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Leben und Sterben

 „Mir fällt es schwer, über die Gegenwart zu sprechen, wenn ich die Vergangenheit nicht verstehe.“ In diesem Satz liegt wohl die Quintessenz dessen, was Lesia Pcholka antreibt und was ihre Arbeit ausmacht. Die Belarussin beschäftigt sich als Fotografin, Künstlerin oder Projektmanagerin in unterschiedlichen Formen mit der Aufarbeitung der Geschichte ihres Landes, seiner Kultur und seinen Traditionen. Gerade hat sie mit ihrer Initiative VEHA nach drei Jahren Arbeit zwei Projekte zum Abschluss gebracht: Die beiden Bücher Dsjawotschy wetschar (dt. Jungfernabend) und Aposchni fatasdymak (dt. Das letzte Foto) umfassen 100 Fotografien aus der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Belarus zum Russischen Zarenreich gehörte, bis zur zweiten Hälfte der 1980er Jahre in der Sowjetunion. Die beeindruckenden Fotos von Hochzeiten und Beerdigungen stammen aus unzähligen Familienarchiven, die Lesia Pcholka in den vergangenen Jahren zusammentragen konnte. Die Bilder zeigen die Veränderung von Traditionen und Ritualen vor dem Hintergrund von gesellschaftspolitischen und kulturhistorischen Wandlungsprozessen in Belarus.

Quelle dekoder

1915–1925, Sluzk, Oblast Minsk. Aus dem Archiv von Dzmitry Sjarebrnikau. Alle Fotos © VEHA.by

dekoder: Mit was beschäftigt sich VEHA? Und wie ist das Projekt entstanden?

Lesia Pcholka: VEHA lässt sich am ehesten als eine unabhängige Initiative beschreiben, die sich mit Archivfotografie und der Alltagsgeschichte der Belarussen beschäftigt. Ich habe sie 2017 gegründet, und zwar als eine Reaktion auf die Unzugänglichkeit der belarussischen Archive und die einseitige Darstellung unserer Geschichte. Die wird vor allem über die Tragödie des Großen Vaterländischen Kriegs konstruiert und über die Angst, dieser könnte sich jederzeit wiederholen. Das öffentliche Narrativ beginnt natürlich mit dem einigermaßen bequemen Jahr 1941 und endet mit den Erben des Sieges (so heißt ein Saal im neuen Museum des Großen Vaterländischen Kriegs in Minsk, in dem Porträts des Präsidenten und seiner Familie ausgestellt sind). Die Erinnerungsmuster, die man uns bietet und die uns zugänglich sind, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Der Große Vaterländische Krieg aus Sicht der heutigen Regierung, das Großfürstentum Litauen als einer der Vorgängerstaaten von Belarus, aus Sicht der damaligen Opposition. VEHA aber geht es um die Bewahrung der unsichtbaren Geschichte, um das Verstehen der kulturellen Codes auf alten Fotografien und um die Beteiligung jedes einzelnen am Erhalt des kulturellen Erbes. Das erscheint dem gegenwärtigen Regime so langweilig, dass es nicht einmal unter die Zensur fällt. 

Woher kam die Idee für die Projekte zu den Hochzeits- und Beerdigungsfotos?

2018 haben wir das erste Buch Nailepschy bok (dt. Die beste Seite) herausgegeben, in dem wir Portraits von Belarussen vor gewebten Teppichen gesammelt haben. Es sind Aufnahmen von armen Leuten auf dem Land in der Zwischenkriegszeit. Sie konnten sich keinen Besuch im Fotostudio leisten, deswegen wird das auf den Fotos imitiert. Das erkennt man nur, wenn man den Kontext kennt, in dem diese Bilder entstanden sind. Auf den Fotos sehen wir schön gekleidete Menschen, die sich von ihrer „besten Seite“ zeigen, um für ihre Nachfahren ein positives Bild von ihrem Leben zu hinterlassen. Nach dem Erscheinen des ersten Buchs beschlossen wir, eine Retrospektive des gesamten 20. Jahrhunderts zusammenzustellen, und mit etwas Glück auch des auslaufenden 19. Jahrhunderts, um zu sehen, wie sich Generation um Generation verändert, um eine visuelle Chronologie zu kreieren. 

