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Der Fall Kamila Walijewa

Nach fünfeinhalbstündigen Videoanhörungen in der Nacht zum Montag hat der Sportsgerichtshof CAS entschieden: Die 15-jährige russische Eiskunstläuferin Kamila Walijewa darf weiter an Olympia teilnehmen. Am 8. Februar – ausgerechnet einen Tag, nachdem die russische Mannschaft im Teamwettbewerb Gold gewonnen hatte – war die Nachricht gekommen, dass Kamila Walijewa am 25. Dezember vergangenen Jahres positiv auf Trimetazidin getestet worden war. 

Dies hatte für viel Aufsehen gesorgt. Sowieso können russische Athleten bei Olympia nicht unter russischer Flagge antreten, sondern als Vertreter des ROC (Russischen Olympischen Komitees) – weil Russland wegen der Manipulation von Doping-Daten von der Welt-Doping-Agentur (Wada) gesperrt wurde. Zudem gilt die positiv getestete 15-jährige Walijewa als Eiskunstlauf-Ausnahmetalent. Im Teamwettbewerb brillierte sie mit gleich zwei Vierfachsprüngen, was Kommentatoren zu Vergleichen mit den Eislauf-Männern hinriss; nach ihrem Kurzprogramm jubelte auch Hollywood-Star Alec Baldwin auf Instagram: „Ein Lied. Ein Gedicht. Ein Gemälde.“ 

Der Sportsgerichtshof hat nun allerdings nur über eine Sperre Walijewas und nicht über den Dopingfall generell entschieden. Es kann immer noch passieren, dass dem ROC-Team wie auch Walijewa im Nachgang zu den Olypmpischen Spielen Medaillen aberkannt werden.
Die Aufregung um die 15-jährige Walijewa – die als Minderjährige im Sinn des Welt-Anti-Doping-Codes als „geschützte Person“ gilt – hat außerdem eine Debatte um das Alter der Eiskunstläuferinnen ausgelöst. Die ehemalige Eiskunstläuferin und zweimalige Olympiasiegerin Katarina Witt schrieb auf Facebook: „Vielleicht sollte das Alter für die Teilnahme auf der olympischen Weltbühne auf 18 Jahre festgelegt werden. Wäre es nicht richtig, ein Kind reifen zu lassen?“ Für 15-Jährige seien die Youth Olympic Games ins Leben gerufen worden.

Auch in russischen Medien hat der Fall Kamila Walijewa eine Debatte über die zunehmend jungen Athletinnen ausgelöst, die auch in Sozialen Medien lebhaft geführt wird. Für Kirill Schulika auf Republic ist diese Frage die entscheidende.

Quelle Republic

Kamila Walijewa und ihre Trainerin Eteri Tutberidse (rechts). © Foto Alexander Kasakow/Kommersant

Für Kamila Walijewas Trainerin Eteri Tutberidse gibt es noch schlimmere Nachrichten als Walijewas Dopingtest: Beim internationalen Eislaufkongress der ISU 2022 soll darüber beraten werden, die Altersgrenze im Eiskunstlauf schrittweise anzuheben. In der nächsten Saison soll das Eintrittsalter zum Erwachsenen-Wettbewerb in allen Disziplinen noch bei 15 Jahren bleiben, dann soll es nach und nach erhöht werden: in der Saison 2023/24 auf 16 Jahre, 2024/25 auf 17. 
Damit will die Union Tutberidses „Kindergarten“ einen niederschmetternden Schlag versetzen. Fans ihres Trainerinnen-Talents halten das natürlich für eine Verschwörung der Konkurrenz. Zumal diese Trainerin in Russland über jede Kritik erhaben ist. Ja, manchmal gibt es Zoff mit dem mehrfachen Eislauf-Olympiasieger Jewgeni Pljuschtschenko und vor allem seiner Frau Jana Rudkowskaja, aber das wirkt eher wie ein banaler Social-Media-Hype um Gnom Gnomytsch, [Spitzname vom] Sohn der beiden.   
Warum aber darf man Tutberidses Methoden nicht öffentlich anzweifeln? In der Sportwelt herrscht die Meinung, sie werde von der Eiskunstläuferin Tatjana Nawka protegiert – die ist die Gattin von Putins Pressesprecher Dmitri Peskow. 

