Um 19:07 Uhr am 24. Juni vermeldete der Pressedienst Alexander Lukaschenkos, dass Putin ihn am Morgen über die Situation im Süden Russlands telefonisch informiert und dass man „gemeinsame Handlungsschritte“ vereinbart habe. Im Anschluss soll Lukaschenko in Absprache mit Putin Gespräche mit Jewgeni Prigoshin, dem Chef der Wagner-Gruppe, geführt haben. „Die Verhandlungen dauerten den ganzen Tag über an.“
Rund drei Stunden später äußerte sich auch der Kreml-Sprecher: Lukaschenkos Vermittlungsbemühungen, so Dimitri Peskow, dienten dazu, ein Blutvergießen zu vermeiden. Es sei sein „persönlicher Initiativvorschlag“ mit Prigoshin zu verhandeln, der belarussische Machthaber kenne den Wagner-Chef seit über 20 Jahren. Obwohl Putin den Wagner-Chef noch am morgen der Meuterei eines „Stichs in den Rücken“ Russlands bezichtigt hatte, sollte Prigoshin nun laut Peskow Amnestie erhalten und „nach Weißrussland gehen”. Bislang gibt es jedoch keinen Hinweis darauf, dass der Wagner-Chef tatsächlich dort angekommen ist.
Die belarussischen Propaganda-Organe preisten Lukaschenko gemeinsam mit den russischen jedenfalls als Retter, weniger begeistert zeigte sich dagegen die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja: „Die Ankunft des Kriegsverbrechers Prigoshin in Belarus ist ein weiteres Element der Instabilität. Wir dürfen nicht vergessen, wie Lukaschenko vor den Wahlen 2020 33 Wagner-Söldner festnehmen ließ. Belarus braucht nicht noch mehr Kriminelle und Banditen, sondern Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit für unser Volk.“ Sie betonte, dass Lukaschenko Belarus wieder einmal zur „Geisel der Spiele und Kriege anderer Leute" gemacht habe.
Auch nicht wenige westliche Medien werten Lukaschenkos mutmaßliche Vermittlerrolle als „Gewinner-Coup“, mit dem er seine Position gestärkt habe. Dennoch bleibt die Frage: Inwieweit war der belarussische Machthaber tatsächlich an den Verhandlungen mit Prigoshin beteiligt? In einer Recherche von Meduza, die sich auf Quellen im Umfeld des Kreml stützt, wird Lukaschenkos Einbeziehung in die Vermittlergruppe damit erklärt, dass Prigoshin Verhandlungen mit „ranghöchsten Entscheidern“ gefordert habe, Putin selbst aber ein direktes Gespräch mit ihm abgelehnt habe. Wie entscheidend Lukaschenkos Beitrag war, bleibt also nebulös und fragwürdig.
Der belarussische Politanalyst Alexander Klaskowski vermutet: „Tatsächlich ist es möglich, dass der Kreml auch bei dieser Verschwörung einfach den belarussischen Vasallen eingesetzt hat.“ Auch Artyom Shraibman meint in seiner kurzen Analyse für das belarussische Online-Medium Zerkalo, dass man den tatsächlichen Beitrag Lukaschenkos nicht überbewerten sollte. Zudem analysiert er die möglichen Auswirkungen für Belarus und Russland selbst.
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Erstens: Die Pressedienste von Lukaschenko und Putin sprechen von einer unglaublichen Rolle des belarussischen Politikers bei der Rettung Russlands vor dem Chaos. Diese Dienste sind allerdings nicht die zuverlässigsten Informationsquellen für diesen Krieg.
Tatsächlich war Lukaschenkos Rolle wohl eher technisch: Er erfüllte seine Aufgaben, diente den Vereinbarungen der Vermittler, die für beide Seiten des Konflikts von größerem Gewicht sind – und die der Kreml nicht in das Licht der Öffentlichkeit rücken will. Im russisch[sprachig]en Telegram sprechen viele von einer Vermittlung durch Putins Getreuen – Ex-Leibwächter und heute Gouverneur der Oblast Tula, Alexej Djumin.
Zweitens: „Prigoshin geht nach Weißrussland“ bedeutet nicht, dass Prigoshin in Belarus bleiben wird. Was soll er da auch?
Wenn in unserer Santa Barbara-Version des Letzten Tages nicht doch noch eine überraschende Wendung eintritt, wird er dort erstmal ankommen, durchatmen – und dann wird er schon seine Lücken finden und sich wieder auf den Weg machen.
