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„Unser liebster, wundervoller Don Quichote“

Am 27. Juli verstarb in einem Untersuchungsgefängnis in Birobidschan der 39-jährige russische Pianist, Schriftsteller und Antikriegs-Aktivist Pawel Kuschnir, offizielle Todesursache: Folgen eines fünftägigen trockenen Hungerstreiks. Verhaftet wurde Kuschnir wegen seines YouTube-Kanals mit vier Videos und fünf Abonnenten. Der Vorwurf lautete „öffentliche Anstiftung zu Terrorismus“.

In den Medien tauchte der Name Kuschnir erst nach seinem Tod auf. Bis dahin waren seine Geschichte und die Umstände der Verhaftung der breiten Öffentlichkeit unbekannt gewesen.   

Katya Kobenok hat mit Angehörigen von Pawel Kuschnir und Menschenrechtsaktivisten gesprochen. Auf Takie Dela erzählt sie, was für ein Mensch er war und warum es niemandem gelungen ist, seinen Tod zu verhindern.
 

Источник Takie dela

Pawel wurde Ende Mai 2024 verhaftet. Ein Post in einem inoffiziellen Telegram-Kanal der Silowiki dazu lautete: „‚Gerechtigkeitskämpfer‘ hat sich um Kopf und Kragen geredet.“ 

„Experten zufolge hat der Angeklagte genug für ein Strafverfahren wegen Anstiftung zu Terrorismus von sich gegeben. Der Paragraf sieht bis zu sieben Jahre Haft vor“, hieß es in dem Post weiterhin. Kuschnir habe „regelmäßig Material veröffentlicht, in dem er zum gewaltsamen Sturz der Verfassungsordnung der Russischen Föderation durch Revolution aufrief.“ 

In Wirklichkeit hatte Pawel einen YouTube-Kanal mit vier Videos, in denen er das herrschende Regime in Russland kritisierte. Zum Zeitpunkt der Verhaftung hatte der Kanal fünf Abonnenten. 

Pawel Kuschnir ist in Tambow geboren und aufgewachsen, studierte an der Rachmaninow-Musikhochschule in Tambow und am Tschaikowski-Konservatorium in Moskau. Nach seinem Abschluss war Kuschnir sieben Jahre lang Pianist an der Philharmonie in Kursk und drei Jahre an der Philharmonie in Kurgan. 2014 verfasste er einen dystopischen Roman mit dem Titel Russkaja Nareska (Russischer Aufschnitt). Seit 2022 war Kuschnir Pianist an der Philharmonie in Birobidschan

Seine berühmteste Aufnahme ist ein Zyklus aus Rachmaninows 24 Präludien, den der Musikwissenschaftler Michail Kasinik mit den folgenden Worten lobte: „Kuschnirs Interpretation der 24 Präludien – was so schon mal niemand macht, weil diese Präludien aus verschiedenen Zeiten und Werken stammen – ist kristallklar. Der Zyklus zeichnet die Entwicklung von Rachmaninows Ideen nach, die Kuschnir von allen Überlagerungen und Volkstümlichkeiten befreit hat.“ 

 
Kuschnirs Aufnahme des Zyklus aus Rachmaninows 24 Präludien, Tambow, 2010

Olga Schkrygunowa, Pianistin, enge Freundin 

„Pascha Kuschnir ist tot. Unser liebster, wundervoller Don Quichote, ein Kämpfer bis zum letzten Atemzug. Ich will daran glauben, dass der Tod nur den Besten vorbehalten ist“, schrieb Olga auf Facebook

„Von klein auf war er für sein unglaubliches musikalisches Gehör bekannt. Für mich war er immer ein Genie, sowohl als Mensch als auch als Musiker. Ein genialer Idealist, der keine Kompromisse kannte. Ein Kämpfer für die Liebe, die Kunst und die Freiheit“, berichtet sie. 

2022, noch vor seinem Umzug nach Birobidschan, habe Pawel überall in der Stadt Flyer mit Friedensaufrufen aufgehängt. Er sei schon vor seiner Verhaftung mehrmals in den Hungerstreik getreten, in der Hoffnung, dass sich auch andere dieser friedlichen Form des Protests anschließen würden. Sein längster Streik habe 100 Tage gedauert, sei jedoch von der breiten Masse unbemerkt geblieben. 

