Auf der Krankenstation der Strafkolonie Nr. 2 im Gebiet Krasnodar misst ein Arzt Fieber bei einem Häftling. Ein neues Gesetz erlaubt es, jederzeit Strafverfolgung oder Haft gegen einen Einsatz an der Front zu tauschen / Foto © Roman Sokolov/ Tass/ Imago
Das Anwerben von Straffälligen für Russlands Krieg gegen die Ukraine ist innerhalb von zwei Jahren von einer Ausnahme zur Normalität geworden:
Im Juli 2022 kursierten erstmals Aufnahmen davon, wie Jewgeni Prigoshin in russischen Straflagern Gefangene für seine irreguläre Wagner-Truppe anwarb. Zu diesem Zeitpunkt gab es dafür keinerlei rechtliche Grundlage – weder für eine Anwerbung von Häftlingen noch für deren Entlassung aus dem Strafvollzug. Per Geheimerlass verfügte Wladimir Putin persönlich die Begnadigungen von Verbrechern, die bereit waren, sich dem privaten Militärunternehmen Wagner anzuschließen. Gemäß informellen Vereinbarungen sollten die aus den Strafkolonien Freigekommenen sechs Monate in Sturmeinheiten dienen, bevor sie dann ihre volle Freiheit erhalten würden.
Vom Herbst 2022 an begann auch das Verteidigungsministerium, Häftlinge für die reguläre russische Armee zu rekrutieren. Die Praxis weckte Erinnerungen an die berüchtigten Strafbataillone, die Stalin im Zweiten Weltkrieg aufstellen ließ. Ende des Jahres verlor Prigoshin sein informelles Recht, Häftlinge für Wagner anzuwerben; dieses Recht hatte jetzt nur noch das Verteidigungsministerium.
Im Juni 2023 – ein Jahr nachdem die Anwerbung von Häftlingen für die Front faktisch begonnen hatte – verabschiedete die Staatsduma ein Gesetz, das den ersten rechtlichen Rahmen schuf, um Verbrecher aus der Haft zu entlassen. In dem Gesetz gibt es die Bestimmung über eine „Entlassung auf Bewährung“ von Häftlingen, die einen Vertrag mit der russischen Armee geschlossen haben. Dasselbe Gesetz erlaubt es auch, Personen, gegen die ein Ermittlungsverfahren läuft, für den Krieg anzuwerben. Die Begnadigung von Personen, die in den Krieg ziehen, wurde beendet. Seither können Strafgefangene oder Beschuldigte nur dann von ihrer strafrechtlichen Verantwortung befreit werden, wenn sie eine Auszeichnung erhielten oder wegen einer Verwundung aus dem Dienst entlassen wurden; oder wenn die militärische Spezialoperation beendet ist. Damit gilt der Vertrag mit der Armee für die Häftlinge jetzt unbefristet. Sie werden nicht mehr nach sechs Monaten entlassen. Diese Neuerungen wurden später als Änderungen im Strafgesetzbuch und der Strafprozessordnung festgeschrieben.
Seit September 2024 können Häftlinge in jeder Phase eines Strafprozesses in den Krieg ziehen, aus der Strafkolonie, nach der Urteilsverkündung, während der Ermittlungen, und jetzt auch direkt im Laufe des Gerichtsprozesses. Formal erfolgt eine Befreiung von strafrechtlicher Verantwortung nur dann, wenn ein Vertragssoldat eine staatliche Auszeichnung erhielt oder den Vertrag aufgrund der Beendigung der Kriegshandlungen erfüllt hat.
Faktisch werde damit eine Parallelstruktur zum regulären Rechtsweg geschaffen, urteilt die Novaya Gazeta Europe: In jedem beliebigen Stadium eines Strafverfahrens hat der Beschuldigte nun die Wahl, an die Front zu gehen – von der Festnahme bis zur Ankunft in einer Strafkolonie.
Aus Gesprächen mit Polizisten, Anwälten, Beschuldigten und deren Angehörigen hat die Novaya Gazeta Europe den Eindruck gewonnen, dass diese Form der Anwerbung für die Streitkräfte inzwischen zu einer Routine geworden ist, mit der jeder konfrontiert sein kann, der ins Visier von Strafermittlungen gerät. Im folgenden Text schildern die Autoren, wie das Verfahren abläuft und wer davon profitiert.
