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Im März 2015 veröffentlichte das Zentrale Kinderkaufhaus eine Serie von Werbeclips. Zu sehen waren zwei Kinder, die ein Verhör ihrer Eltern inszenieren, mit barschen Fragen, blendendem Licht, psychischer Folter. Ziel der Aktion: Sie möchten mit ihren Eltern in das Zentrale Kinderkaufhaus am Lubjanka-Platz fahren. Die Clips enden mit dem Slogan: „Du liebst dein Kind? Bring es zur Lubjanka!“
Die Werbefilme riefen in den sozialen Medien einen Sturm der Entrüstung hervor und sogar die russische Wettbewerbskommission auf den Plan: Während Intellektuelle wie Lew Rubinstein die Geschichtsvergessenheit der Werbeleute anprangerten,1 urteilte die Wettbewerbskommission (allerdings erst Monate später), das Video würde das russische Werbegesetz verletzen und Eltern diskreditieren, die das Kaufhaus nicht aufsuchten.2 Nach kurzer Zeit löschte das Zentrale Kinderkaufhaus die Clips von seinem YouTube-Kanal, zu diesem Zeitpunkt hatten sie sich aber bereits über andere Kanäle verbreitet.3
Sowohl die Videoclips selbst als auch die Reaktionen darauf zeigen, womit der Begriff Lubjanka auch heute noch von den meisten Russen assoziiert wird: mit Terror, Angst und Unrecht. Doch was ist die Lubjanka eigentlich?
1897/98 errichtete die Versicherungsgesellschaft Rossija ihre Verwaltungszentrale am Lubjanka-Platz in Moskau. Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde das Gebäude im Zentrum Moskaus konfisziert. Zunächst sollte der Moskauer Gewerkschaftsrat in die Große Lubjanka 2 einziehen, doch schon wenige Tage später entschieden die Behörden im Mai 19194, das Gebäude an die Moskauer Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage (Tscheka) zu übergeben. Seitdem dient es dem sowjetischen Geheimdienst unter seinen wechselnden Namen – von der Tscheka bis zum KGB – durchgehend als Amtssitz; seit 1996 ist es Sitz des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB. Die Adresse „Lubjanka“ steht längst auch synonym für die Geheimdienstorgane selbst.
Das Gebäude, das die Tschekisten bezogen, war damals noch wesentlich kleiner als heute. Der Personalzuwachs der sogenannten Organe in den 1920er und 1930er Jahren führte dazu, dass nach und nach immer mehr Gebäude in der Nachbarschaft eingegliedert oder angebaut wurden. Irgendwann nahm das stetig wachsende Ensemble den gesamten Block ein. Pläne für weitere Umbauarbeiten gab es bereits in den 1930er Jahren, durch den Zweiten Weltkrieg verzögerten sie sich aber. Erst in den 1980er Jahren erhielt die Lubjanka ihr heutiges Antlitz mit der einheitlichen ockergelben Fassade im Stil des sozialistischen Klassizismus. Bis heute dominiert das einer Trutzburg gleichende Gebäude den Lubjanka-Platz.5
Unter der Führung von Felix Dsershinski wurde der Dienstsitz des sowjetischen Geheimdienstes zu einem Ort des Schreckens. Ab 1920 diente einer der inneren Gebäudeteile als Gefängnis. Unzählige Untersuchungshäftlinge durchliefen ihre Verhöre in dem Gebäude, in denen ihnen insbesondere während der Zeit des Großen Terrors unter schwerer psychischer und physischer Folter bizarre Geständnisse über nicht begangene Verbrechen abgepresst wurden. Zahlreiche Arretierte – darunter prominente politische Häftlinge wie Lew Kamenew und Grigori Sinowjew – wurden in den Kellern der Lubjanka erschossen.
Folter und Exekutionen gab es zwar auch in anderen sowjetischen Gefängnissen, etwa in der Moskauer Butyrka, in der Nikolaj Jeschow erschossen wurde – führender Organisator der Stalinschen Säuberungen. Aber nirgendwo sonst saßen die, die den Terror planten und ausführten, so dicht zusammen mit ihren Opfern wie in der Lubjanka. Nicht selten gerieten außerdem einstige Täter in der Lubjanka selbst in die Mühlen des sowjetischen Repressionssystems.