Anton Wesselowski, Journalist aus Tambow, Freund 

„Zuerst dachte ich, sie hätten ihn in der U-Haft ermordet. Dann hörte ich die offizielle Version mit dem Hungerstreik. Ich halte das durchaus für möglich: Pascha hatte einen starken Willen und feste Prinzipien. 

Am 9. Mai 2023, noch vor seiner Verhaftung, hatte Pawel auf Facebook angekündigt, in den Hungerstreik zu treten. Er forderte das Ende des Kriegs, die Abschaffung des Regimes und Freiheit für alle politischen Gefangenen. Seine Freunde in Tambow versuchten, ihn davon abzuhalten, andere hofften das Beste und dachten, er würde die Idee von alleine aufgeben. 

Nach seiner Verhaftung im Mai 2024 griff er dann zu radikalen Mitteln: Zunächst hat er Nahrung verweigert, dann auch Wasser. Jetzt fragen viele, warum niemand davon gewusst hat. Unsere heutige Realität war für Pascha unerträglich, er wollte auf diese Weise ein Ultimatum setzen. Es gibt Dutzende Menschen, die sich gegen den Krieg aussprechen, aber so radikal war in letzter Zeit niemand. Pascha hat immer vom Kampf gegen das Böse in der Welt und den Faschismus in sich selbst gesprochen. 

Er war ein stiller Mensch, aber seine Taten waren laut. Er konnte zwei Monate lang verschwinden, um sich auf ein Konzert vorzubereiten, und dann ein ewig langes Stück aus dem Kopf spielen. 

Paschas Statements hatten immer Strahlkraft und konnten jemanden verändern oder bekehren. Mir war immer bewusst, wie wertvoll der Kontakt mit Pascha ist, ich habe ihn oft zu diversen Veranstaltungen eingeladen. Seine Aktionen haben immer polarisiert, aber sie waren immer konzeptuell begründet, selbst wenn es sich um spontane Performances handelte. 2010 haben seine Freundin und er zum Beispiel einen Flashmob gegen die Hitze veranstaltet, bei dem sie bei 40 Grad in Winterklamotten durch die Stadt gezogen sind. 

Im selben Jahr hat Pascha seine Gedichte bei einer Literaturveranstaltung auf Na’vi gelesen, der Sprache im Film Avatar, die er sich beigebracht hatte. Hin und wieder verschwand er in der Versenkung, um zu schreiben und zu üben. Warum er immer wieder umgezogen ist, weiß ich nicht genau. Er interessierte sich für neue Orte, ist viel gereist. 

Seine Freunde traf er, wenn er nicht gerade arbeitete oder mit Auftritten durchs Land tourte. Seit Ende der 2010er Jahre hat sich Pascha kaum noch in seiner Heimatstadt blicken lassen. Zum letzten Mal habe ich ihn 2018 gesehen.“ 

 

Beethoven, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur op. 73; Mendelssohn Sinfonie Nr. 3 in a-Moll op. 56

Marina Shemtschugowa, ehemalige Studentin, Konzertbesucherin 

„Ich habe zusammen mit anderen Studierenden und Pädagogen häufig Pawels Konzerte besucht. Das war vor acht, neun Jahren. Damals war er Pianist an der Kursker Philharmonie und gab regelmäßig Solokonzerte oder beteiligte sich an anderen musikalischen Projekten.  

Manchmal kamen Freunde von mir mit, denen die Welt der akademischen Musik ansonsten fremd ist. Heute weiß ich, was für ein Privileg und Geschenk es für uns alle war, Pawel spielen zu hören.  

Ich kann mich erinnern, wie wir nach den Vorlesungen zur Musikgeschichte zum Konservatorium eilten, um Pawels Interpretationen von Chopin, Schubert, Purcell, Scarlatti und Bach zu lauschen.  

Pawel war eine besondere, einprägsame Erscheinung: hager, ein wenig gebückt, in sich gekehrt.  