Die Namen der Personen in diesem Text wurden geändert, um sie nicht zu gefährden.
Dmitri sitzt seit sechs Monaten in einem Moskauer Untersuchungsgefängnis. Er ist 36. In Freiheit machte er Musik und konnte sogar davon leben. Nebenbei verkaufte er Drogen, deswegen ist er hier. „Ich war auf meinem Gebiet recht erfolgreich. Aber ich ließ mich auf Drogen ein“, erzählt Dmitri. „Vieles, was man mir vorwirft, stimmt, aber ich habe nicht gedacht, dass es dafür so harte Strafen gibt“, sagt er. „Ich wurde wegen des Handels mit Drogen verurteilt, die in vielen Ländern legal sind. Ich habe gestanden, wurde aber trotzdem abgeurteilt als wäre ich ein Drogenbaron.“
Da Dmitri ein Geständnis ablegte, ging der Prozess schnell über die Bühne, endete aber mit einem harten Urteil. „Ich bekam zehn Jahre unter verschärften Bedingungen. Das finde ich ungerecht. Ich konnte das nur schwer verdauen und bin immer noch aufgewühlt“, berichtet er. Das ließ bei ihm den Gedanken aufkommen, in den Krieg gegen die Ukraine zu ziehen. „Das allgemeine Gefühl der Machtlosigkeit wegen des harten Urteils brachte mich auf den Gedanken, dass das vielleicht keine schlechte Lösung wäre.“
Ende September 2024 verabschiedete die Staatsduma zwei weitere Gesetze, die Verbrechern die Möglichkeit eröffnen, einer strafrechtlichen Verantwortung zu entgehen, wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium schließen und an die Front gehen. Die Verfasser dieser Gesetzesvorlagen sagen, dass damit lediglich eine Gesetzeslücke geschlossen werde: Wenn zuvor nur Leute an die Front gehen konnten, die bereits verurteilt sind und im Gefängnis ihre Strafe verbüßen, könnten jetzt Leute in jeder Phase der Strafverfolgung angeworben werden. Das wird ihnen sowohl von Polizisten sofort nach der Festnahme angeboten, als auch in Untersuchungshaft, bei Gericht, während der Ermittlungen und während des Prozesses.
Die Praxis wirkte anfangs wie aus einem Actionfilm: Der Söldnerchef Jewgeni Prigoshin landete nachts mit einem Hubschrauber in den Strafkolonien und warb dort persönlich Häftlinge für die militärische Spezialoperation an, die schwere oder besonders schwere Taten verübt hatten, damit sie dann „als Helden zurückkehren“. Inzwischen ist daraus eine Routine geworden, die jeden erwartet, der in das russische System der Strafjustiz gerät.
Die Rekrutierung
Dmitri entschied sich, einen Antrag auf Entlassung an die Front zu stellen, nachdem er mit Zellengenossen gesprochen hatte. Die Idee, in den Krieg zu ziehen, taucht in der U-Haft sofort auf, wie aus dem Nichts. „Es ist inzwischen eine ganz gewöhnliche Sache: Sobald du ankommst, sollst du unbedingt einen Antrag beim Wehrersatzamt stellen, dass du bereit bist zu dienen“, beschreibt Dmitris Anwalt die Stimmung der Untersuchungshäftlinge.
Als nächstes bekommen diejenigen, die ein Gesuch gestellt haben, Besuch von Männern in Uniform vom Wehrersatzamt. Sie landen dann diejenigen Häftling zum Gespräch, die einen Antrag gestellt haben, oder diejenigen, die über Kampferfahrung verfügen. Die Einberufung erfolgt nicht sofort; einigen Häftlingen wird aus verschiedenen Gründen ein Wechsel an die Front verweigert. „Viele meiner Zellengenossen schreiben jeden Monat an die Meldestelle in der Jablotschkow–Straße [die Moskauer Meldestelle für die Einberufung in die Armee – Novaya Gazeta Europe]; sie bitten um beschleunigte Bearbeitung ihres Antrags auf einen Vertrag“, sagt Dmitri.
Eine fröhliche Winkfigur in Flecktarnkleidung wirbt an einer mobilen Rekrutierungsstelle in Weliki Nowgorod um Freiwillige für die Front / Foto © Pond5 Images, Imago
Mit der Anwerbung befassen sich jetzt auch Mitarbeiter von Polizei und Justiz – von einfachen Polizisten bis hin zu Ermittlern.
