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„Rundherum lagen Menschen in Blutlachen“

Während der anhaltenden landesweiten Proteste in Belarus sind mehr als 6000 Menschen verhaftet worden. In sozialen Medien tauchten zahlreiche Fotos von großen Menschenmengen vor Gefängnissen auf, die Leute waren auf der Suche nach ihren Angehörigen. Derzeit häufen sich Berichte, wonach zahlreiche Festgenommene wieder aus den überfüllten Gefängnissen entlassen werden, viele davon mit Verletzungen. Hunderte Frauen, teilweise in Weiß gekleidet und mit Blumensträußen, bildeten in zahlreichen Städten Ketten, um ihre Solidarität mit Verhafteten und Verwundeten auszudrücken. Landesweit haben außerdem Mitarbeiter von Fabriken gestreikt und unter anderem faire Wahlen und die Freilassung der Festgenommenen gefordert. Auch Krankenhauspersonal versammelte sich und forderte ein Ende der Gewalt.

Unterdessen häufen sich in unterschiedlichen Medien Augenzeugenberichte von grausamer Polizeigewalt, auch Folter. Auch der russische Znak-Korrespondent Nikita Telishenko war am 10. August in Minsk festgenommen worden. Sein Bericht über die Gewalt, die er danach gesehen und erfahren hat, wird derzeit in sozialen Netzwerken zehntausendfach geteilt und gelesen.

Source Znak

Am Abend des 10. August wurde der Znak-Korrespondent Nikita Telishenko in Minsk festgenommen, ehe eine Protestaktion gegen die Wahlfälschungen losging. Er kam beruflich nach Belarus, im Auftrag seiner Redaktion. Nach der Festnahme gab es 24 Stunden keinen Kontakt zu ihm. Nikita wurde erst am Dienstagabend freigelassen.

Inhaftierung 

Ich wurde am 10. August festgenommen, als ganz Minsk an der zweiten Protestaktion gegen die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl in Belarus teilnahm. Die Aktion war in der Uliza Nemiga geplant, wo bereits Kampffahrzeuge und Lastwagen aufgefahren waren. In den Durchgängen und zwischen den Häusern waren viele Soldaten, Spezialkräfte der OMON und die Polizei. Ich bin da einfach langgelaufen und habe mir die Vorbereitungen für die Demonstration angeschaut. Ich sah Wasserwerfer, schrieb das an das Redaktionsbüro, und eine Minute später kamen Polizeibeamte auf mich zu, sie trugen normale Uniform. Sie baten mich, zu zeigen, was denn in meiner Tasche sei, sie erschien ihnen verdächtig. Ich zeigte ihnen, dass ich darin einen Pulli hatte. Danach ließen sie mich gehen.


Dann sah ich an der Haltestelle Sportpalast, wie sich die OMON-Kräfte alle schnappten, die aus einem Bus ausstiegen, und sie in einen Gefangenentransporter steckten. Ich fotografierte das mit meinem Telefon und schrieb der Redaktion, berichtete über die ersten Verhaftungen bei der zweiten Protestaktion. Dann ging ich in Richtung des Heldenstadt-Obelisken [beim Museum des Großen Vaterländischen Kriegs – dek], wo sich am Tag zuvor Demonstranten und Ordnungskräfte eine regelrechte Schlacht geliefert hatten, und wollte sehen, wie der Ort nun aussah. Aber auf halbem Weg kam ein Minivan auf mich zu. Und schon waren bewaffnete OMON-Leute herausgesprungen. Sie rannten auf mich zu und fragten, was ich hier mache. Später wurde mir klar, dass sie die Koordinatoren der Aktion suchten, sie wussten, dass die Demonstranten per Telegram Informationen über die Bewegung der Polizei austauschten und über Hinterhalte berichteten. Sie haben mich wohl für einen von denen gehalten. Ich sagte ihnen: „Ich habe nicht einmal Telegram auf meinem Telefon, ich schreibe eine SMS, ich bin Journalist, ich schreibe an die Redaktion.“ Sie schnappten mein Telefon, lasen die Nachrichten und setzten mich dann ins Auto. Ich sagte ihnen, dass ich gegen nichts verstoßen, nicht an der Protestaktion teilgenommen habe, dass ich Journalist sei, worauf ich die Antwort bekam: „Setzen Sie sich, gleich kommen die Chefs und klären die Sache.“