Er spielte gerne Barock und Romantik, war ein couragierter und feinfühliger Musiker, der jedes Stück durch sich hindurchließ. Er suchte immer seinen persönlichen Zugang, auch zu berühmten Werken. Zum Beispiel unterschied sich seine Interpretation von Chopins 24 Präludien von der Tradition: Er wählte mal ein langsameres, mal ein schnelleres Tempo, fügte Pausen ein und veränderte somit die Wirkung.“ 

Irina Michailowna, Mutter  

„Pascha ist in einer Musikerfamilie geboren: Ich bin Musikwissenschaftlerin, Paschas Vater, mein Mann, hat an einer Musikschule Kinder unterrichtet. Er ist 2020 gestorben. Pawels Großvater väterlicherseits war Gesangslehrer und Intendant des Volksbildungshauses der Oblast Tambow, wo er einen Kriegsveteranenchor leitete.  

Pascha wuchs in der Welt der Musik auf und ging früh darin auf. Die Liebe zur Musik hat er mit der Muttermilch aufgesogen, könnte man sagen.  

Am liebsten mochte er die Komponisten der Romantik, vor allem Schumann. Pascha spielte gerne seine Fantasie in C-Dur, die Sinfonischen Etüden und die Kinderszenen. Auch Chopin schätzte er sehr, und von den russischen Komponisten – Rachmaninow. Pascha gab manchmal Konzerte mit allen seinen 24 Präludien. Und wie er spielte! Sehr expressiv, er hatte ein tiefes Verständnis für die Musik. 

Ich bin jetzt 79, am 5. Dezember werde ich 80. Paschas Tod ist ein schwerer Schlag für mich, ich weiß nicht, ob ich meinen 80. Geburtstag noch erleben werde.“ 

„Extremer Protest“ 

Vor Gericht habe Pawel Kuschnir keine Verteidigung und keinen Rechtsbeistand gehabt, erzählt die Menschenrechtsaktivistin Olga Romanowa. Im Nachhinein hätten die Menschenrechtler erfahren, dass Pawel ein Anwalt an die Seite gestellt worden war, der sich „überhaupt nicht um seinen Mandanten gekümmert“ habe. 

„Er starb zu einem Zeitpunkt, als andere politische Häftlinge befreit wurden. Sein Fall ist nicht der erste und wird leider auch nicht der letzte sein“, beklagt sie.     

Bei Weitem nicht alle könnten sich einen Anwalt leisten, erklärt die Juristin Olga Sadowskaja von Komanda protiw pytok (Team gegen Folter): Die Menschenrechtler hätten erst von Pawels Tod erfahren und nicht schon von seinem Hungerstreik, als sie ihm noch hätten helfen können.  

Ihr zufolge hätten die Menschenrechtsaktivisten heute keinerlei Zugang zum System des Strafvollzugs (FSIN). Niemand bekomme Zutritt zu einer Untersuchungshaftanstalt, einer Strafkolonie oder einem Gefängnis. Diese Umstände hätten dazu geführt, dass die Informationen über Pawel zu spät nach außen gelangt seien: erst, als er bereits tot war.  

„Wir hätten es wissen müssen. Der Staat hätte uns unterrichten und Zugang zu ihm verschaffen müssen“, betont Sadowskaja. 

Sie ist überzeugt, dass Kuschnirs Tod im direkten Zusammenhang damit steht, dass Menschenrechtlern der Zugang zu den Haftanstalten verwehrt werde. Früher hätten sich die Häftlinge an die Obschtschestwennaja nabljudatelnaja komissija (Gesellschaftliche Beobachterkommission) wenden können, deren Kontakte in den Gefängnissen und Straflagern an den Wänden gehangen hätten. Heute gebe es das alles nicht mehr, sagt sie.     

„Die ONK hat früher regelmäßig Strafkolonien und Untersuchungsgefängnisse besucht, und wenn das immer noch so wäre, hätten wir früher von Pawel erfahren und dieses Problem angehen können: Wir hätten ihn überreden können, den Hungerstreik zu beenden, hätten durchsetzen können, dass er in ein richtiges Krankenhaus kommt, hätten die Medien eingeschaltet“, erklärt Sadowskaja. 

Der frühere Zugang zu den Informationen hätte ihm das Leben retten können, ist sie sich sicher.  

