Unter schwierigen politischen Bedingungen konnte sich die belarussische Kultur in den vergangenen 20 Jahren bedeutende Freiräume erobern, die zwar immer wieder von den Machthabern mit punktuellen Repressionen attackiert wurden, die aber trotz der feindlichen Umgebung erstaunlich lebendig und wandlungsfähig waren. Das Theater, die Musik, Literatur und Kunst konnten auf diese Weise wichtige Impulse setzen. Seit den Protesten im Jahr 2020 und der darauffolgenden Repressionswelle, die bis heute andauert, hat Kultur in Belarus abseits staatlicher Kontrolle kaum noch eine Überlebenschance. Viele Künstler und Kulturschaffende wurden inhaftiert, ihre Kunst verboten, viele haben das Land verlassen und versuchen nun im Exil, ihre künstlerische Arbeit aufrechtzuerhalten. Andere haben sich trotz allem entschieden, in ihrer Heimat zu bleiben.
Der bekannte Autor Alexey Strelnicov hat für den russischsprachigen dekoder mit zahlreichen Kulturschaffenden über die aktuelle Lage der Kultur und das Leben im Exil gesprochen. Strelnicov hat sich mit seinen Texten zum zeitgenössischen belarussischen Theater einen Namen gemacht, er lebte bis zuletzt in Belarus und inszenierte dort in Privatwohnungen kleine Theateraufführungen. Es ist einer der letzten Texte von Strelnicov, den wir nun auf Deutsch zugänglich machen. Alexey Strelnicov verstarb unerwartet am 17. Dezember 2022. Er wurde nur 39 Jahre alt.
Nach Wahlen gab es jedes Mal eine kulturelle Emigration
„Als wir in Warschau das erste Konzert nach der Pause spielten, sah ich die gesamte Minsker Clique. Und da waren die Grenzen (wegen Corona – Anm. der Red.) noch dicht! Dieselben Typen, die in Minsk die ganze Zeit Backstage abgehangen hatten, waren auch da. Das war wie ein Schock für mich: Menschen, die gerade erst ausgereist waren, hatten das Bedürfnis nach einer Verbindung zur Heimat“, sagt einer der bekanntesten belarussischen Musiker, Lavon Volski.
Bereits seit 2006 standen Volskis Musikprojekte mal unter starkem Druck der Regierung, mal wurden sie wegen seiner politischen Haltung rundweg verboten. Aber an Repressionen solcher Ausmaße wie jetzt kann er sich nicht erinnern. Als klar wurde, dass es kein einziges Format gibt, mit dem er in Belarus noch auftreten könnte, ging Volski ins Ausland, wo er von seinen Fans bereits erwartet wurde.
Im Ausland Fuß zu fassen, gelingt längst nicht jedem. „Alle pfeifen drauf, ob du geflüchtet bist oder nicht, die Frage ist, wie gut deine Arbeit ist“, sagt der Dramaturg und Kunstmanager Nikolaj Cholesin, der sich seit 2011 erzwungenermaßen im Exil befindet und das Belarus Free Theatre leitet. Die Ausrichtung darauf, dass ein belarussisches Kulturprodukt nachgefragt wird, wenn es gut gemacht ist, hat Erfolg. Das Free Theatre spricht aktuelle Themen in einer modernen Sprache an. Die Künstler treten jetzt bei den wichtigsten Festivals auf. Und lange schafften sie es sogar, ihre Stücke heimlich in Minsk zu zeigen.
In nächster Zeit werden sie wohl kaum in der Heimat auftreten können. In dem Dokumentarfilm Courage des Regisseurs Aliaksei Paluyan wird gezeigt, wie schwer die Entscheidung zur Ausreise selbst für jene war, die schon lange im Untergrund waren und meinten, sie seien auf alles vorbereitet. Nach der Premiere verließ der gesamte belarussische Teil des Filmteams das Land.
Als das Ensemble des Janka-Kupala-Theaters, des führenden Theaters in Belarus, wegen eines öffentlichen Protests Ende August 2020 nahezu vollständig entlassen wurde, war der Satz zu hören: „Ein weiteres Theater ist jetzt frei.“ Ein großer Teil der entlassenen Künstler arbeitete weiterhin zusammen und nannte sich „freie Kupalianer“. In Belarus konnten ihre Arbeiten nur als Aufzeichnung oder online gezeigt werden. Und auch wenn jetzt jede ihrer Premieren von sehr viel mehr Zuschauern „besucht“ wird, als der größte Theatersaal fassen könnte, ist ihnen keine Möglichkeit geblieben, vollwertig in der Heimat zu arbeiten.