Bald kam eine GAZelle, die zum Gefangenentransporter umgerüstet war. Sie verdrehten mir die Arme und steckten mich da rein. Ich bat um ein Telefon, um die Redaktion darüber zu informieren, dass ich nun doch festgenommen wurde. 

„Wir haben dich nicht festgenommen“, sagte mir einer der OMON-Männer. 

„Nun, ich bin hinter Gittern“, antwortete ich.

„Halt die Klappe“, parierte er. 

Dann nahmen sie meinen Pass und sahen, dass ich russischer Staatsbürger bin. 

„Und ... was machst du [obszönes Wort für männliches GeschlechtsorganZnak] hier?“

„Ich bin Journalist“, antwortete ich.

An diesem Punkt war der Dialog mit den OMON-Leuten beendet. Ich saß in der GAZelle und wartete darauf, dass sie mit genau solchen Nicht-Festgenommenen wie mir gefüllt würde. Es dauerte eine halbe Stunde. Neben mir saß dann ein 62-jähriger Rentner. Sein Name war Nikolaj Arkadjewitsch. Er erzählte mir, dass er auf dem Weg zum Einkaufen festgenommen worden war: Er hatte gesehen, dass sich die OMON-Leute einen Jungen gegriffen hatten. „Ich bin für ihn eingetreten, habe versucht, ihn freizukriegen. Ich sagte ihnen: ,Er ist ein Kind, was tun Sie da?‘“ Schließlich rannte der Junge weg, und er wurde festgenommen. 

Nikolaj Arkadjewitsch hatten sie seinen Angaben zufolge heftig in die Leber geschlagen. Er bat darum, einen Krankenwagen zu rufen, doch niemand reagierte auf seine Bitte. 

16 Stunden Hölle bei der Polizei im Moskowski Bezirk

Und so fuhren wir irgendwohin. Wohin, das wusste ich da noch nicht. Doch dann stellte sich heraus, dass es zur örtlichen Polizei im Moskowski Bezirk ging – 16 Stunden, die für uns alle die Hölle sein würden. Wir sind etwa 20 bis 30 Minuten gefahren. 

Kaum hielten wir an, ertönte ein Schrei von OMON-Leuten in kugelsicheren Westen: „Gesicht auf den Boden!“

Polizisten stürmten in den Transporter, banden uns die Hände so hinter den Rücken, dass wir fast nicht laufen konnten. 

Ich bekam meinen ersten Hieb, weil ich mich nicht tief genug gebückt hatte

Ein junger Mann vor mir wurde mit dem Kopf gegen die Eingangstür des Polizeireviers geschlagen. Er schrie vor Schmerzen. Daraufhin schlugen sie ihm auf den Kopf schrien ihn an: „Halt's Maul, Hurensohn!“ Ich bekam meinen ersten Hieb, als ich aus dem Auto stieg: Ich hatte mich nicht tief genug gebückt und bekam einen Schlag mit der Hand auf den Kopf und dann mit dem Knie ins Gesicht.


Im Polizeigebäude wurden wir zunächst in einen Raum im vierten Stock gebracht.

Die Leute dort lagen als lebender Teppich auf dem Boden, und wir mussten direkt auf ihnen entlang laufen. Es war ein schreckliches Gefühl, war ich doch jemandem auf die Hand getreten, aber ich konnte überhaupt nicht sehen, wohin ich ging, weil mein Kopf stark nach unten geneigt war. 