„Keiner der Menschenrechtsaktivisten hat von ihm gewusst – das lässt sich in der Datenbank von OWD-Info überprüfen, die eine der größten ist. Von diesem Hungerstreik wusste niemand außer den Mitarbeitern des Untersuchungsgefängnisses.“ 

Ein trockener Hungerstreik sei eine extreme, kurzzeitige Form des Protests, bei der nicht nur die Nahrung, sondern auch Wasser verweigert werde, erklärt Sadowskaja. Normalerweise sterbe man in acht bis zehn Tagen an Dehydrierung, wenn nicht schon früher an Organversagen. „Das ist ein qualvoller Tod, begleitet von geistiger Verwirrung, Wahnstörungen und Halluzinationen“, fügt sie hinzu.     

Nach internationalen Standards gelte eine Zwangsernährung bei Hungerstreik aus Protest nicht als Folter, wenn sie zum Ziel habe, das Leben der betreffenden Person zu retten.  

„Mir ist nicht bekannt, ob Pawels Hungerstreik eine Form des Protests war oder er wirklich sein Leben beenden wollte. Wenn es eine Protestaktion war, dann hatte die Gefängnisverwaltung ab dem Zeitpunkt, wo sein Leben in Gefahr war, die Pflicht, lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen“, erklärt Sadowskaja.  

Auch bei anderen politischen Gefangenen bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass niemand die Gefängnisleitung über einen eventuellen Hungerstreik informieren würde. „Niemand hat ihren Zustand im Blick. Ich hoffe, dass Pawels Geschichte für andere Häftlinge Signalwirkung hat und sie davon abhält, ihn nachzuahmen. Das ist nicht nur lebensgefährlich, sondern bedeutet den sicheren Tod“, betont sie.      

Davon, dass an Kuschnirs Tod das Personal der Haftanstalt mindestens erhebliche Mitschuld trägt, ist auch die Menschenrechtsaktivistin und Vorsitzende des Komitees Grashdanskoje sodejstwije (Zivile Zusammenarbeit) Swetlana Gannuschkina überzeugt. Für sie bedeutet Kuschnirs Tod auch den Verlust eines Mitstreiters. „Ich habe ihn nicht gekannt und zum ersten Mal von ihm gehört, als er nicht mehr lebte. Das weist darauf hin, dass Menschenrechtsverteidiger bei Weitem nicht von allen wissen, die sich gegen den Krieg aussprechen, sich für Menschenrechte einsetzen und deshalb in Russland strafrechtlich verfolgt werden. Das soll uns allen eine Lehre sein. Wir müssen lernen, nicht nur berühmten, prominenten Persönlichkeiten unsere ständige Aufmerksamkeit zu schenken“, bilanziert Gannuschkina. 

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Protest und Widerstand gegen den Krieg

In Russland wurden seit Beginn der Invasion zahlreiche Gesetze verschärft, um Proteste zu unterdrücken – mit Gummi-Paragraphen, die willkürlich ausgelegt werden. So droht Lagerhaft all jenen, die offen von Krieg sprechen, angeblich Falschinformationen verbreiten oder die – in den Augen der Sicherheitsorgane – die russischen Streitkräfte diskreditieren

Trotzdem gibt es Andersdenkende, die zeigen, dass sie nicht einverstanden sind. Die Formen, wie sie das tun, haben sich in den Monaten des Krieges verändert. Viele agieren anonym, um sich zu schützen, andere haben sich radikalisiert und wenden Gewalt an.

Coded Language

Die Gesetze, die die „Verbreitung von Falschinformationen“ über die russische Armee unter Gefängnisstrafe stellen, haben zur Folge, dass in zahlreichen öffentlichen Antikriegsbotschaften kodierte Sprache verwendet wird. Die prominenteste und am häufigsten kreativ umschriebene Botschaft ist dabei „Net Woine“ - „Nein zum Krieg“. Statt diese beiden Worte selbst aufs Plakat zu schreiben fanden sich zum Beispiel Botschaften wie „Zwei Worte“ oder „*** ****“ - und alle wissen, was gemeint ist. 

Bekannt wurde eine Aktivistin aus Sibirien, die „Net w***e“ geschrieben hatte, verklagt wurde und dann das Gericht überzeugen konnte, sie habe „Net Woble“ gemeint – Nein zur Wobla. Die Wobla ist laut Wikipedia „eine endemisch im Kaspischen Meer und an der unteren Wolga vorkommende Fischart“. Doch die Geschichte geht nicht so lustig weiter, denn das Verfahren wurde mittlerweile wieder aufgerollt. Ein Urteil ist wahrscheinlich.