Dafür werden dem neuen unabhängigen Theater diese Möglichkeiten im Ausland geboten. Das Theater beteiligt sich an Experimentalgruppen, erhält Stipendien, arbeitet an neuen Stücken und zeigt sie auf Festivals. Mithilfe belarussischer Emigranten ist es gelungen, im Ausland vollwertige nationale Kulturprozesse in Gang zu setzen. Es werden Bücher verlegt, Theaterstücke inszeniert, und es finden Ausstellungen und Konzerte statt.
Die Künstler versuchen, sich selbständig an die neuen Realitäten anzupassen. Eine Schauspielerin des Kupala-Theaters erinnert sich an ihre Ausreise nach Polen: „Mein Ziel war es vor allem, bei meiner belarussischen Identität zu bleiben. Wo sonst könnte ich sie noch bewahren? In Belarus ist das jetzt ein Verbrechen. Hier aber gibt es noch Chancen und Möglichkeiten.“
Jenen, denen es gelungen ist, sich zu etablieren, die ihr Publikum und ihre Auftrittsmöglichkeiten gefunden haben, mag das Leben im Ausland wie eine lange Dienstreise erscheinen. Viele sind noch nicht so weit, die Emigration als solche zu akzeptieren.
Bühne gegen Kloschüsseln getauscht ...
Jene, die nicht vorhatten, das Land zu verlassen, sondern zwangsläufig emigrierten, standen nun vor der drängenden Frage der Selbstfindung.
In einer schwierigen Situation sind jetzt jene, die in die Ukraine emigriert waren und dann vor dem Krieg nach Polen flohen. Sie wurden zwar als Flüchtende ins Land gelassen, standen aber de facto als Bürger eines Staates da, der an der Aggression beteiligt ist. Viele hatten Probleme, Dokumente zu bekommen.
Kulturschaffende sehen sich in der Emigration gezwungen, sich irgendeinen anderen Beruf zu suchen. Dmitry Gajdel, Schauspieler und Puppentheaterregisseur, hat in Polen den Beruf eines Heizungsmonteurs erlernt. „Mir wird oft gesagt, dass ich wohl die Bühne gegen die Kloschüssel getauscht habe. Ich war ein Großer und bin jetzt ein kleiner Malocher. Mir gefällt’s aber. Ist doch toll, sein Leben von Grund auf zu ändern. Überhaupt denke ich, dass man sein Leben sehr viel häufiger ändern sollte,“ meint Dmitry.
Der Theaterschauspieler Alexander Ratko aus Hrodna wurde im ganzen Land berühmt, als er sich vor der OMON rettete, indem er durch den Njoman (dt. Memel) schwamm. Er wanderte nach Litauen aus, erhielt dort ein Künstlerstipendium, studiert Schauspiel an der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität in Vilnius und wirkt an Inszenierungen des Russischen Theaters Litauens mit. Er gehört zu jenen, die einen Platz in ihrem Bereich gefunden haben. Aber es fällt ihm schwer, sich an das Leben in der neuen Umgebung anzupassen. „Ich wohne mitten in der Altstadt. Ich habe jetzt nicht die Probleme, die ich in Belarus hätte haben können. Also bitte: Genieße die Stadt, geh ins Theater, ins Museum. Aber! Es bringt nicht die Freude, die es bringen könnte.“ In einem ähnlichen Zustand sind viele, die unerwartet gezwungen waren, das Land zu verlassen: eine unbekannte Sprache, ein Publikum, das man nicht kennt, Heimweh, die Aufgabe, im fortgeschrittenen Alter eine Karriere ganz neu anzufangen ...
„Wenn ein Künstler auswandert, und umso mehr, wenn er dazu gezwungen wird, dann findet er nur selten seinen Platz. Das erfordert nicht nur Superkräfte, sondern auch die entsprechenden Marktbedingungen“, kommentiert Sergej Budkin, Leiter des Belarusian Council for Culture, die Schwierigkeiten für Kunstschaffende, sich im Ausland einzurichten.