„Alle auf den Boden, Gesicht nach unten“, schrien sie uns an. Und mir war klar, dass man sich nirgendwo hinlegen konnte, rundherum lagen Menschen in Blutlachen. 
Es gelang mir, einen Platz zu finden, wo ich mich nicht als zweite Schicht auf Menschen legen musste, sondern neben sie. Auf den Bauch, Gesicht nach unten. Auch hier hatte ich Glück: Ich trug eine Maske, die mir den schmutzigen Boden erträglich machte. 
Um mich herum wurde derbe geprügelt: Von überall hörte man dumpfe Schläge, Schreie, Wimmern. Mir schien es, dass einige der Gefangenen Arme, Beine oder Wirbelsäule gebrochen hatten, denn bei der geringsten Bewegung schrien sie auf vor Schmerzen.

Werden die Schläge von heute wohl auch als besondere Verdienste gewertet?

Die neuen Häftlinge wurden gezwungen, sich als zweite Schicht auf die anderen zu legen. Nach einer Weile müssen sie jedoch kapiert haben, dass das eine schlechte Idee ist, und jemand befahl, Bänke zu bringen. Ich gehörte zu denen, die darauf sitzen durften. Aber man durfte nur mit gesenktem Kopf sitzen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Und erst dann sah ich, wo wir waren – es war die Aula der Polizeiwache im Moskowski Bezirk. Ich konnte einen Blick erhaschen und sah, dass an der Wand gegenüber Fotos von Polizisten mit besonderen Verdiensten hingen. Für mich war das böse Ironie: Werden die Schläge von heute wohl auch als besondere Verdienste gewertet?

So haben wir 16 Stunden verbracht.

Wer auf die Toilette wollte, musste die Hand heben. Einige der Wächter erlaubten es und brachten die Leute dorthin. Andere sagten: „Mach doch auf den Boden!“

Ich spürte meine Arme und Beine kaum noch, der Nacken schmerzte schwer. Hin und wieder wurden die Plätze getauscht. Hin und wieder kamen neue Mitarbeiter und nahmen erneut all unsere Daten auf, den Namen, wann festgenommen … und so weiter.

Wir hörten, wie Menschen in den Stockwerken unter und über uns geschlagen wurden

Gegen zwei Uhr morgens wurden weitere Gefangene auf die Wache gebracht. Und da begann die echte Hölle. Die Polizisten zwangen die Festgenommenen, das Vater Unser zu beten. Wer sich weigerte, wurde mit allem, was nicht niet- und nagelfest war, verprügelt. Während wir in der Aula saßen, hörten wir, wie Menschen in den Stockwerken unter und über uns geschlagen wurden. Es fühlte sich an, als würden die Menschen praktisch in den Beton getrampelt. 

Gleichzeitig konnten wir hören, wie Blendgranaten vor dem Fenster explodierten. Die Fenster und sogar Türen unserer Aula wackelten. Die Kämpfe fanden also direkt vor dem Polizeirevier statt. Mit jeder Stunde, mit jeder weiteren Charge von Gefangenen, die zur Polizei gebracht wurde, wurden die Vollzugsbeamten wütender und brutaler. 

Die Polizisten waren von der Aktivität der Demonstranten tatsächlich überrascht. Ich hörte sie per Funk miteinander reden, dass zur Unterdrückung der Proteste Reserveeinheiten eingesetzt würden. Sie waren wütend, dass die Menschen nicht von der Straße verschwanden, trotz der brutalen Schläge, dass die Menschen keine Angst vor ihnen hatten, dass die Leute Barrikaden errichteten und Widerstand leisteten. 

Du Wichser! Willst du Krieg?