„Wir wurden etwa im März dieses Jahres angewiesen, Leute für den Krieg anzuwerben“, erzählte Alexej M. der Novaya Gazeta Europe. Er arbeitet als Fahnder in einer Polizeieinheit in der Leningrader Oblast. Im August berichtete der Telegram-Kanal Baza, dass Polizisten in einigen Regionen eine Prämie für jeden Festgenommenen ausgelobt wird, der einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschrieben hat. Die Polizisten, mit denen Novaya Gazeta Europe sprechen konnte, haben solche Prämien zwar nicht erhalten; sie hatten jedoch andere Gründe, sich aktiv an der Anwerbung zu beteiligen.
„Voraussetzung dafür, dass ein Festgenommener zur militärischen Spezialoperation geschickt wird, ist ein Geständnis. Daraus ergibt sich, dass diejenigen, die bereit sind, in die Ukraine zu gehen, die Aufklärungsquote erhöhen (Schließlich haben sie gestanden!)“, erzählt Alexander S., ein Mitarbeiter der Fahndung in der Hauptverwaltung des Innenministeriums für St. Petersburg ganz offen.
„Für einfache Revierpolizisten, die ihren Dienst auf der Wache tun, ist diese Anordnung schlicht ein Geschenk des Himmels. Zunächst einmal aus dem Grund, dass es weniger Schreibkram gibt. Überhaupt wird die Arbeit weniger: Der Festgenommene unterschreibt ein Geständnis, schreibt einen Antragt auf Entsendung zur militärischen Spezialoperation – und damit ist die Sache erledigt. Die Statistik verbessert sich, was gewisse Dividenden einbringt: Prämien, Vergünstigungen, Rangerhöhung außer der Reihe, Beförderung.“
Die Vorschrift, dass ein Schuldeingeständnis Voraussetzung ist, wird in der föderalen Gesetzgebung nicht erwähnt. Polizisten berichteten der Novaya Gazeta Europe, dass die Anweisung, Festgenommene für den Krieg in der Ukraine anzuwerben, in einer internen Dienstanweisung des Ministeriums verankert ist, den in den lokalen Polizeidirektionen kaum jemand je gesehen hat.
An dieser Stelle kommen nun die Ermittler ins Spiel. Sie sind das Bindeglied im Strafprozess. Für sie ist es eigentlich ungünstig, wenn Verdächtige an die Front geschickt werden. „Ein Indikator für gute Ermittlungsarbeit ist eine Übergabe des Verfahrens ans Gericht. Wenn sich viele Beschuldigte jetzt in einem Frühen Stadium des Verfahrens an die Front melden, ruiniert das den Ermittlern die Statistik. Deshalb sind sie unzufrieden“, erklärt die Anwältin Jelisaweta. Die Strategie der Ermittler bestehe daher darin, den Moment hinauszuzögern, an dem die Beschuldigten einen Vertrag als Soldaten abschließen. „Bei Eingang eines entsprechenden Antrags versuchen die Ermittler, ihn möglichst auf die lange Bank zu schieben, um das Verfahren abschließen und ans Gericht übergeben zu können; alles Weitere ist dann Sache des Gerichts.“
„Als ihr noch in Freiheit wart, hattet ihr es nicht so eilig, euch als Freiwillige zu melden“
In einer VK-Gruppe zum Untersuchungsgefängnis Kresty gibt es einige Dutzend recht aktueller Posts und Kommentare, in denen Angehörige von Verhafteten schreiben, dass diese in den Krieg ziehen wollen. Neben Fragen zu Dokumenten und Kleidung interessiert die Nutzer zum Beispiel auch, wie man sich so scheiden lassen kann, dass die Ehefrau nichts davon erfährt. Denn im Falle einer Verwundung oder des Todes bekäme sie sonst die ganzen Entschädigungszahlungen.
Jelena, eine Frau fortgeschrittenen Alters, berichtet, dass ihr Sohn Jewgeni gleich nach Verkündung des Urteils aus dem Untersuchungsgefängnis an die Front gefahren ist, noch bevor er in eine Strafkolonie verlegt wurde. Dort ist er in der zweiten Julihälfte gefallen. Jewgeni war ebenfalls wegen des „Drogenparagrafen“ 228 verurteilt worden; er hatte elf Jahre bekommen.