Drittens: Da Lukaschenko bei den Regime-loyalen Belarussen jetzt mehr Unterstützung hat und auf die Dankbarkeit Moskaus für seine (doch nicht ganz unbedeutenden) Dienste zählen kann, geht er aus der Sache als Gewinner hervor. Zumindest in naher Zukunft.
Viertens: In etwas weiterer Zukunft wird das belarussische Schicksal von der Entwicklung des russischen Regimes abhängen, das heute den schwersten politischen Schlag seit Jahrzehnten erlitten hat, weil er das Ausmaß seiner Zerbrechlichkeit, seiner inneren Konflikte und seines Chaos offenbart hat.
Dabei wissen wir noch gar nicht, wie diese Krise enden wird, welche Zugeständnisse Putin unter dem Druck des Wagner-Marsches noch machen wird, wie sich dies auf die Haltung anderer Teile des Systems ihm gegenüber und auf die Moral der russischen Armee wie auch aller anderen bewaffneten Russen auswirken wird.
Ein Putschversuch? Eine große Inszenierung? Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja ordnet Prigoshins „Marsch der Gerechtigkeit“ auf Moskau ein – als Akt der Verzweiflung des Wagner-Chefs.
Vor 30 Jahren trat Alexander Lukaschenko nach gewonnener Wahl sein Amt als Präsident der Republik Belarus an. Er schaffte demokratische Freiheiten ab und errichtete ein autokratisches System. Waleri Karbalewitsch über Lukaschenkos Machtwillen und Gründe für die Beständigkeit der Diktatur.
Welche Szenarien sind denkbar, wenn Lukaschenko plötzlich stirbt? Gibt es einen designierten Nachfolger? Wie würde die Machtelite reagieren, wie Russland? Hätte die Opposition eine Chance, einen Machtwechsel zu erreichen? Der Politikanalyst Artyom Shraibman sucht Antworten auf schwierige Fragen.
Seitdem Lukaschenko sich mit dem Beginn der Niederschlagung der Proteste 2020 im eigenen Land die Rückendeckung Putins sicherte, wächst auch der Einfluss Russlands in Belarus. Wie stark ist die Ideologie der Russki Mir mittlerweile? Eine Analyse von Alexander Klaskowski.
Die „russische Welt“ war ursprünglich ein Kulturkonzept. Bereits seit den 2000er Jahren wird es jedoch zur Durchsetzung des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum eingesetzt. Historiker Ilja Budraitskis skizziert die Geschichte des russki mir von seiner Entstehung bis zum Angriffskrieg gegen die Ukraine.
2025 soll es in Belarus wieder Präsidentschaftswahlen geben: Was bedeutet dies für Swetlana Tichanowskaja, für die Zukunft der Opposition und für das repressive System von Lukaschenko? Alexander Klaskowski analysiert.
Die Organisation Belaja Rus hat sich als Partei konstituiert. Welche Rolle spielt sie im Machtsystem von Alexander Lukaschenko? Könnte sie nach chinesischem Vorbild zu einer Einheitspartei werden? Diese und weitere Fragen beantwortet Kamil Kłysiński in einem Bystro.
Was ist der Unterschied zwischen einem Staat und einer Räuberbande? Diese Frage hat der Philosoph Augustinus im 5. Jahrhundert gestellt. Seine Antwort gehört zu den geläufigsten politikwissenschaftlichen Abgrenzungen: Es ist das Recht, was einen Staat ausmacht, eine Räuberbande steht vor allem für Willkür.
Im Rechtsstaatlichkeits-Ranking von The World Justice Project besetzt Russland 2022 Platz 107 von 140. Viele wissenschaftliche und journalistische Stimmen beschreiben das System Putin seit über anderthalb Jahrzehnten als eine Art Selbstbedienungsladen für die politische Elite: Die innere Stabilität dieser Kleptokratie würden zwar bestimmte ponjatija gewährleisten – eine aus dem Kriminellenjargon entlehnte Formel für einen informellen Verhaltenskodex. Nach Außen agiere das System jedoch oft in der rechtlichen Grauzone oder schlicht als ein Willkürregime. Aus dieser Logik heraus kann man auch den Aufstieg von Jewgeni Prigoshin erklären – und sein Ende.