„Du Wichser, gegen wen hast du Barrikaden errichtet? Willst du gegen mich kämpfen? Krieg willst du?“, schrie ein Polizist während er einen Festgenommenen verprügelte. 
Was mich wirklich fertig gemacht hat, ist, dass all diese Schläge vor zwei Frauen stattfanden, vor Mitarbeiterinnen des Polizeireviers, die die Festgenommenen und deren Eigentum dokumentierten. Vor den Augen der Frauen schlugen sie 15, 16-jährige Jugendliche und Kinder. Die zu schlagen ist das gleiche wie Mädchen zu verprügeln! Und die Polizeibeamtinnen reagierten nicht einmal ...


Fairerweise muss man sagen, dass nicht alle Mitarbeiter bei den sadistischen Gewaltexzessen mitgemacht haben. Es gab einen, der zu uns kam und fragte, wer Wasser brauche und wer auf die Toilette müsse. Aber er unternahm auch nichts gegen das, was seine jungen Kollegen auf dem Flur mit den Gefangenen machten. 

In jeder Schicht fragten die neuen Mitarbeiter jeden von uns, wer wir sind, woher wir kommen und wann wir festgenommen wurden. Nachdem sie meinen russischen Pass gesehen hatten, wurden die Schläge schwächer als die, die ich erhielt, als sie dachten, ich sei Belarusse.
 
Keiner von uns durfte auch nur einen einzigen Anruf tätigen, und ich bin sicher, dass viele Angehörige derjenigen, die in jener Nacht neben mir saßen, immer noch nicht wissen, wo sie sind.

Sie kamen von den Minsker Straßen, wo Krieg herrschte

Gegen sieben oder acht Uhr morgens trafen die Vorgesetzten ein. Man sah, dass sie nicht von zu Hause gekommen waren, sondern von den Minsker Straßen, wo Krieg herrschte.
Sie begannen die Gefangenen durchzuzählen. Es stellte sich heraus, dass zwei fehlten. Die Leute liefen hektisch zwischen den Büros hin und her, sie versuchten herauszufinden, wohin die zwei verschwunden waren. Sie konnten es nicht herausfinden. 

Als ich auf dem Boden lag, sah ich am Rande meines Blickfeldes eine Person, ich weiß nicht, ob Mann oder Frau, die auf einer Bahre weggetragen wurde. Die Person bewegte sich nicht, ich weiß nicht, ob sie noch am Leben war. 

Danach wurden wir alle ins Erdgeschoss verlegt und in Zellen gesteckt. Die sind für zwei Personen konzipiert, bei uns haben sie 30 Personen in eine Zelle gestopft. Der Vorgang wurde von heftigen Mat-Flüchen und Prügeln begleitet. Man schrie uns an: „Enger zusammen! Noch enger!“ Unter meinen Zellengenossen waren sowohl Rentner als auch junge Leute. Ich traf dort Nikolaj Arkadjewitsch wieder. Er stand eine halbe Stunde lang bei uns, dann wurde er hinausgeführt und in eine leere Zelle nebenan gesteckt. 

Es gab überhaupt keine Luft, Leute wurden ohnmächtig

Nach einer Stunde waren Wände und Decke der Zelle mit Kondenswasser bedeckt. Jemand konnte nicht mehr stehen und setzte sich auf den Boden, aber es gab überhaupt keine Luft, Leute wurden ohnmächtig. Diejenigen, die standen, verzweifelten an der Hitze. So verbrachten wir dort zwei oder drei Stunden und warteten darauf, verlegt zu werden – wohin, wusste keiner … 

Die Türen öffneten sich. „Gesicht zur Wand!“, schrien sie. Dann stürmten Vollzugsbeamte rein, drückten uns die Arme hinter den Rücken und schleiften uns über den Boden durch die ganze Polizeistation. Im Gefangenentransporter wurden wir wieder aufeinander gestapelt, als lebendiger Teppich. Sie schrien: „Das Gefängnis ist euer Zuhause!“ Diejenigen, die auf dem Boden lagen, rangen unter dem Gewicht der Körper nach Luft: Es lagen noch drei weitere Menschen-Schichten über ihnen.

