renewal, Köln/Weimar/Wien, S. 205–230

1.Gimpelevich, Zina J. (2005): Vasil Bykaǔ: His Life and Works, Montreal/London/Ithaca, S. 33 
2.Saloska, Juras/Bykau, Wassil (2009): Kateharytschna ab’jauljaju, schto ja — pismennik belaruski..., in: Dsejaslou 39 
3.Bykau, Wassil (1976): Die Schlinge [übers. v. Thomas Reschke], in: ders.: Novellen. 2, Berlin, S. 5–171, hier S. 142 
4.Bykau, Wassil (1984): Zeichen des Unheils [übers. v. Thomas Reschke], Berlin, S. 349f. 
5.Nawumtschyk, Sjarhei (2015): Dsewjanosta pjaty, Radyjo Swaboda, S. 164 
6.Nowy tschas: Wassil Bykau pra Lukaschenku: Takoe urashanne, schto jon tolki utschora pryljazeu s kosmassu [übers. d. Verf.]
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)