„Er zog am 3. Juli los, ich konnte mich noch von ihm verabschieden“, erzählt Jelena. „Shenja [Jewgeni – dek.] hatte große Angst, dass er zu spät kommt und der Krieg ohne ihn zu Ende geht. Er war ein wunderbarer Sohn, aber diese verdammten Drogen… Als er elf Jahre bekam, sagte er, dass er in den Krieg zieht; dort habe er eine Chance, und das Gefängnis sei nichts für ihn. Er wusste nicht, der Gute, dass seine Chancen dort minimal sind!“
Die Mutter des gefallenen Verurteilten erzählte, dass dieser im Krieg Kommandeur eines Zuges war, von dem „fast keiner mehr übrigblieb“. Trotz dieser Tatsache, und obwohl Jewgeni starb, ist seine Mutter von seiner Tat begeistert und sagt, dass ihr Sohn als Held starb: „Shenja dachte, dass er Glück haben würde. Natürlich haben wir ihm gesagt, dass es dort gefährlich ist, aber er hat sich anders entschieden. Er hat den Vertrag und ist gegangen. Jetzt werden alle genommen, Hauptsache ohne AIDS oder Syphilis. Ich bin stolz auf meinen Sohn. Er starb als Held. Er wusste, wohin er geht. Ich muss ihn jetzt nur noch finden, damit ich ihn beerdigen kann. Da herrscht so ein Chaos auf dem Schlachtfeld, dass das schwer wird. Hoffen wir nur, dass er seine Erkennungsmarke noch bei sich hat!“
Eine andere Frau, Anastassija, hat im Krieg ihren Mann verloren, der ebenfalls nach Paragraf 228 verurteilt wurde. Er war zunächst in U-Haft geblieben, in einer Hauswirtschaftsbrigade. Dort kommt man eigentlich nur schwer rein, sie nehmen nur Häftlinge mit mustergültiger Führung, weil die Bedingungen dort besser sind als in der Strafkolonie. Der Gefallene war lediglich zu drei Jahren verurteilt worden, für den Besitz psychotroper Substanzen. Aber schon anderthalb Jahren nach dem Urteil unterschrieb er einen Vertrag, obwohl die Verwandten ihm abrieten. „Ich weiß nicht, ob sie unter Druck gesetzt wurden, aber er ist guten Mutes losgezogen! Er hat auf niemanden gehört!“, sagt seine Witwe.
Angehörige von gefallenen Häftlingen behaupten oft, diese seien aus Patriotismus in den Krieg gezogen. Aber die Häftlinge, mit denen Novaya Gazeta Europe sprechen konnte, hatten unter ihren Zellengenossen keine sonderlich patriotischen Stimmungen festgestellt. „Ihre Einstellung zum Krieg ist so, wie es ihnen die Propaganda aufträgt. Sie wiederholen ihre Phrasen. Deshalb kann man mit ihnen gar nicht richtig diskutieren“, sagt Dmitri über die, mit denen er jetzt in Moskau in U-Haft sitzt. „Selbst die Ermittler ziehen sie auf: Als ihr noch in Freiheit wart, hattet ihr es nicht so eilig, euch als Freiwillige zu melden.“
Viele sagen ehrlich: „Jetzt hab ich wenigstens die Chance, freizukommen. Und obendrauf gibt es noch Geld.“
Sogar Kriegsgegner lassen sich auf einen Deal ein
Anwälte, die Beschuldigte in politischen Prozessen vertreten, berichten, dass selbst diejenigen über eine Teilnahme am Krieg nachdächten, die wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ in Haft sind. „Einer meiner Mandanten, der in einem Untersuchungsgefängnis in Sankt Petersburg einsitzt [wiederum aufgrund dieses Paragrafen 228], hat dermaßen den Kopf hängen lassen und die Haft so unglaublich schlecht vertragen, weil er überhaupt nicht darauf vorbereitet war. Er wollte um jeden Preis raus, obwohl wenn er den Krieg total ablehnte“, erzählt Jelisaweta, die politische Gefangene verteidigt. „Es hat mich viel Geld und Nerven gekostet, um ihn von dieser tödlichen Entscheidung abzubringen.“ Letztendlich sei er doch nicht zur Armee gegangen.