Der Weg von Schmerz und Blut 

In dem Gefangenentransporter wurden die Leute weiter geschlagen: wegen Tätowierungen, wegen langer Haare. „Du alte Schwuchtel, im Gefängnis wird sich einer nach dem anderen dich vornehmen“, riefen sie.

Menschen, die auf den Stufen lagen, baten darum, ihre Position ändern zu dürfen, doch stattdessen schlug man ihnen mit dem Gummiknüppel auf den Kopf. 

In diesem Zustand verbrachten wir in dem Transporter eine Stunde. Ich erklärte mir die lange Zeit damit, dass sie wahrscheinlich nicht wussten, wohin mit uns, da es viele Häftlinge gab und alle Zellen der Polizeiwachen und Untersuchungsgefängnisse überfüllt waren. 

Dann gab es wieder Gebrüll von OMON-Leuten mit dem Befehl: „Raus mit euch und in die Hocke!“ Die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Man durfte sich weder am Sitz abstützen noch aufrichten. Wer gegen diese Vorschrift verstieß, wurde gnadenlos geschlagen. Man durfte nur ab und zu das Gewicht verlagern: Dazu musste man die Hände heben, seinen Namen nennen, sagen, woher man kommt und wo man festgenommen worden war.

Später haben sie gesagt, dass jeder Versuch, die Haltung zu ändern, einem Fluchtversuch gleichkomme – das bedeutet Erschießen auf der Stelle

Wenn der Wache (damals dachte ich noch, dass wir von OMON eskortiert wurden, aber erst am Ende des Weges erfuhr ich, dass es sich um die belarussische Spezialeinheit SOBR handelte) deine Nase nicht gefiel, wurde dir verboten, die Haltung zu wechseln, und du wurdest wegen wiederholter Bitten geschlagen. Später haben sie gesagt, dass jeder Versuch, die Haltung zu ändern, einem Fluchtversuch gleichkomme – das bedeutet Erschießen auf der Stelle.

Aufforderungen zum Anhalten, um zur Toilette zu gehen, wurden ignoriert. Wir sollen einfach auf den Boden machen, schlug man uns vor. Einige konnten es nicht aushalten, machten sogar großes Geschäft. Und so sind wir im matschigen Kot herumgefahren. Wenn unseren Begleitern langweilig wurde, zwangen sie uns Lieder zu singen, meist die belarussische Hymne, und nahmen alles auf Handy auf. Wenn ihnen die Interpretation nicht gefiel, schlugen sie wieder zu. Wenn jemand schlecht sang, ließen sie ihn wieder singen, und sie bewerteten, wer wie sang. „Wenn ihr glaubt, dass ihr Schmerzen habt: Das sind noch keine Schmerzen! Die bekommt ihr jetzt im Gefängnis. Eure Liebsten werden euch nicht mehr wiedersehen!“, sagten uns die Wächter.

Ihr werdet nicht mehr lange leben

„Ihr ... [obszönes Wort für Vollidioten – Znak] sitzt jetzt hier, eure Tichanowskaja ... hat sich aus dem Land verpisst. Und ihr werdet nicht mehr lange leben“, sagte einer der Begleiter. 

Die Fahrt dauerte zweieinhalb Stunden. Das waren zwei Stunden voll Schmerz und Blut. 
Während der Fahrt gelang es mir tatsächlich, einen unserer Wächter zum Sprechen zu bringen (irgendwann dann hatte ich erfahren, dass es SOBR-Leute sind). Natürlich habe ich dafür ordentlich kassiert, aber ich bereue es nicht, schließlich ließ er mich später eine bequemere Pose einnehmen. 