Das beliebteste Thema, das dokumentiert wird, war und ist die Hochzeit. Wir fingen also an, Hochzeitsfotos zu sammeln, um ein Narrativ anhand der Kommunikation von Frauen während der Erstellung eines wjasselnaga wjanka (eines Kranzes aus Kunstblumen für die Braut) herauszuarbeiten. Viele Hochzeitsbräuche, die heute tradiert werden, wurden künstlich geschaffen, ihnen liegt die Idee der Manipulation zugrunde, etwas zu lenken, durch sie werden Politik oder kapitalistische Prinzipien des Konsums umgesetzt. Nicht viele Menschen kennen die Herkunft, Bedeutung und Authentizität der Bräuche. Die Fotografien zeigen die Entstehungszeit von Bräuchen und ihr Verschwinden.  

Belarus ist ein sehr ländlich geprägtes Land, das viele Kriege und Katastrophen erlebt hat. Welchen Einfluss hat dies auf Familienarchive und die Fotografie an sich?

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war die Fotografie ein Privileg der Städter. Um sich fotografieren zu lassen, musste man ein Studio aufsuchen, diese befanden sich meist in der Nähe der Eisenbahn und wurden überwiegend von jüdischen Familien betrieben. Dorfbewohner konnten sich teure Fotografien oft nicht leisten, außerdem hätten sie dafür in die Stadt fahren müssen. Die meisten Familienarchive wurden seit Anfang der 1950er Jahre gesammelt – nachdem die Fotografie nicht mehr an Studios gebunden war und sich schnell ausbreitete. Nicht zu vergessen sind auch die zwei Weltkriege und die Repressionen, als in Familien viele Fotografien einfach vernichtet wurden, um bestimmte Verwandtschaftsbeziehungen zu verbergen. Derzeit erleben wir einen weiteren Verlust einer ganzen Schicht unserer visuellen Geschichte, weil die Menschen den Wert von Familienfotografie nicht sehen und sie dementsprechend auch nicht in der nötigen Form aufbewahren. 

Kümmern sich in Belarus nicht die staatlichen Museen um den Erhalt solcher Fotos?

Doch, aber sie betreiben das völlig losgelöst von den Menschen. Auf den Webseiten der Museen finden sich kaum Fotoarchive, und es ist nahezu unmöglich, an die Bestände zu kommen. Im vergangenen Jahr habe ich selbst versucht, mir die Frage zu beantworten, was denn mit unseren Museen nicht stimmt, und kam zu folgendem Ergebnis: Für 2017 bis 2020 gab es einen Plan, der eine Modernisierung der Museen und eine Digitalisierung der Exponate vorsah, es sollten Kataloge erstellt, neue Technologien bei der Ausstellungs- und Bildungsarbeit eingeführt werden (so stand es im Gesetz zu den Museen und Museumsbeständen der Republik Belarus). Das wurde auch umgesetzt – alle belarussischen Museen haben jetzt eine Webseite. Ich habe es selbst überprüft. Das Problem ist nur, dass es meistens Standardwebseiten sind, die nur ein Minimum an Information enthalten; Kataloge der Bestände finden sich dort gar nicht. Ich habe mit einigen Museumsmitarbeitern gesprochen und sie gefragt, warum die staatlichen Museen so einen schlechten Internetauftritt haben. Die häufigste Antwort war: Fehlende Mittel und die Machtvertikale im Entscheidungsprozess (der sogenannte Plan „von oben“, der einen strengen Rahmen vorgibt). Die zweithäufigste: Die Museumsmitarbeiter wollen die Exponate aus ihren Beständen nicht online präsentieren, weil sie befürchten, dass die Besucher dann nicht mehr ins Museum kommen. Ließe sich das erste mit finanziellen Mitteln lösen, so ist das zweite eine Frage des Umdenkens darüber, was ein Museum eigentlich ist – dafür braucht es Weiterbildung und Zeit. 