„Das war für mich eine Frage des Prinzips. Er wurde keiner schwerwiegenden Straftat beschuldigt und hätte wahrscheinlich noch nicht einmal eine Freiheitsstrafe bekommen. In so einer Situation wäre es sehr dumm gewesen, in den Krieg zu ziehen, selbst wenn man die moralische Seite außen vor lässt“, fasst die Verteidigerin zusammen.
Sie erzählt, dass er im Untersuchungsgefängnis „einen derart tiefen Schock erlebte, und ihm in Gefangenschaft klar wurde, dass sein Leben gescheiter war“, dass er diesen Zustand um jeden Preis beenden wollte: „Egal was, nur nicht sitzen. Außerdem hatte er idealistische Vorstellungen von einem Vertrag mit der Armee. Als ob er dann als Feldarzt oder Koch davonkommen würde, obwohl er weder von Medizin etwas versteht noch vom Kochen“, erklärt sie weiter.
Abgesehen davon, dass die Anwältin nach eigenem Bekunden „sehr spezifische“ Mandanten hat, und die Paragrafen, nach denen diese beschuldigt werden, nahelegen, dass sie den Krieg und eine Rolle als Vertragssoldat entschieden ablehnen, wollen in ihrem Umfeld alle – Zellengenossen wie Weggefährten – „um jeden Preis aus dem Gefängnis raus“. Ein anderer ihrer Mandanten sitzt im Untersuchungsgefängnis Kresty in Sankt Petersburg mit einem einzigen Zellengenossen zusammen. Der ist Jurist, ein intelligenter Mann. Ihm wird Betrug vorgeworfen, und auch er will an die Front. „Leute, die wegen bandenmäßiger Verbrechen beschuldigt werden (§ 210 des Strafgesetzbuches), müssen ein Gesuch an Alexander Bastrykin persönlich schreiben, den Chef des Ermittlungskomitees. Er muss darüber entscheiden, dass dieser Punkt fallengelassen wird. Solange dieser Anklagepunkt besteht, kann man kann keinen Vertrag abschließen. Nach Einschätzung dieses Mandanten wird das Gefängnis [nach Verabschiedung der Gesetzesreform] wohl verwaisen – alle werden den Dienst als Vertragssoldat wählen.“
Dmitri berichtet, dass das Untersuchungsgefängnis die Menschen schockiert und orientierungslos macht, dazu muss man noch nicht einmal gefoltert oder misshandelt werden. „Die U-Haft war von Anfang an ungewohnt, vor allem wegen der viele Leute in der Zelle. Die ständige Kontrolle und die Enge machen es unmöglich, sich zurückzuziehen und nachzudenken.“
Fast jeder Dritte wählt die Front
Bei der Frage, wie viele der U-Häftlinge tatsächlich bereit sind, in den Krieg zu ziehen, weichen die Schätzungen der Polizisten ein wenig von den Angaben der Anwälte ab. „Es gibt keinerlei Statistik, doch meinem persönlichen Eindruck nach sind rund 30 Prozent der Häftlinge, die wegen schwerer oder besonders schwerer Taten sitzen, bereit, an die Front zu gehen. Und wenn die begangene Tat nicht besonders schwer war (also etwa Diebstahl, geringfügiger Betrug, Amtsanmaßung, oder sogar Raub, sofern er nicht gemeinschaftlich begangen wurde), dann lehnen die Beschuldigten meiner Erfahrung nach sofort ab“, sagt Alexander S. von der Fahndung in Sankt Petersburg.