Eigentlich ahndet das russische Strafgesetzbuch Söldnertum und Existenz privater Militärfirmen mit bis zu 15 Jahren Haft. Gefragt nach dem berüchtigsten Militärunternehmen Russlands sagte auch Wladimir Putin bei einer Pressekonferenz 2018: „Was Wagner angeht – [...] alles muss im Rahmen des Gesetzes bleiben“.1
Zu dieser Zeit sind russische Söldner der Gruppe Wagner laut zahlreichen Hinweisen an den Kriegen in der Ostukraine, in Syrien, im Sudan und in der Zentralafrikanischen Republik beteiligt. Und der russische Unternehmer Jewgeni Prigoshin geht genauso wenig auf die Gerüchte ein, dass er der Gründer, Eigentümer und Leiter dieses Militärunternehmens sei, wie auch auf die Gerüchte, dass er hinter der sogenannten Trollfabrik stecke. Diese Hinweise liefern unter anderem offenbar auch2 US-amerikanische Geheimdienste, so dass die USA im Februar 2018 den Vorwurf gegen Prigoshin erheben, dass seine Unternehmen die US-Wahl 2016 manipulierten.3
Schon seit Dezember 2016 steht Prigoshins Name auf einer US-Sanktionsliste, seit 2017 auch seine weiteren Unternehmen, wegen Beteiligung am Krieg im Osten der Ukraine. Auf dieselbe Liste kam 2017 auch die Gruppe Wagner. Im Februar 2023 hat die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft außerdem ein Ermittlungsverfahren wegen Kriegsverbrechen gegen Prigoshin eingeleitet.
Putins Koch, Kriegsverbrecher, Trumps Königsmacher, Russlands Cheftroll, -Propagandist, -Desinformator? Die Liste der Zuschreibungen und Vorwürfe an Prigoshin ist lang. Dabei waren seine Machenschaften lange Zeit ziemlich undurchsichtig, und erst im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine wurde Prigoshin wirklich zu einem öffentlichen politischen Akteur.
„Koch“
Es ist offenbar ein unternehmerisch kluger Schritt von Jewgeni Prigoshin (geb. 1961), als er 1990 den – laut Eigenaussage – ersten Hotdog-Stand Leningrads aufmacht. Das Geschäft läuft, in kürzester Zeit betreibt Prigoshin schon eine kleine Hotdog-Kette, hinzu kommen später eine Supermarktkette und Restaurants.
Dabei ist der Jungunternehmer 1990 erst seit zwei Jahren aus dem Gefängnis raus: 1979 wurde er wegen Diebstahl zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, 1981 wegen Diebstahl, Raub und Betrug zu 13 Jahren Haft. Angeblich soll Prigoshin laut Eigenaussage in den 2000er Jahren rehabilitiert worden sein, dass er deshalb aber wirklich eine weiße Weste habe, ist allerdings zweifelhaft.4
Fest steht jedenfalls, dass Prigoshin 1988 begnadigt wird, 1990 ist er wieder in Leningrad, wo er angeblich Wladimir Putin kennenlernt, der in der Stadtverwaltung unter anderem für Glücksspiel-Lizenzen zuständig ist. Prigoshin engagiert sich auch im Casino-Business, und dem soll die frische Männerfreundschaft mit Putin förderlich sein. Jedenfalls isst Putin oft in Prigoshins Restaurants, und aus dem Wirt wird alsbald ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann. Er baut einen Catering-Service auf, betreibt prestigeträchtige Wirtshäuser und das Schiffrestaurant New Island, wo Putin unter anderem mit George Bush und Gerhard Schröder speist. Im Restaurant Staraja Tamoshnja, das ebenfalls Prigoshin gehört und als eine der ersten Adressen Sankt Petersburgs gilt, feiert Putin seine Geburtstage, Prigoshin betreibt das einzige private Restaurant im russischen Weißen Haus und hat seinen Spitznamen weg – Putins Koch.