Auf den Beerdigungsfotos sind Freunde und Verwandte um den Sarg der Verstorbenen gruppiert. Was ist das für eine Tradition, und wie ist sie entstanden?

Das ist eine sehr alte Tradition, solche Fotos finden sich in fast jedem Familienalbum. Besonders verbreitet waren sie in den 1970er Jahren, damals wurden halbautomatische Kameras jedem zugänglich. Im Gegensatz zu europäischen Traditionen wurden Tote nie wie Lebende fotografiert, also mit offenen oder aufgemalten Augen, in netten Posen. So etwas zu tun, galt als ein beleidigender Umgang mit dem Körper des Verstorbenen. Die kanonisierten Traditionen waren ein Porträt vom Verstorbenen im Sarg in Nahaufnahme und unbedingt ein Foto von einer Menge an Verwandten um den Sarg. Während die Trauernden in den 1930er Jahren in die Kamera gesehen und posiert hatten, sahen sie später, ebenfalls posierend, den Toten an, um ihm quasi die letzte Ehre zu erweisen. Im Moment der Aufnahme gehörte es sich nicht, Gefühle zu zeigen (die Angehörigen weinten und klagten nicht); Menschen verschiedenen Alters sahen dem Verstorbenen ruhig und ernst ins Gesicht. Heute berichten sie, dass diese Kollektivaufnahmen angefertigt wurden, „um sich zu erinnern, wer bei der Beerdigung war“, und dass sie daran teilgenommen haben, weil es wichtig sei „Traditionen zu achten“. 

Werden solche Fotos auch heute noch gemacht?

Heute wollen viele Menschen ihre Angehörigen nicht tot auf Fotos sehen, sie wollen sie „lebend in Erinnerung behalten“, deswegen werfen sie die Fotos von Beerdigungen weg. Die Erinnerung an den Tod wird aus dem Leben der Menschen verdrängt, was typisch ist für eine postchristliche, atheistische Gesellschaft, die den Tod fürchtet. Beerdigungsfotos werden aus Familienalben entfernt und nur die ältere Generation bewahrt sie aus Tradition auf. Wobei diese Träger der Tradition selbst nicht wirklich erklären können, wozu sie es machen.

1900–1915, Minsk. Fotostudio von Hirscha Hatouskau. Aus dem Archiv von Ivan Maraŭjeŭ

1920–1939, Brest. Aus dem Archiv von Aliaksandr Paščuk

Links - 6. August 1933, Kamjanez, Oblast Brest. Aus dem Archiv von Andrej Astašenia. Rechts - 1936, Polesien. Traditionelles Hochzeitskleid. Foto von Zofja Chamiantoŭskaja. Aus dem Archiv der Stiftung für Archäologie der Fotografie

1930–1940, Oblast Vitebsk. Aus dem Archiv des historisch-kulturellen Museumskomplexes Polazk

1950–1960, Brest. Aus dem Archiv von Alieh Pališčuk

1950–1955 Staryna, Rajon Ljosna, Oblast Vitebsk. Aliena Bierzin and Viktar Varapajeŭ. Aus dem Archiv des Militärmuseums von Ljosna

1950–1960, Hradzianka, Asipovichy Rajon, Mogiljow Oblast. Aus dem Archiv der Familie Byčkoŭ

1955–1960 Dzivin, Rajon Kobryn, Oblast Brest. Familie Skraščuk. Aus dem Archiv von Iryna Dajnakova

1957–1958 Smorgonski Rajon, Oblast Hrodna. Archiv von  Siarhiej Lieskieć

Ca. 1956 Minsk. Viktar Paŭloŭski and Maryja Lučyna. Aus dem Archiv von Aliaksandr Lučyna

10. Oktober 1962, Mir, Kareličy Rajon, Oblast Hrodna. Uladzimir and Tamara Rafiejenka. Aus dem Archiv von Voĺha Kalasoŭskaja 1965–1985, Dsjarschynsk, Oblast Minsk. Foto von Ivan Šabalinski. Aus dem Archiv von Hienadź Dubatoŭka 1965–1985, Dsjarschynsk, Oblast Minsk. Foto von Ivan Šabalinski. Aus dem Archiv von Hienadź Dubatoŭka