Ich fragte ihn, weswegen ich festgenommen wurde, weswegen ich eins mit dem Schild in den Nacken bekam, weswegen mir in die Nieren geschlagen wurde. „Wir warten nur darauf, dass ihr auf der Straße irgendwas in Brand setzt“, sagte er mir. „Dann werden wir auf euch schießen, wir haben einen Befehl. Die Sowjetunion war ein großartiges Land, aber wegen solcher Schwuchteln wie euch, ist sie untergegangen. Denn niemand hat euch rechtzeitig in die Schranken gewiesen. Wenn ihr [Russen] glaubt, dass ihr hier eure Tichanowsjaka eingeschleust habt, dann hat sie euch einen Bären aufgebunden. Ihr sollt wissen, dass es hier keine zweite Ukraine geben wird, wir werden es nicht zulassen, dass Belarus ein Teil von Russland wird.“

 „Warum [obszönes Wort für Vollidioten – Znak] bist du hierher gekommen?“, fragte er mich.

„Ich bin Journalist, ich bin gekommen, um über das zu schreiben, was bei euch los ist.“
„Na und was hast du geschrieben, du Wichser? Das Material wird dir noch lange in Erinnerung bleiben.“

Hört auf uns zu quälen, bringt uns einfach raus und erschießt uns

„Hört auf uns zu quälen, bringt uns einfach raus und erschießt uns“, rief währenddessen ein junger Mann, der durch die Schläge und Schmerzen bereits die Nerven verloren hatte.

„Fick dich! So leicht kommt ihr nicht davon“, antwortete einer der Begleiter. 

Auf dieser langen Reise durch die Hölle wurde mir klar, dass unter den SOBR-Leuten, die uns begleiteten, sowohl offene Sadisten als auch Ideologen waren, die glaubten, dass sie ihr Heimatland wirklich vor äußeren und inneren Feinden retten würden. Mit denen kann man also durchaus reden.


Auf dem ganzen Weg wussten wir nicht, wohin sie uns brachten: in ein Revier, in Untersuchtungshaft, in ein Gefängnis oder vielleicht auch nur in den nächsten Wald, wo wir entweder zu Tode geprügelt oder einfach getötet würden. Ich übertreibe in keiner Weise bei der letzten Option: Ich hatte das Gefühl, dass alles möglich ist. 

Wir wurden auf allen Vieren in einen Keller mit Wachhunden gebracht

Als wir an der Endstation ankamen (ich nenne es so, weil ich bis zum Schluss nicht wusste, wo wir waren), standen wir dort noch anderthalb oder zwei Stunden, denn es waren noch sieben weitere Lastwagen gekommen, wir standen Schlange. Als wir den Befehl bekamen, aus dem Transporter auszusteigen, wurden wir auf allen Vieren in einen Keller gebracht, da standen Leute, und es gab Wachhunde. 

Davon wurde die Angst vor dem, was kommt, stärker, aber am Ende war nicht alles so schrecklich wie bei der Polizei im Moskowski Bezirk. 

Wir wurden lange Zeit durch Korridore geführt, dann brachte man uns in den Gefängnishof – in Filmen sieht man immer, wie Gefangene an solchen Orten spazieren gehen. Für uns war es fast wie im Himmel. 

Seine Kniescheibe war herausgesprungen und baumelte herum

Zum ersten Mal seit 24 Stunden konnten wir die Arme hängen lassen, aufrecht gehen, uns hinlegen, und, was am wichtigsten war: Wir wurden erstmals nicht geschlagen. Einen Typen hatten sie an der Wirbelsäule verletzt, OMON-Leute waren draufgesprungen, und seine Kniescheibe war herausgeschlagen und baumelte herum. Er kam in diesen Hof und fiel um.

Zum ersten Mal wurden wir wie Menschen behandelt: Sie brachten einen Eimer, damit wir endlich auf Toilette gehen konnten. Sie brachten uns eine 1,5-Liter-Flasche Wasser. Natürlich war das für 25 Leute nicht genug, aber trotzdem …

„Wird heute nicht mehr geprügelt?“, fragte einer der Gefangenen den Mann, der den Eimer und das Wasser gebracht hatte.