„Troll“
Den Grundstein für seinen zweiten Spitznamen soll Prigoshin bereits zu jener Zeit gelegt haben, als der Begriff Trolling noch gar nicht richtig geläufig ist. 2011 beklagen sich Eltern aus Sankt Petersburg und Moskau im Netz über das Schulessen ihrer Kinder. Prigoshins mit Catering beauftragte Mischholding Concord steht am Pranger. Laut Recherchen engagiert der Gastronom daraufhin Trolle, die das Netz mit Lobliedern auf das Schulessen fluten. Das Prinzip funktioniert – die kritischen Kommentare der Eltern werden entweder auf die Schippe genommen oder gehen einfach in der Flut unter. Concord Catering wird zum Quasi-Monopolisten für Schulessen in Russlands Hauptstädten und sorgt auch für über 90 Prozent der Verpflegung russischer Streitkräfte.5
Rund zwei Jahre nach dem Vorfall mit dem Schulessen wird zum ersten Mal über die sogenannte Trollfabrik gemunkelt. Vor dem Hintergrund des Euromaidan nimmt sie mutmaßlich unter dem Dach der Agentur für Internet-Recherchen in der Petersburger Uliza Sawuschkina Fahrt auf. 2015 wird die Agentur in Glawset unbenannt, laut Gerüchten soll diese „Nachrichtenagentur“ Teil einer Medienholding sein, die Jewgeni Prigoshin gehört. Sie heißt übersetzt Föderale Nachrichtenagentur (FAN), wurde 2014 gegründet und schaffte es innerhalb kürzester Zeit in die Top Ten der am meisten zitierten russischen Medien. Oft heißt die FAN schlicht Medienfabrik, laut einer investigativen Recherche von RBC ging sie aus der Trollfabrik hervor.6
Beobachter vermuten, dass diese Trollfabrik hinter den russischen Netz-Angriffen im französischen Wahlkampf steckte oder auch hinter der auffallenden Menge russlandfreundlicher Social-Media Kommentare zu Themen wie dem Krieg im Osten der Ukraine. Auch die Überflutung von Angela Merkels Instagram-Account im Jahr 20157 soll aus dem unscheinbaren Gebäude an der Uliza Sawuschkina in Sankt Petersburg erfolgt sein. Da die FAN keine Gewinne erwirtschaftet, gilt sie Vielen als eine „patriotische Holding“, ein ehemaliger FAN-Redakteur meinte: „Gewinn wird nicht immer dort gemacht, wo auch Inhalte gemacht werden.“8 Sprich: Die FAN ist kein Medium im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr ein Propaganda- und Desinformationsinstrument.
„Patriot“
„Danke den geehrten amerikanischen Kameraden. Ich bin froh darüber, meiner Heimat nützlich zu sein.“9 Mit diesen Worten quittiert Prigoshin im Juni 2017 die US-Sanktionen gegen seine Unternehmen Concord Catering und Concord Management i Consulting wegen Beteiligung am russischen Krieg gegen die Ukraine. Gleichzeitig kommt auch die Gruppe Wagner auf die US-Sanktionsliste, Prigoshin streitet jede Beziehung zu der Söldnertruppe jedoch weiterhin ab.
Mit dem großflächigen Überfall Russlands auf die Ukraine klingen die Dementis jedoch zunehmend halbherziger, und Ende September 2022 veröffentlicht die Presseabteilung der Firma Concord auf VKontakte einen Kommentar von Prigoshin: „2014, als der Genozid an der russischen Bevölkerung im Donbass begann [...] und ich wie so viele Unternehmer eine Gruppe zusammenstellen wollte, die Russen schützt, [...] habe ich selber alte Waffen gereinigt und Experten gesucht. [...] Von diesem Moment an, am 1. Mai 2014, wurde eine Gruppe von Patrioten geboren, die später den Namen Wagner erhielt.“10
Wegen der Hinweise auf Prigoshins Trolltätigkeit lässt es sich über diese Aussage wohl genauso spekulieren, wie darüber, ob bzw. weshalb Putin den mutmaßlichen Söldnerchef zeitnah tatsächlich mit weitreichenden Vollmachten für den Krieg ausstattet. Da die regulären Streitkräfte bei ihrer Invasion in die Ukraine seit Monaten verheerende Niederlagen kassieren, wird darüber gemunkelt, dass der Verteidigungsminister Sergej Schoigu bei Putin in Ungnade gefallen sei. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, warum manche Beobachter glauben, dass Prigoshins Stern etwa ab September 2022 aufgestiegen sei.11 Prigoshin wird jedenfalls zu einer Art Gesicht des Krieges, ihm zugeschriebene und andere Propaganda-Organe preisen seine Söldnertruppe als heldenhaft und effektiv. In Wirklichkeit gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass sie massive Kriegsverbrechen verübt, dabei aber immer weniger nennenswerte Kriegserfolge erzielt.12
„Kanonenfutter“
TschWK Wagner wirbt landesweit um Rekruten, Prigoshin rekrutiert allem Anschein nach selbst Insassen von Haftanstalten und verspricht ihnen Begnadigung13 (das Begnadigungsrecht übt in Russland der Präsident aus). Laut zahlreichen Analysten besteht die Kriegstaktik der Gruppe Wagner aus Artilleriefeuer und Frontalangriffen, die Söldner seien Kanonenfutter. Es gibt Hinweise auf Hinrichtungen von Deserteuren, „das ist ein sehr zynisches und unmenschliches System. [...] man rekrutiert tausende Söldner und überlässt sie ihrem Schicksal. Wenn sie sterben – umso besser“, sagt Militärexperte Pawel Lusin.