1908, Vialikaja Bierastavica, Oblast Hrodna. Paviel Valyncevič am Grab seines Vaters. Aus dem Archiv von Dzmitry Siarebranikaŭ1940–1950, Asipovičy Rajon, Magіljoўskaja Oblast. Archiv von Hanna Čarapko1950–1952, Puhačy, Rajon Valožyn, Oblast Minsk. Aus dem Archiv von Dzmitry Siarebranikaŭ

1960–1970, Vialikaje Zarečča, Rajon Schklou, Magіljoўskaja Oblast. Fotografie von Ivan Daŭhin. Aus dem Archiv von Siarhiej Lieskieć

1964, Lushki, Rajon Sharkawshchyna, Oblast Vitebsk. Beerdigung von Uladzislaŭ Akušk. Aus dem Archiv von Iryna Skakoŭskaja

1960–1970, Vialikaje Zarečča, Rajon Schklou, Magіljoўskaja Oblast. Totengedenktag Raduniza. Foto von Ivan Daŭhin. Aus dem Archiv von Siarhiej Lieskieć

1985, Ljubіschtscha, Magіljoўskі Rajon, Magіljoўskaja Oblast. Aus dem Archiv von Andrej Karačun

1988, Brest. Foto von Vadzim Kačan. Aus dem Archiv von Vadzim KačanVorbereitung der VEHA-Ausstellung "Dziavočy viečar" („Jungefernabend”), FAF Galerie | WarschauFotos: Lesia Pcholka/VEHA
Bildredaktion: Andy Heller
Interview: dekoder-Redaktion
Übersetzung: Maria Rajer
Veröffentlicht am 27.05.2021

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Die Belarussische Volksrepublik

Nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs und vor der Gründung der zur Sowjetunion gehörenden Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik existierte für kurze Zeit die Belarusische Volksrepublik (BNR), das erste Projekt eines modernen Staates auf dem Territorium der heutigen Republik Belarus. Bis heute feiert die belarusische Opposition dessen Unabhängigkeitserklärung am 25. März 1918 als Tag der Freiheit (belarusisch: Dsen Woli), die weiß-rot-weiße Fahne der Republik ist ihr Protestsymbol. Doch abseits nebulöser Vorstellungen ist wenig über die Belarusische Volksrepublik bekannt1, die nie über den Zustand eines Rumpf-Staates ohne realen politischen Einfluss hinauskam. Geblieben ist ein Mythos, der zwischen deutscher Marionettenregierung und revolutionärer Volksvertretung schwankt. Aufklärung tut not.

Den historischen Hintergrund für die Entstehung der BNR bildeten drei Faktoren: die im September 1915 erfolgte Besetzung belarusischer Gebiete durch das Deutsche Reich, die Machtergreifung der Bolschewiki in der Oktoberrevolution von 1917 und die Friedensverhandlungen beider Parteien in Brest-Litowsk, die sich von Dezember 1917 bis März 1918 erstreckten. Angetrieben vom Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung beriefen die Große Belarusische Rada, die Zentrale Belarusische Militär-Rada und das belarusische Exekutivkomitee der Westfront in der ersten Novemberhälfte einen Ersten Belarusischen Kongress nach Minsk ein. Dieser trat am 18. Dezember (nach julianischem Kalender am 5. Dezember) zusammen, um über die zukünftige Staatsform und das Verhältnis zu Russland zu beraten. Eingeladen waren 1872 Delegierte aus allen Teilen des Landes, die die unterschiedlichsten politischen Interessengruppen vertraten. Um einem potentiellen Separatismus einen Riegel vorzuschieben, lösten Truppen der Bolschewiki die Versammlung am 31. Dezember (nach julianischem Kalender am 18. Dezember) in dem Moment auf, als eine demokratische Republik ausgerufen werden sollte. Aktiv blieb indes deren neu geschaffenes Leitungsorgan, die Rada (dt. Rat).