„Tutberidse entwickelt keine großen Sportlegenden. Sie trainiert Sprünge“

Aber wenn im Wettbewerb der Erwachsenen eine 15-Jährige die olympische Eisfläche betritt, scheint es doch, als würde Tutberidse ihre Schützlinge nicht trainieren, sondern dressieren. Und, oh weh, später geraten diese Sportlerinnen dann leider in Vergessenheit. Wer kennt jetzt noch Julia Lipnizkaja [geboren 1998, war 2014 Europameisterin und mit der russischen Mannschaft Olympiasiegerin als bis dahin jüngste Eisläuferin – dek]? Sie ist gerade mal 23, hat ihre Karriere aber schon mit 19 beendet! Auch die Olympiasiegerin von 2018 in Pyeongchang  Alina Sagitowa stand mit 19 Jahren am Ende ihrer Laufbahn. Während etwa die legendäre Italienerin Carolina Kostner bis ins Alter von 32 aktiv war.

Offenbar ist aus dem Frauen-Eiskunstlauf mittlerweile ein Kinderwettkampf geworden. Tutberidse entwickelt auch keine großen Sportlegenden wie Kostner oder Pljuschtschenko. Sie trainiert Sprünge, damit ihre Zöglinge die höchsten Punktzahlen und Preise absahnen. Die olympische Idee ist eigentlich eine andere.  
Das Geheimnis von Tutberidses Erfolg liegt einzig und allein im Alter ihrer Sportlerinnen. Vierfachsprünge schaffen nur Mädchen, deren Körper noch nicht vollständig entwickelt sind. Wenn also ein solcher Sprung zu einem Element wird, ohne das man keine großen Wettbewerbe mehr gewinnen kann, dann ist der Eiskunstlauf für Mädchen über 18 vorbei.           

Außerdem muss eine Eiskunstläuferin enorm viel Kraft aufwenden, um bei einem Vierfachsprung den Moment des vertikalen Absprungs von der Eisfläche mit dem Beginn der Drehung zu verbinden. Die nötige Rotation kann aufgrund des weiblichen Körperbaus – breitere Hüften und geringere Sprungkraft als bei den Männern – nicht erreicht werden, sodass Frauen bei Vierfachsprüngen den Rumpf schon vor dem Absprung zu drehen beginnen, was sehr gefährlich für die Wirbelsäule ist. 

„Dem System ist ganz egal, wie viel menschliches Material umsonst verbraucht wird“

Die finnische Eiskunstläuferin Kiira Korpi, die nach dem Ende ihrer Karriere Sportpsychologin wurde, formuliert noch einen weiteren für Kinder gefährlichen Aspekt des Eiskunstlaufs: „Ich kenne viele Sportler, die emotional und körperlich gebrochen sind, weil dem System ganz egal ist, wie viel menschliches Material umsonst verbraucht wird, solange es ein paar gibt, die den Ansprüchen gerecht werden. Aber am schlimmsten ist, dass auch jene, die es schaffen, nur wenige Jahre dabeibleiben und dann ebenfalls aussortiert werden – weil sie angeblich zu alt sind, weiterzumachen. Eteris ‚Kinderfabrik‘ ist einfach nur eine Folge der unmenschlichen Kultur unserer Sportart. Das war nicht ihre Idee. Viele Trainer arbeiten auf ähnliche Art und Weise, und viele Verbände begrüßen solche Methoden des Nachwuchstrainings“, meint Korpi.      

Jetzt kümmern sich anscheinend auch die Sportfunktionäre um dieses Problem. Russland wird sicher dagegen sein und möglicherweise seine lobbyistischen Ressourcen im ISU einsetzen. In der Öffentlichkeit werden uns alle, von Tatjana Nawka bis zu Tatjana Tarassowa, von einer Verschwörung gegen den russischen Sport und vom Neid auf die Erfolge „unserer Mädels“ erzählen. Und wenn der Skandal um Walijewa weiter an Fahrt  aufnimmt, dann werden wir bestimmt auch zu hören kriegen, dass ihr die verbotene Substanz heimlich verabreicht oder die Blutprobe vertauscht wurde, um die russische Schule der Eiskunstläuferinnen in Verruf zu bringen.