Mit der Rekrutierung baut Prigoshin zunehmend auch seine Medienpräsenz aus: Er brüstet sich auf seinen und anderen staatsnahen Propagandakanälen mit den angeblichen Erfolgen von Wagner, spricht vor Kamera mit Söldnern, keift auf Telegram gegen die regulären Truppen des Verteidigungsministeriums, kritisiert öffentlich den Chef des Generalstabs der Streitkräfte Waleri Gerassimow, lanciert eine Kampagne gegen den Generaloberst Alexander Lapin, trollt Ende 2022 den Ex-Präsidenten Dimitri Medwedew: Dieser habe bei seinen Visionen der wirtschaftlichen Zukunft Russland „erotische Fantasien“.14
Im Januar 2023 ernennt Putin Gerassimow jedoch zum Oberbefehlshaber über die russischen Kriegstruppen, Lapin wird zum Chef des Generalstabs des Heeres befördert, einen Monat später übernimmt das Verteidigungsministerium die exklusive Anwerbung von Gefängnisinsassen. Damit stärkt Putin Prigoshins Gegner und die regulären Streitkräfte, auch andere Hinweise deuten darauf hin, dass Prigoshins Stern seit Dezember 2022 untergeht.15
„Marsch der Gerechtigkeit“
Ist Putin ein gefährlicher Konkurrent erwachsen?16 Hat sich die Gruppe Wagner als genauso ineffektiv erwiesen wie die regulären Streitkräfte?17
Über Putins Motive wird viel spekuliert, auch Prognosen hinsichtlich Prigoshins Zukunft sind Thema. Manche glauben schon im Februar 2023, dass Prigoshin nicht eines natürlichen Todes sterben wird: Elitenkonflikte seien in Putins Mafia-Staat systemisch, die russische Kleptokratie habe keinen Verbrecherkodex, das Willkürregime fresse sich selbst von Innen auf.18 Andere Beobachter sehen dagegen doch bestimmte innere Logiken des Regimes: Prigoshin habe sich bei den regulären Streitkräften unbeliebt gemacht und damit einen Loyalitätskonflikt provoziert. Denn für die Soldaten galt Prigoshin als ein Mann Putins, wenn dieser aber Kampagnen gegen das Verteidigungsministerium lanciert, dann erweckt das den Eindruck, dass die regulären Streitkräfte in Ungnade gefallen sind. Das Prinzip „teile und herrsche“ ist dabei offenbar an seine Grenzen gestoßen, letztendlich habe Putin die Stabilität seiner sogenannten Machtvertikale gefährdet gesehen und musste Prigoshin zurückpfeifen – was aber nicht heiße, dass Prigoshin eines Tages nicht doch noch eine zweite Chance bekommen wird.19
Mit Prigoshins sogenanntem „Marsch der Gerechtigkeit“ auf Moskau am 23. und 24. Juni 2023 wurde dieses Szenario jedoch unwahrscheinlicher: Der Aufstand der Wagner-Gruppe zeigte, dass der Präsident den Söldnerchef offensichtlich nicht mehr zurückpfeifen konnte.
Bei seinem „Marsch“ sagte Prigoshin Dinge, für die Oppositionelle in Russland viele Jahre Haft bekommen würden: Weder die Ukraine noch die NATO hätten eine Bedrohung für Russland dargestellt. Der Krieg sei nur begonnen worden, „weil ein paar Typen sich aufplustern wollten“.
Putin reagierte in einer Videobotschaft: „[…] womit wir es hier zu tun haben, ist Verrat. Unverhältnismäßige Ambitionen und persönliche Interessen haben zum Betrug geführt“. Am 29. Juni soll Putin offiziellen Angaben zufolge Prigoshin im Kreml empfangen haben. Angeblich hat er dem Wagner-Chef Sicherheitsgarantien gegeben. Am 23. August ist ein Flugzeug abgestürzt, in dem Prigoshin gesessen haben soll. Kaum ein Beobachter hat darin einen Unfall erkannt.
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