Vertreter der belarusischen Nation waren in Brest-Litowsk nicht zugegen. Im Gegenteil: Das Territorium der historischen Landschaft Belarus wurde bei den Verhandlungen nicht einmal als eigenständige Größe erachtet. Zu einem Abschluss kamen die Verhandlungen erst, nachdem deutsche Truppen Mitte Februar 1918 die bis dato westlich von Minsk gelegene Frontlinie überschritten hatten und bis zum Dnjepr vorgedrungen waren. In der Folge wurde am 3. März in Ergänzung zu dem sogenannten Brotfrieden mit der Ukrainischen Volksrepublik ein Abkommen mit Sowjetrussland erzielt, das die neu eroberten Gebiete einer vorübergehenden deutschen Okkupation unterstellte. Dadurch stand die belarusische Rada vor einem Problem: Das Land, für das sie sich zuständig fühlte, war nun entlang der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Linie von Daugavpils (damals Dünaburg) bis Brest (zeitgenössisch Brest-Litowsk) in einen deutsch kontrollierten unabhängigen Hoheitsbereich im Westen und in ein deutsch besetztes, aber sowjetrussisches Gebiet im Osten geteilt. Zudem blieb der östliche Teil der sich am Fluss Prypjat erstreckenden Landschaft Polesien inklusive der Stadt Brest-Litowsk der Ukrainischen Volksrepublik überlassen.2

Übersichtskarte mit Unterscheidung von annektierten und besetzten Gebieten des gesamten Frontverlaufs nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk. Da die Deutschen im Februar 1917 bis an den Dnjepr vorgedrungen waren, gibt die Karte die unübersichtlichen Verhältnisse nur annäherungsweise wieder./ Karte © Gemeinfrei3

Die Basismanifeste

Am Vorabend der deutschen Einnahme von Minsk verabschiedete das Exekutivkomitee der Rada des Allbelarusischen Kongresses am 21. Februar 1918 das erste von drei Basismanifesten (belaruss. Ustaunaja hramata: wörtl. Statuten-Urkunde) der Völker der Belarus. Bereits der Titel implizierte eine multikulturelle Perspektive auf ein gemeinsames Hoheitsgebiet. Das Exekutivkomitee berief sich auf das Selbstbestimmungsrecht des belarusischen Volkes und respektierte die Autonomieansprüche anderer, namentlich nicht genannter Völker oder nationaler Minderheiten. Infrage kamen hierbei vor allem Polen, Russen und Juden. Entscheidend war die eigenmächtige Übertragung der Regierung an ein Volkssekretariat der Belarus. Dieses sollte die demokratischen Ziele fixieren, die nach dem Sturz der zaristischen Herrschaft möglich geworden waren, und eine Allbelarusische Konstituierende Versammlung einberufen.4 Allerdings untersagten die deutschen Besatzer bereits am 25. Februar das Gebaren des Volkssekretariats als Regierungsbehörde, welches in der Inbeschlagnahme des ehemaligen Gouvernementsgebäudes und dem Hissen der weiß-rot-weißen Fahne seinen Ausdruck gefunden hatte.5 Später zeigten sich die Deutschen aus pragmatischen Gründen gewillt, eine Vertretung des Volkes in sozialen und kulturellen Belangen zu tolerieren. Ausgeschlossen blieb eine eigenständige militärische Organisation für das neue Staatsgebilde. Unter diesen Voraussetzungen etablierte sich das Volkssekretariat gegen den anfänglichen Widerstand der deutschen Militärs als eine Art provisorische Regierung.

Weiß-rot-weiße Fahne am Balkon des Belarusischen Volkssekretariats, Minsk Februar 1918. Abbildung aus der Monatsschrift „Varta“ (dt. Warte) vom Oktober 1918 / Foto © gemeinfrei