Zwar haben Historiker inzwischen vor allem durch Berichte von überlebenden Häftlingen wie Alexander Solschenizyn, Margarete Buber-Neumann oder Juri Treguboff eine gewisse Vorstellung davon, wie die Lubjanka aufgebaut war: So weiß man heute unter anderem von der Größe und Lage der Zellen sowie von den Wegen zu den Verhörzimmern. Aus denselben Quellen ist bekannt, wie sich die Abläufe gestalteten: wie Einlieferung, Verhöre, Leben in der Zellengemeinschaft vor sich gingen, wie Weitertransport in andere Gefängnisse beziehungsweise Arbeitslager organisiert waren. Doch liegen genaue Zahlen über die Opfer der Lubjanka bis heute nicht vor und nähren damit den Mythos des Ortes.
Das Gefängnis in der Lubjanka wurde 1957 geschlossen, einige Zellen blieben aber erhalten und wurden mitunter für die Unterbringung prominenter Häftlinge genutzt: So saß der US-amerikanische Pilot Francis Gary Powers in der Lubjanka ein, nachdem sein Flugzeug während eines Spionageflugs am 1. Mai 1960 über dem Ural abgeschossen worden war.
Ein Ort des Schreckens blieb die Lubjanka auch nach 1957: Noch in den 1980er Jahren – und wohl auch darüber hinaus – machten Menschen „einen möglichst großen Bogen um sie“, wie Witali Schentalinski in seinem Buch Das auferstandene Wort schreibt. „Jeder Bürger unseres unermeßlichen Staates wußte, daß er der Lubjanka jederzeit ins Visier geraten konnte, daß sie die Macht hatte, in sein Leben einzugreifen und mit ihm anzustellen, was sie wollte. Vor der Lubjanka gab es keinen Schutz.“6
Im Jahr 1958 errichtete man in der Mitte des Lubjanka-Platzes, der unmittelbar nach dem Tod Dsershinskis 1926 in Felix-Dsershinski-Platz umbenannt wurde, ein Denkmal für den sogenannten Eisernen Felix.
33 Jahre später entwickelte er sich zu einem Schauplatz historischer Umwälzung, die die Politologin Tatjana Rastimeschina als „die markanteste Episode bei der Abkehr von der Geschichte“ bezeichnete:7 Im August 1991 wurde der Eiserne Felix von wütenden Demonstranten attackiert, die kurz zuvor erfolglos versucht hatten, die Geheimdienstzentrale zu stürmen. Der Denkmalsturz gelang allerdings erst mit Hilfe zweier Kräne. Seitdem ist die Statue im Moskauer Skulpturenpark zu sehen, in dem sich auch andere abgeräumte Statuen finden. Im Jahr 2002 brachte der damalige Moskauer Bürgermeister Juri Lushkow ins Spiel, das Denkmal an seinem alten Standort wiederaufzustellen – ein Vorschlag, der nicht realisiert wurde.
Im Oktober 1990 errichtete die Menschenrechtsorganisation Memorial schräg gegenüber des Geheimdienstsitzes ein Mahnmal für die Opfer des totalitären Regimes: den Solowezki-Stein. Der Findling, der von den Solowki-Inseln stammt, wo das System der Arbeitslager seinen Anfang genommen hatte, ist der einzige sichtbare Hinweis auf das, was wenige Meter von ihm entfernt geschah. Am Lubjanka-Gebäude selbst befindet sich bis heute keine Gedenktafel, die auf die dort verübten Verbrechen hinweist oder der Opfer gedenkt.
Zum Gedenktag an die Opfer politischer Repressionen am 30. Oktober versammeln sich Menschen am Solowezki-Stein und verlesen nacheinander die Namen der Opfer. Auch Karl Schlögel brachte die Lubjanka als Erinnerungsort ins Spiel: Im Abschlusskapitel seines 2017 erschienenen Monumentalwerks Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt schlug der Osteuropahistoriker vor, man solle aus der Lubjanka ein Museum machen, in welchem man die Geschichte der Sowjetunion (und auch des Ortes Lubjanka) erzählt.
Dieser Vorschlag wird allerdings wohl so bald nicht realisiert werden. Zwar befindet sich in der Lubjanka ein Museum, doch es ist das Museum der inneren Organe, das der Geheimdienst in den 1980er Jahren zur Fortbildung seiner Mitarbeiter eingerichtet hatte. Eine Zeitlang war es auch für die Öffentlichkeit zugänglich, aktuell ist es aber nur für den internen Dienstgebrauch geöffnet.