„Vor zwei Wochen hatte ich einen Beschuldigten, der betrunken bei einer Prügelei einen Saufkumpan erschlagen hat“, berichtete Sergej T., ein Fahnder aus Sankt Petersburg der Novaya Gazeta Europe. Da er schon zwei Haftstrafen auf dem Buckel hatte, drohte ihm fast lebenslänglich. Als er hörte, dass man ein „Geständnis“ ablegen und dann einen Antrag auf drei Jahre Kriegsdienst stellen könne [und dafür nicht ins Gefängnis muss], hat der sich riesig gefreut. Da er aber schon Erfahrung hatte (immerhin zwei Haftstrafen!), verlangte er, den Erlass zu sehen, demzufolge ihm seine Strafe für eine bestimmte Zeit Kriegsdienst in der Ukraine vollständig erlassen würde. Da ich ihm den Erlass nicht zeigen konnte, weigerte er sich zu gestehen. Er sagte, es sei wohl besser, in der Strafkolonie zu leben als in der Ukraine beim Sturm im ‚Fleischwolf‘ zu verrecken.“
„Mit reinem Gewissen zurück in die Freiheit“ – Inschrift am Ausgang der Strafkolonie Nr. 1 in Nertschinsk in der Region Transbaikalien / Foto © Yevgeny Yepanchitntsev, TASS, Imago
Alexander S., der Polizist aus Sankt Petersburg, räumt ein, dass die neuen Regelungen der Regierung zur Anwerbung für den Krieg bei ihm ambivalente Gefühle auslösen: „Für den Krieg melden sich gerade diejenigen, gegen die handfeste Beweise vorliegen. Wenn sie auf diese Weise einer Strafe entgehen und sich dann auch noch mit dem ‚Kampf gegen die Nazis‘ brüsten, begehen sie später auf Fronturlaub zuhause oft richtig schwere Straftaten. Sie sind überzeugt, dass sie selbst dann, wenn sie geschnappt werden, der Strafe entgehen, wenn sie erneut einen Antrag auf Entsendung zur militärischen Spezialoperation stellen."
Dennoch überwiegt der potenzielle Nutzen in Gestalt einer guten Statistik, und bei den Einsatzkräften dominiert den Worten von Alexander zufolge das Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“. Insbesondere weil sie ja „faktisch keinen Straftäter freilassen, sondern diesen auf eine andere juristische Ebene überführen“.
Nach Berechnungen von Verstka sind in zweieinhalb Jahren Krieg mindestens 500 russische Bürger Opfer von Menschen geworden, die an der militärischen Spezialoperation beteiligt waren. Aus der Untersuchung geht hervor, dass ehemalige Häftlinge öfter morden und öfter Straftaten gegen Frauen begehen.
Nur die Angehörigen sind dagegen
Die wohl einzigen Menschen, die sich heftig gegen die Entsendung der Beschuldigten in den Krieg wenden, sind deren Angehörige.
„Sagen Sie Ihren Verwandten, dass sie da besser nicht hingehen sollen, dass das eine Einbahnstraße in den Tod ist. Wenn ihnen Lebenslänglich droht – meinetwegen. Aber alle anderen sollten besser ihre Strafe absitzen“, schreibt Alla Danilina in einer Gruppe für Angehörige von Häftlingen auf VK. „Ich habe versucht, das meinem Sohn auszureden; er hat von mir solche Flüche zu hören bekommen, er konnte sich gar nicht vorstellen, dass ich so schimpfen kann“, antwortet Irina.
„Mein Mann ist am 7. Juli zur Spezialoperation gegangen. Wir haben’s ihm nicht ausreden können; morgen ist die Beerdigung. Zwei Kinder hab‘ ich! Lasst das nicht zu!!!“
In den Kommentaren gibt es viele ähnliche Geschichten: „Ende Juni sind 30 Mann aus Jablonewka zum Einsatz in der Spezialoperation aufgebrochen. Am 29. oder 30. Juni waren nur noch zwei am Leben, und selbst die waren verwundet.“ Viele Angehörige, die die Novaya Gazeta Europe angeschrieben hat, berichteten, dass ihre Verwandten innerhalb von Monaten nach ihrer Entsendung in den Krieg umgekommen sind.
Der Mann von Olga, die viel in der VK-Gruppe Kresty schreibt, war nach dem Urteil bereits in die Strafkolonie verlegt worden; er ist nicht in den Krieg gezogen. Aber ein enger Freund von ihm, mit dem sie sprach, der wollte da hin. „Er hat ‘ne lange Strafe, und niemand wartet draußen auf ihn. Einige dort werden moralisch unter Druck gesetzt. Natürlich nicht alle. Sie machen ihnen mit der Strafkolonie Angst. Jetzt hat er Kontakt zu seinen Eltern und seiner Freundin, bei der sein Kind lebt. Er wird wohl nicht gehen.“
Dmitri, der noch aus der U-Haft ein Gesuch geschrieben hatte, um an die Front zu kommen, hat sich in Bezug auf den Krieg dennoch umentschieden. „Ich will einfach leben und meine Familie wiedersehen. Über die Zukunft habe ich noch nicht nachgedacht.“