Am 9. März 1918 wurde schließlich in einem zweiten Basismanifest der Völker der Belarus die Belarusische Volksrepublik ausgerufen. Dem Exekutivkomitee der Rada kam es diesmal darauf an, die staatliche Wiedergeburt der Belarus zu verkünden, die über drei Jahrhunderte zuvor angeblich ein Goldenes Zeitalter erlebt hatte. Nicht von ungefähr wählte die BNR neben der weiß-rot-weißen Fahne auch den Wappenreiter des Großfürstentums Litauen (Pahonja) als staatliches Symbol. Gleichzeitig wurde in Anlehnung an die ersten Dekrete der Sowjetmacht im Interesse einer Massenbasis unter Punkt 7 der Großgrundbesitz aufgehoben („Das Land wird ohne Kauf denjenigen übergeben, die es bearbeiten.“) und unter Punkt 8 der achtstündige Arbeitstag versprochen. Eine Provokation an die deutsche Besatzungsmacht wie an die Regierungsvertreter der benachbarten Länder stellte die Tatsache dar, dass neben der Unabhängigkeit auch das gesamte Siedlungsgebiet des belarusischen Volkes als Territorium beansprucht wurde. 

Die entscheidende Passage des wegen seiner Unabhängigkeitserklärung berühmt gewordenen dritten Basismanifests vom 25. März 1918 lautet:

Zusammen mit den Völkern Russlands haben die Völker der Belarus vor einem Jahr das Joch des russischen Zarismus abgeschüttelt, der die Belarus am stärksten unterdrückte und der, ohne das Volk zu fragen, unser Land in das Feuer eines Krieges gestürzt hat, welcher unsere Städte und Dörfer völlig zerstörte. […]

Von dieser Stunde an erklärt sich die Belarusische Volksrepublik zu einem unabhängigen und freien Staat. Die Völker der Belarus selbst werden durch ihre Konstituierende Versammlung über die künftigen nationalen Bindungen der Belarus entscheiden.

Damit widersetzte sich die Rada der in Brest-Litowsk beschlossenen Teilung ihres Landes. Stattdessen vertrat die Rada den Standpunkt des Ethnographen Efim Karski, der in seiner 1917 wiederveröffentlichten Karte aus dem Jahr 1903 ein über die damaligen Verwaltungsgrenzen hinausreichendes Territorium markiert hatte. Es umfasste nicht nur die Gebiete von Minsk, Wizebsk (russ. Witebsk) und Mahiljou (russ. Mogiljow), sondern auch Hrodna (russ. Grodno) mit Belastok (poln. Białystok), Wilnja (lit. Vilnius), Smalensk (russ. Smolensk) und Tscharnihau (ukr. Tschernihiw). Abstriche wurden lediglich in der vermeintlich mehrheitlich von Ukrainern bewohnten Region bei Brest gemacht.

Karskis „Etnographische Karte des weißrussischen Stammes“ von 1903 mit den belarusischen Mundarten / Karte © gemeinfrei6

Einig waren sich die selbsternannte belarusische Regierung und die politischen Interessenvertreter des Landes aber keinesfalls. Nach dem 25. März verließen mehrere Rada-Mitglieder die Regierung wegen ihres eigenmächtigen Schritts. Die 1917 gewählte, mehrheitlich von sozialistischen Parteien jenseits der Bolschewiki besetzte Stadtduma (d. h. Stadtrat) von Minsk distanzierte sich sogar ganz von der BNR. Ihrer Ansicht nach sollte die Sache eines belarusischen Nationalstaats einer Konstituierenden Versammlung vorbehalten bleiben. Dadurch sah sich die belarusische Regierung vor das Dilemma gestellt, weder bei den politisch aktiven Belarusen, noch bei den sogenannten nationalen Minderheiten über einen uneingeschränkten Rückhalt zu verfügen.

Handlungsspielräume

Deutsche Diplomaten und Militärs vertraten die Auffassung, dass die BNR nur durch den Segen der Sowjetregierung Legitimität erlangen könne,7 nach Erich Ludendorff war „die ganze Angelegenheit eine innere Frage des großrussischen Staates“8. Die deutsche Seite setzte auf Vertragstreue gegenüber Sowjetrussland, um eine Gefährdung des Brester Friedens zu vermeiden, in dem von einer Annexion belarusischer Gebiete nicht die Rede war. Damit war das Scheitern der BNR vorprogrammiert. Sie bemühte sich zwar, den Radius ihres Einflusses abzustecken, verfügte als Projekt einer elitären Minderheit aber weder über ein Territorium, noch über eine Massenbasis. In Betracht zu ziehen ist dabei aber auch die Flucht von über zwei Millionen Menschen beim Vorrücken der Deutschen im Kriegsjahr 1915. Angeheizt durch die russische Propaganda über Gräueltaten verlief diese in Richtung Osten, wobei die größtenteils orthodoxen Flüchtenden in Russland alles andere als einen Feind erblickten und sich dann auch von Lenins Versprechen von Frieden, Land und Brot angesprochen fühlten. Letzten Endes nahm im Laufe des Jahres 1918 nur die Ukrainische Volksrepublik eine de facto Anerkennung der BNR vor.