Nichts kann jedoch den russischen Sport nachhaltiger zerstören, vor allem wenn es praktisch um Kinder geht, als wenn Ärzte wie Philipp Schwetski mit im Boot sind, die nachgewiesenermaßen Sportlerinnen mit Dopingsubstanzen versorgt haben. 
Das Mindestalter der Eiskunstläuferinnen wird bestimmt angehoben. Und eines der Argumente dafür wird die Geschichte von Kamila Walijewa und dem Trimetazidin sein, für dessen Einnahme sie [als unter 16-Jährige – dek] nicht bestraft und nicht einmal offiziell angeklagt werden darf.  

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Moskau 1980: Die Olympischen Sommerspiele

Am 3. August 1980 erhob sich vom Rasen des Lushniki-Stadions „Mischa“, das Maskottchen der Olympischen Sommerspiele, in den Moskauer Abendhimmel. Fortgezogen von bunten Luftballons entschwand das Bärchen allmählich den Blicken von hunderttausend begeisterten und größtenteils weinenden Zuschauern. Eine denkwürdige und für den Weltsport folgenreiche Olympiade ging zu Ende. Das freundlich lächelnde Gesicht des kleinen, nun überlebensgroßen Bären setzte einen versöhnlichen Schlusspunkt unter ein Spektakel, das die Hauptstadt der Sowjetunion und des Weltkommunismus erstmals als „Dorf“ globaler Sommerspiele in den Blickpunkt der internationalen Sportöffentlichkeit rückte. Für einen Augenblick ließ es die widrigen politischen Umstände vergessen, unter denen diese Spiele vorbereitet und durchgeführt werden mussten. Und erzeugte jene luftige Leichtigkeit, von denen die Anhänger der olympischen Idee gern sprachen.

Olympia-Maskottchen Mischa entschwebt in den Moskauer Abendhimmel – Schlusspunkt unter einem Spektakel, das die Hauptstadt der Sowjetunion in den Blickpunkt der internationalen Sportöffentlichkeit rückte. Foto: Sergey Guneev / Sputnik

Gemessen an ihrer Größe und internationalen Bedeutung war die Sowjetunion eine vergleichsweise junge olympische Macht. Erst 1952, sieben Jahre nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg, hatte die politische Führung ihre selbstgewählte Isolation von dem größten internationalen Sportereignis aufgegeben und erstmals an einer Sommerolympiade in Helsinki teilgenommen. In wenigen Jahren stieg sie bis zur Spitze des globalen Sports auf, führte mit einer Ausnahme stets die Medaillenlisten an und wurde zum ebenbürtigen Herausforderer der USA. Schon in den 1960er Jahren gab es Bestrebungen, die Olympischen Spiele nach Moskau zu holen – und das hatte durchaus politische Gründe.

Sport als internationale Politik

Bis zum Zweiten Weltkrieg nutzte die Sowjetunion ihren Status als „Mutterland der proletarischen Revolution“ zum Aufbau einer alternativen Körperkultur (fiskultura). Die UdSSR grenzte sich von der „bürgerlichen Welt“ mit ihrem „kapitalistischen Leistungsprinzip“ weitgehend ab und organisierte exklusive internationale Großveranstaltungen wie Spartakiaden, Universiaden oder Friedensfahrten der Radfahrer.

Nach 1945 revidierte sie, nunmehr umgeben von einem Ring aus „Bruderstaaten“ und aufgrund wachsenden Einflusses auf allen Kontinenten, ihr Verhältnis zum Weltsport und zum eigenen Sportkonzept. Die politische Nachkriegsordnung war durch die „Großen Drei“ bzw. die „Großen Vier“ in Teheran, Jalta und Potsdam durch konventionell diplomatische Konferenzverhandlungen gerade erst festgeschrieben. Dem Sport sollte nun kurzzeitig die Rolle zufallen, friedlich den ersten Rang unter den Stärksten auszuspielen – während unmittelbare militärische Konflikte zwischen den Siegermächten künftig vermieden werden sollten. Der Sport war mit dieser neuen Rolle allerdings überfordert – weil sich Spiel und Politik nicht trennen ließen.

Oftmals schien es sogar, als ob das athletische Kräftemessen im Stadion den gediegenen Prunk der internationalen Politik längst an Publizität übertraf. Immer pompöser wurden die Inszenierungen der physischen Leistungsschauen und immer glamouröser das Begleitprogramm. Populäre Symbole, suggestive Bilder und neuartige Helden fanden über die Massenmedien rasche Verbreitung. Im Wettstreit der Systeme und Lebensstile wurden die Arenen zum (Ersatz-) Schauplatz für Entscheidungen über Modernität, Fortschritt und Effizienz. Der Sport wurde zügig zu einem der wichtigsten Faktoren der Kulturdiplomatie.