„Nein“, sagte der Aufseher. „Jetzt bringen wir euch nur noch in die Zellen, das ist alles.“

Da waren Unternehmer, IT-Spezialisten, Schlosser, Ingenieure, …

Zum ersten Mal seit 24 Stunden konnten wir miteinander sprechen. Außer mir waren da Unternehmer, IT-Spezialisten, Schlosser, zwei Ingenieure, ein Bauarbeiter und auch ehemalige Häftlinge. Einer von denen sagte, dies sei die Strafkolonie in Shodino, er wisse das, weil er hier gesessen habe. Bald wurde auch mein Freund Nikolaj Arkadjewitsch in den Hof gebracht. 
Ein Mann in Uniform trat auf die Brücke über dem Gefängnishof. 

„Telishenko?! Ist Nikita Telishenko hier?“, rief er. „Ja“, antwortete ich. Der Mann in Uniform sprach mit dem Mann, der neben ihm stand, und dann schrie er: „Nikita, komm zur Tür. Du wirst gleich abgeholt.“

Meine Zellengenossen freuten sich sehr für mich. „Nun, holen sie dich endlich“, verabschiedete sich Nikolaj Arkadjewitsch von mir. 

Der Heimweg

Der Mann in Uniform entpuppte sich als Oberst des belarussischen Strafvollzugs namens Iljuschkewitsch. Er sagte, dass nun ich und ein anderer Russe (es stellte sich heraus, dass es ein Korrespondent von RIA Nowosti war) mitgenommen würden. Ich wusste nicht, wer uns abholen würde. „Jemand vom KGB oder von der Botschaft“, dachte ich. Sie gaben mir alle meine Sachen, und wir gingen durch die Gefängnistore hinaus. 

Dort standen viele Menschen: Leute, die nach den Festnahmen ihre vermissten Angehörigen suchten, Menschenrechtler. Wir wurden von einer Frau empfangen, die sich als Mitarbeiterin des Migrationsamtes von Belarus vorstellte, sie brachte uns in die Stadt, wo unsere Fingerabdrücke genommen wurden und wir einen Abschiebebefehl erhielten, demzufolge ich und der Korrespondent von RIA Nowosti das Territorium von Belarus bis 24:00 Uhr dieses Tages verlassen sollten. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits 22:30 Uhr. 

Ihr zufolge sollte ich morgen vor Gericht gestellt werden, aufgrund welcher Anklage konnte sie nicht erklären (ich bekam keine Dokumente zu Gesicht, die mich zur administrativen oder strafrechtlichen Verantwortung zogen, es wurde keine Anklage gegen mich erhoben), sagte aber, ich könnte zwischen 15 Tagen und sechs Monaten ins Gefängnis gesteckt werden. 


Dann kam ein Mitarbeiter der russischen Botschaft in Belarus. Er sagte, um uns zu finden, habe der russische Botschafter persönlich den belarussischen Außenminister angerufen. Der Diplomat setzte uns ins Auto und brachte uns nach Smolensk. 

In den verbleibenden anderthalb Stunden schafften wir es, die Grenze zu Russland zu überqueren und kamen um 2:30 Uhr in Smolensk an. Der Konsul kaufte uns einen Burger, weil weder ich noch mein Kollege russisches Geld hatten, fuhr uns ins Hotel und ging.  
Jetzt fliege ich nach Moskau, um von dort nach Jekaterinburg nach Hause zu fliegen.

Die Redaktion von Znak dankt für die Hilfe bei der Freilassung von Nikita Telishenko dem russischen Außenministerium, der russischen Botschaft in Belarus, der Vertretung des russischen Außenministeriums in Jekaterinburg und dem Ministerium für Internationale und Außenwirtschaftliche Beziehungen der Region Swerdlowsk.

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)