Um eine belarusische Identität zu kreieren hatte sich die BNR neben der Propagierung eines geographischen Bewusstseins auch um die Kodifizierung der „einfachen Sprache“ (prosta mova) des Volkes bemüht. Stützen konnte sie sich dabei auf eine von Branislau Taraschkewitsch in kyrillischer und lateinischer Schrift herausgegebene Belarusische Grammatik für die Schulen.9 Außerdem verfasste der Literat Wazlau Lastouski unter dem Titel Was jeder Belaruse wissen muss eine Art nationalen Katechismus. Dieser beinhaltet in rhetorisch-didaktischer Absicht ein Frage-Antwort-Spiel, das die Bauern motivieren sollte, in ihrem Selbstverständnis als „Hiesige“ (tuteischyja) über den Horizont des eigenen Dorfes hinauszuschauen.

Wer sind wir?
Wir sind Belarusen.
Wer sind die Belarusen?
Belarusen sind ein Volk des slawischen Stammes.
Warum werden wir Belarusen genannt?
Weil wir als Belarusen geboren worden, weil uns das belarusische Land ernährt, weil wir in der Belarus aufgezogen wurden und in ihr leben.
Was ist ein Belaruse?
Ein Belaruse ist derjenige, in dessen Adern belarusisches Blut fließt, und dessen Urgroßväter, Großväter und Vater Belarusen waren.10

Neben dem Aufbau einer Lokalverwaltung und der Reevakuierung der beim Vormarsch der Deutschen 1915 geflohenen Menschen, gehörten der Import von Lebensmitteln aus der Ukraine und die Einrichtung von Schulen zu den wichtigsten innenpolitischen Aufgaben des Volkssekretariats der BNR. Im Spätsommer 1918 rückte zudem die Frage der Aufstellung militärischer Verbände auf die Tagesordnung. Denn die Deutschen zeigten sich am 27. August 1918 in einem Ergänzungsvertrag zum Brester Frieden im Interesse einer Verlegung ihrer Truppen an die Westfront gewillt, den Sowjets einen Teil der okkupierten Gebiete zu überlassen.

Exil und Nachwirkung

In der Tat begann sich das deutsche Heer nach der Novemberrevolution in Deutschland gänzlich aus dem Osten zurückzuziehen. Am 1. Januar 1919 riefen die Bolschewiki eine belarusische Sowjetrepublik aus. Neun Tage später traf die Rote Armee in Minsk ein. Die Rada floh zunächst nach Litauen, wo sie noch 1919 von Estland und Finnland und 1920 von Litauen als legitime Regierung anerkannt wurde, und ging dann dauerhaft ins Ausland, wo sie bis heute als älteste Exilregierung der Welt existiert. Unter diesen Voraussetzungen kann die BNR als ein im Ansatz steckengebliebenes Projekt der belarusischen Nationalbewegung betrachtet werden. Es handelte sich um einen illegitimen Staat ohne festumrissenes Territorium und ohne Verfassung.

Doch die Symbole der BNR blieben. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden sie im Lande selbst noch zweimal wieder aufgegriffen. Als die deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkrieges im Dezember 1943 zu Propagandazwecken einen Weißruthenischen Zentralrat in Dienst stellten, wurde die weiß-rot-weiße Fahne missbraucht. Einem logischen Schluss hingegen entsprach es, dass sich die 1988 entstandene Belarusische Volksfront (BNF) auf die BNR von 1918 bezog. Auch die 1991 gegründete Republik Belarus bediente sich der Symbole der BNR selbstverständlich als Ausdruck ihrer Unabhängigkeit. Nach Lukaschenkos Machtantritt wurden sie 1995 jedoch durch ein umstrittenes Referendum abgeschafft. Nachdem ab den späten 1980er Jahren zuerst die Nationaldemokraten den 25. März nach dem Vorbild der Patrioten in der Diaspora als Tag der Freiheit (Dsen Woli) begingen, ist das Datum heute ein Bezugspunkt der gesamten belarusischen Opposition.