Sehen und gesehen werden

Mit Umfang und Ausstattung waren stetig auch Sichtbarkeit und Exklusivität der Olympischen Spiele gewachsen. In die Vorbereitung der Spiele im Sommer 1980 musste und wollte die sowjetische Führung deshalb ein außerordentliches Maß an materiellen und personellen Ressourcen investieren. Wenn die Welt zu Gast sein würde, und sei es nur für die Dauer von zwei Wochen, vom 19. Juli bis zum 3. August 1980, reichten exzellente Sportstätten nicht aus. Um sich als globale Führungsmacht zu präsentieren, musste auch das auswärtige Interesse am Entwicklungsstand von Ökonomie und Infrastruktur, Sozialpolitik und Kulturbetrieb befriedigt werden. Wenigstens an den Schauplätzen der Wettkämpfe in Moskau und Leningrad, dem ukrainischen Kiew, dem belarussischen Minsk und dem estnischen Tallinn sollte alles den Ansprüchen einer Weltmacht genügen.

Doch letztlich stellte sich das Land nicht nur ins Schaufenster, sondern richtete den Blick auch auf sich selbst. Die Introversion diente der Selbstvergewisserung: „Wer sind wir?“, die Sowjetmenschen, im Angesicht der Welt und wie fällt unsere Leistungsbilanz nach über sechs Jahrzehnten Sozialismus aus? Selbstverständlich wollte eine Mehrheit eher über die Stärken im eigenen Haus unterrichtet werden. Diese bot der Leistungssport in Fülle. In der Begeisterung darüber wurden die infrastrukturellen Schwächen im Schul- und Massensport glatt übersehen oder die Verbannung von Obdachlosen und Bettlern aus den Kernstädten eher gerechtfertigt als moniert.

Was zu vermuten war und nun die Archive bestätigen, offenbart, wie gewaltig die Kraftanstrengung gewesen ist. Die doppelte performative Aufgabe setzte einen komplexen bürokratischen Akt in Gang. Alle Maßnahmen mussten bis in kleinste Details vom Politbüro der Kommunistischen Partei bis hinunter auf die lokale Ebene durchdekliniert werden. Dass die logistische Herausforderung gemeistert werden konnte, lag an der Pragmatik, mit der die vom IOC gesetzten Standards erfüllt wurden. Bei der Vorbereitung der Moskauer Spiele griffen die „aufgeklärten Bürokraten“ auf Erfahrungen bei anderen sowjetischen Großprojekten und Mobilisierungskampagnen zurück, etwa dem Bau der Baikal-Amur-Magistrale (BAM) oder dem Lastkraftwagenwerk an der Mittleren Wolga (KamAZ) – wenn es also darum ging, Spezialisten und Facharbeiter, vor allem aber junge Leute durch ideelle, aber auch materielle Anreize für ein attraktives Nahziel zu begeistern und zum Mitmachen zu bewegen. Die Spiele waren mit diesen technologischen Vorzeigeobjekten aber nur teilweise vergleichbar: Beträchtliche Zugeständnisse an die Olympische Charta sowie an die internationale Öffentlichkeit mussten einkalkuliert werden. Erstmals würden Tausende Athleten, Trainer, Funktionäre und Zuschauer aus „nicht-sozialistischen“ Ländern ins Land strömen und die Sowjetunion an der Freizügigkeit bei früheren Olympischen Spielen messen.

Stets mussten die Sportfunktionäre indessen damit rechnen, dass Bedenken des Komitees für Staatssicherheit (KGB) allzu großer Aufgeschlossenheit gegenüber der Welt einen Riegel vorschob. Für den KGB waren die Spiele Ernstfall: Prinzipiell stellte sich die Staatssicherheit darauf ein, dass „die Sicherheitsdienste des Gegners“ und „ausländische antisowjetische Zentren“ die Gelegenheit nutzen würden, die Spiele in Moskau zu diskreditieren. Es sei zu erwarten, hieß es bereits in einem Dossier des KGB-Vorsitzenden Juri Andropow vom 25. April 1979, dass sie „eine Verletzung der Menschenrechte in der UdSSR“ insinuieren, „antigesellschaftliche Elemente“ mobilisieren und „provokative Handlungen“ organisieren würden.