Leichter fällt es jenen, die mental darauf vorbereitet sind. Die Schauspielerin Kristina Drobysch fand sich in einem Projekt wieder, das Bücher und Filme ins Belarussische vertont. Sie weiß aber um die Notwendigkeit, sich am neuen Wohnort einzuleben. „Mir ist klar, dass es trotzdem zu einer gewissen Integration kommen wird. Es geht darum, Respekt für das Land zu zeigen, das mich aufnahm. Man muss die Sprache lernen und versuchen, die örtliche Kultur zu verstehen.“
In den sozialen Netzwerken zählt sie bis heute die Tage, die seit ihrer Vertreibung aus dem Kupala-Theater vergangen sind. Jeder versucht auf seine Weise, eine Verbindung zur Heimat aufrechtzuerhalten. „Aus Belarus kannst du nicht weglaufen“, sagt Alhierd Bacharevič. „Das ist wie ein Fluch, wie ein Omen!“
In einer Situation, da aufgrund drohender Repressionen und durch den Krieg ganz viele Gemeinschaften oder informelle Vereinigungen in noch kleinere Scherben zerschlagen sind, setzen die Koordinationsstrukturen der belarussischen Aktivisten die Prioritäten wie folgt: Als Erstes muss für Kulturschaffende eine sichere Umgebung geschaffen werden; zweitens sollen Möglichkeiten gefunden werden, wie sie in ihrem Beruf weiterarbeiten können; drittens sollen für jene, die sich an neue Umstände anpassen müssen, Anpassungsmöglichkeiten organisiert werden; und viertens muss langfristig ein Netzwerk aufgebaut werden, das Chancen auf künstlerische Entwicklung bietet.
Auf der Internetseite des Belarusian Council for Culture können Künstler ihre Projekte relativ formlos einreichen. Über hundert Projekte wurden gefördert. Und für die angekündigte „Woche der belarussischen Kultur in der Welt“ sind sogar 120 Anträge eingegangen.
Nicht bleiben können, nicht fortgehen können
„Ich unterteile Kulturschaffende nicht in solche, die ausgewandert sind, und solche, die bleiben. Sie alle zusammen schaffen einen gemeinsamen Kulturraum und arbeiten für ein gemeinsames Ziel“, meint der Leiter des Council for Culture, Sergej Budkin.
Die Kreativen, die in Belarus geblieben sind, haben keine große Wahl. Dutzende Kulturschaffende sind nach wie vor im Gefängnis. Die Regierung unternimmt alles, um jene, die geblieben sind, einzuschüchtern, ihnen das Recht auf Protest und auf eine von der „staatlichen“ abweichende Position zu nehmen. Nicht alle haben die Möglichkeit auszuwandern, viele müssen weiterhin in offiziellen Kulturinstitutionen arbeiten und dabei versuchen, sich selbst gegenüber ehrlich zu bleiben.
Viele Schriftsteller, Kritiker und Kunsthistoriker nutzen die Möglichkeit, mit westlichen Kollegen zusammenzuarbeiten. Einige griffen auf ihre pädagogische Ausbildung zurück und wechselten zur Online-Nachhilfe oder in eine Privatschule. Allerdings sind bis September 2022 fast sämtliche Privatschulen in Belarus geschlossen worden.
In Belarus gibt es jetzt wieder das Phänomen, dass im Untergrund Filme gezeigt, Theaterstücke aufgeführt und Konzerte gespielt werden, die alle nur schwer aufzuspüren sind und über die erst irgendwann später offen gesprochen werden kann. Daher können wir hier und jetzt keine Einzelheiten erzählen. Meist bestehen die Teilnehmer darauf, nirgendwo erwähnt zu werden. „Uns erzählen Zuschauer, ihnen werde bei unseren Aufführungen bewusst, dass man ihnen die Freiheit nicht nehmen kann“, sagt einer der Organisatoren von Untergrundveranstaltungen.
Untergrundkultur ohne Grenzen
Die Belarussen, die durch Grenzen getrennt sind, streben jetzt danach, ihre Identität zu wahren. Kunstprojekte erlauben es ihnen, sich in der Emigration als Belarussen zu erkennen zu geben, den Belarussen, die ihre Heimat verlassen haben, eine Stimme zu verleihen, sie im Weltmeer der Emigration sichtbar zu machen. Ob die belarussische Kultur im Ausland eine Exilkultur sein wird oder ein Katalysator für Veränderungen innerhalb des Landes, wird sich erst später zeigen.
In welcher Richtung sich dieser Prozess entwickeln wird, lässt sich daran feststellen, dass die Europäer jetzt nach belarussischer Kunst verlangen. Der bekannte Schriftsteller Alhierd Bacharevič sagt: „In letzter Zeit ändern sich die Beziehungen zwischen dem Westen und Osteuropa. Langsam, aber unaufhaltbar entdeckt die Welt für sich auch unsere „blutigen Länder“. Gleichgültigkeit wird jetzt von Interesse abgelöst, von Versuchen zu verstehen, wer wir wirklich sind. Früher hat der Westen ausschließlich mit Russland gesprochen, über unsere Köpfe hinweg. Jetzt sind wir auf den kulturellen und politischen Landkarten vorhanden“, resümiert Bacharevič.