Anmerkung der Redaktion:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

 

Zum Weiterlesen:

Dornfeldt, Matthias/Seewald, Enrico (2020): Die Beziehungen zwischen Deutschland und Belarus 1916 bis 1925, Kaunas
Michaluk, Dorota/Rudling, Per Anders (2014): From the Grand Duchy of Lithuania to Belarusian Democratic Republic: the Idea of Belarusian Statehood, 1915-1919, in: The Journal of Belarusian Studies 7 (2014) Nr. 2, S. 3-36
Rudling, Per Anders (2015): The Rise and Fall of Belarusian Nationalism 1906-1931, Pittsburgh, PA 

1.Dieser Befund gilt für Deutschland wie für die Belarus gleichermaßen. Im deutschen „Handbuch der Geschichte Weißrusslands“ von 2001 findet die BNR nur am Rande Erwähnung. Ein Standardwerk aus polnischer Feder erschien erst 2010. Es bedurfte des Jubiläumsjahres von 2018, um der Republik Belarus selbst nennenswerte Publikationen hervorzubringen, vgl. Beyrau, Dietrich/Lindner, Rainer (Hrsg., 2001): Handbuch der Geschichte Weißrusslands, Göttingen und Michaluk, Dorota (2010): Białoruska Respublika Ludowa 1918–1920: U podstaw białoruskiej państwowości, Toruń sowie die Veröffentlichungen der Akademie der Wissenschaften und einer Gruppe unabhängiger Historikerinnen und Historiker: Belaruskaja Narodnaja Rėspublika – krok da nezaležnasci: Da 100-hoddzju abvjašėnnja: Histaryčny narys, Minsk 2018; Šljachami BNR: da 100-hoddzja abvjaščėnnja Belaruskaj Narodnaj Rėspubliki, Hrodna 2018 
2.vgl. einen, den belarusischen Gebieten gewidmeten Ausschnitt aus der originalen Kartenbeilage zum Friedensvertrag von Brest-Litowsk bei Zibert, Diana [Siebert, Diana] (2018): Karta iz priloženija k Brest-Litovskomu mirnomu dogovoru: pričiny neopublikovanija i ošibki v interpretacii teksta dokumenta v nemeckojazyčnoj istoriografii, in: Žurnal Belorusskogo gosudarstvennaja universiteta, Istorija (2018) Nr. 2, S. 48-56, hier S. 49 
3.Allen, George H. (1921): The Great War, Volume 5: The Triumph of Democracy, Philadelphia 
4.vgl. Faksimiles der drei Manifeste auf der Homepage der Rada der Belarusischen Volksrepublik 
5.Dornfeldt, Matthias/Seewald, Enrico (2020): Die Beziehungen zwischen Deutschland und Belarus 1916 bis 1925, Kaunas, S. 37 
6.Ėtnografičesaja karta belorusskogo plemeni. Sost. E. F. Karskij. Petrograd 1917 (Trudy komissii po izučenij plemennogo sostava naselenija Rossii 2) 
7.Dornfeldt, Matthias/Seewald, Enrico (2020): Die Beziehungen zwischen Deutschland und Belarus 1916 bis 1925, Kaunas, S. 40 und 43 
8.Dornfeldt, Matthias/Seewald, Enrico (2020): Die Beziehungen zwischen Deutschland und Belarus 1916 bis 1925, Kaunas, S. 38 
9.Belaruskaja hramatyka dlja škol: Vydan’je B. Taraškevič. Vil’nja 1918 
10.Lastoŭski, V. (1918): Što trėba vedac‘ kožnamu Belarusu? Mensk 
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