Boykott der Olympischen Spiele

Die Vorbereitungen liefen schon auf Hochtouren, als die sowjetischen Truppen am 27. Dezember 1979 in Afghanistan einmarschierten. Die Reaktionen auf die Invasion änderten alle Koordinaten – für die internationale Politik wie für die Organisatoren dieser und aller folgenden Spiele. Boykotte von Olympischen Spielen hatte es schon in der Vergangenheit nahezu regelmäßig gegeben. Das Ultimatum des US-amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter vom 14. Januar 1980 und der nachfolgende Druck auf die verbündeten Staaten besaßen indessen eine neue Qualität. Zöge die sowjetische Führung die Truppen nicht binnen kürzester Frist ab, würden die USA in Moskau nicht antreten. Nach dem entsprechenden Beschluss vom 14. Februar 1980 musste es für die Kreml-Führung, das IOC und die sowjetischen Organisatoren vordringlich darum gehen, den Schaden zu begrenzen und die Spiele insgesamt zu retten.

Die im Westen beginnende Boykott-Kampagne führte dazu, dass mehrere Dutzend Staaten, darunter die USA, Kanada, Westdeutschland und China, ihre Teilnahme absagten. Athleten, Trainer und Funktionäre votierten oftmals dagegen, mussten sich aber entweder fügen oder als unabhängige Sportler unter der olympischen Flagge antreten. Zu letzteren zählten Teilnehmende aus Großbritannien, Frankreich, Italien und den Niederlanden. Die Reihen der westlichen Ablehnungsfront waren zwar keineswegs geschlossen. Der Afghanistan-Konflikt und die Boykottpolitik überschatteten dennoch die gesamten Spiele. Die sowjetische Bevölkerung allerdings wurde über diesen Zusammenhang im Unklaren gelassen.

In mehrfacher Hinsicht waren die Olympischen Sommerspiele in Moskau trotz der prekären politischen Rahmenbedingungen sogar ausgesprochen erfolgreich. Foto: Valeriy Shustov / Sputnik

Moskauer „Friedensfest“

Gemessen an den massiven Vorkehrungen, um die Kontrolle über das Großereignis „Friedensfest“ zu gewährleisten, umgab die Rumpfspiele eine durchaus entspannte, unverwechselbare Atmosphäre. In mehrfacher Hinsicht waren sie trotz der prekären politischen Rahmenbedingungen sogar ausgesprochen erfolgreich. 74 olympische und 36 Weltrekorde machten das Fehlen insbesondere US-amerikanischer Stars zwar nicht wett. Allerdings sprachen sie für ein hohes Leistungsniveau. Sowjetische Sportlerinnen und Sportler unterstrichen ein weiteres Mal ihren internationalen Führungsanspruch mit insgesamt 195 Medaillen, davon 80 in Gold. Unter den 80 vertretenen Nationen, denen 60 Absagen gegenüberstanden, nahm eine ganze Reihe erstmals an Olympischen Spielen teil, darunter Angola, Vietnam, Mozambique, Nicaragua und Zypern. Höher als jemals zuvor war ebenso der Anteil weiblicher Athleten – 1.115 von insgesamt 5.179.

Über sich hinauswachsen konnte die Sowjetunion – dieses historische Schicksal teilte sie mit allen vorherigen ambitionierten Ausrichtern – nur im Rahmen ihres Selbstverständnisses und ihrer Möglichkeiten. Gleichwohl überraschte es viele, dass in dem atheistischen Staat der Patriarch der Russischen Orthodoxen Kirche auf der Tribüne des Lushniki-Stadions Platz nehmen durfte und wie selbstverständlich Gebetsräume für Gläubige anderer Glaubensrichtungen eingerichtet wurden. Eine Vorstellung vom Leistungsvermögen des seit den späten 1950er Jahren ausgebauten Sowjettourismus vermittelte die Reisegesellschaft Inturist mit ihren Bussen, „Gidy“ (Reiseführern) und Hochglanzbroschüren.

„Schneller, höher, stärker“

Insgesamt bestätigten die Moskauer Spiele bei allem Bemühen um Lockerheit, wie eng der sowjetische Sport seit seinen Anfängen mit dem Staat und seinen eindrucksvollen Machtinszenierungen, inzwischen aber auch institutionell, personell und ideell mit dem Gepränge und der technologischen Innovationsspirale des Weltsports verflochten war. „Schneller, höher, stärker“ – der Slogan der Abschiedszeremonie – fasste die hybride Botschaft solcher säkularen Weihefeste in knappster Form zusammen. Was das Land zu diesem Zweck nicht selbst besaß oder herstellen konnte, beschaffte es sich ohne Umstände aus dem „befreundeten“ oder „feindlichen“ Ausland – nicht selten zu Lasten der knappen Devisenreserven. Solcher Pragmatismus war selbst dem Politbüro nicht fremd, wenngleich es in seinem „streng geheim“ klassifizierten Beschluss vom 14. August 1980 eher die Götter des sowjetischen Olymps beschwor: Ein „großer politisch-moralischer Erfolg“ sei zu verbuchen, manifestiert in den Vorzügen des „sowjetischen Lebensstils“ und der „sozialistischen Demokratie“, des Internationalismus und der Gastfreundschaft, der Disziplin und ideologischen Einheit der Gesellschaft.

Eine Wende im globalen Sport

Trotz der beachtlichen Erfolge und der bedingten Öffnung einer für viele noch immer verschlossenen und fremden Welt war „Moskau 1980“ zwangsläufig auch ein Festival verpasster Gelegenheiten. Wie hätten die Organisatoren das Mega-Event gestaltet, wenn es nicht zum Boykott so vieler Sportnationen gekommen wäre? Oder, wäre eine Austragung der Olympischen Spiele bereits im Jahr 1976 für die Sowjetunion vorteilhafter gewesen? Im Nachgang zur Helsinki-Schlussakte von 1975 wäre das symbolische Kapital von Sportkontakten für die internationalen Beziehungen vielleicht noch nicht aufgebraucht gewesen. Generalsekretär Leonid Breshnew, gesundheitlich zwar bereits geschwächt, aber im Zenit seiner Macht stehend, hätte das Großereignis als weiteren Triumph seiner Entspannungspolitik feiern können. Ein „Afghanistan-Syndrom“, das in einem Atemzug mit Amerikas Vietnam-Fiasko genannt werden würde, gab es noch nicht.

Solche hypothetischen Fragen entbehren nicht einer gewissen Logik. Doch wurde möglicherweise gerade das drohende Scheitern zum Ansporn, die Spiele „um jeden Preis“ zu retten – ganz im Sinne von IOC-Präsident Avery Brundage, der 1972 als Antwort auf den palästinensischen Terror während der Olympischen Spiele von München die trotzige Formel prägte: „The games must go on“. Allerdings stieg nach 1980 die Zahl derer stetig an, die anders dachten. Sicherlich waren die Olympischen Spiele niemals frei von der Spannung zwischen sportlichem Geist und politischer Vereinnahmung gewesen. Die Verschiebungen in der modernen Staatenwelt durch die aufstrebenden jungen Mächte der postkolonialen Epoche konnten die olympische Idee nicht unberührt lassen. „Moskau 80“ wurde also nicht deshalb zur irreversiblen Zäsur, weil dem „westlichen“ Boykott der „östliche“ in Los Angeles 1984 auf dem Fuß folgte. Vielmehr verselbständigten sich langfristige Trends der Desillusionierung.

Mega-Events im Sport standen nolens volens im Dienst außersportlicher Ziele. Ob medial-kommerziell, nationalpatriotisch, machtdiplomatisch oder antikolonial legitimiert – der „reine Sport“ verlor seine Bindekraft. Juan Samaranch, seit 1980 Präsident des IOC, begründete diese Wende nicht zuletzt mit dem finanziellen Desaster der Olympischen Spiele 1976 in Montreal. Es galt, konsequenter als bisher verlässliche Geldquellen zu erschließen. Mehr oder weniger unabhängige Sponsoren und Medienkonzerne oder direkt Staatsbudgets sollten fortan die Spiele garantieren. Der alte Streit um „Professionelle“ und „Amateure“ im Spitzensport wurde zugunsten Ersterer entschieden. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung hatte der sowjetische sport-administrative Komplex im Übergang von den 1970er zu den 1980er Jahren noch einmal seine Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Danach erodierten die Strukturen in schneller Folge und es mehrten sich die Anzeichen einer allgemeinen gesellschaftlichen Ermüdung, die schließlich zum Zerfall der UdSSR führen sollten.

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