Einzelakteure

Die zahlreichen Repressionen gegen führende Köpfe verschiedener oppositioneller Organisationen und Strömungen, die teils zu Gefängnisstrafen und teils zu Auswanderung führten, haben die Organisation von Widerstand enorm erschwert. Auch aus diesem Grund ist die Antikriegsbewegung kein kollektiver Akteur. Das bedeutet aber keineswegs, dass es keinen Widerstand gibt. Auch jenseits gewaltsamer Aktionen, wie den Brandanschlägen auf Einberufungsämter oder Attentaten auf Kriegspropagandisten, gibt es immer wieder Individuen, die sich dem Krieg friedlich entgegenstellen – auf ganz unterschiedliche Art. Wichtig sind nach wie vor die Einzelproteste mit Antikriegsbotschaften, teils in Coded Language. Aber es gibt immer wieder auch andere kreative Wege des Protests, bei denen jedoch immer die Möglichkeit im Raum steht, dass sie mit Repressionen beantwortet werden. In Wologda stand etwa im Dezember 2022 der 61-jährige Wladimir Rumiantsew vor Gericht, weil er mit Hilfe eines selbstgebauten Radiosenders im Umkreis seiner Wohnung kritische Radioprogramme, unter anderem vom sonst nur noch online zu hörenden Sender Echo Moskwy, weiterverbreitet hatte. Der Staatsanwaltschaft war es zwar nicht gelungen, eine Person aufzuspüren, die diese Programme empfangen hatte. Das hinderte sie jedoch nicht daran, ihn anzuklagen. Rumiantsew wurde wegen der Verbreitung von „Falschinformationen“ über die russische Armee zu drei Jahren Strafkolonie verurteilt.

Ersuchen

Als weniger gefährliche Variante, Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen, gilt noch immer die direkte Kontaktaufnahme mit Politiker:innen und Ämtern. So berichtet der Duma-Abgeordnete der Kommunistischen Partei Michail Matwejew regelmäßig bei Telegram von Bürger:innen, die ihn um Hilfe ersuchen – im Herbst 2022 etwa ging es oft um Ausnahmen von der Mobilisierung, die Frauen und Mütter für ihre Männer und Söhne erwirken wollten. Solche individuellen Maßnahmen haben einerseits mitunter größere Chancen auf Erfolg, weil sich Abgeordnete mit der Unterstützung Einzelner profilieren können und sie das System nicht viel kosten. Sie können aber andererseits genau deshalb wenig gegen den Krieg ausrichten und helfen sogar dabei, eine mögliche  kollektive Organisation von Unmut zu zerstreuen – weil Einzelnen auf diese Weise manchmal geholfen wird.
Etwas anders gelagert ist das Projekt des Aktivisten Michail Pletnjew, der zu Beginn der russischen Invasion ein System programmierte, das die Kontaktaufnahme zu Abgeordneten technisch stark erleichtert und vorformulierte Texte zu verschiedenen kriegskritischen (aber gleichwohl „erlaubten“) Themen anbietet – etwa zur Unterstützung von Geflüchteten aus der Ukraine, zur atomaren Deeskalation oder zur Forderung an Putin, eine Anordnung zum offiziellen Ende der Mobilisierung zu unterzeichnen. Die meisten Eingaben auf der Website des Projekts – 14.900 im April 2023 – hat die Forderung nach der Umsetzung des in der Verfassung festgeschriebenen zivilen Ersatzdienstes für alle, die der Mobilisierung unterliegen.

Exil-Protest 

Seit Beginn der Invasion haben hunderttausende junge bis mittelalte, gut ausgebildete Stadtbewohner:innen das Land verlassen. Einige haben dies mit Blick auf die eigenen ökonomischen Entwicklungsperspektiven getan – andere aus regimekritischen Gründen,  aus Furcht vor Einberufung, manchmal ist es auch beides zusammen. Teile dieser neuen Emigrationsbewegung organisieren – zusammen mit anderen, bereits im Ausland ansässigen Russinnen und Russen – seitdem immer wieder Anti-Kriegs-Proteste außerhalb Russlands. Häufig beteiligen sich daran auch prominente Exil-Oppositionelle wie Garri Kasparow oder Michail Chodorkowski. 

Die Proteste finden oft vor den diplomatischen Vertretungen Russlands im Ausland statt, oder an anderen zentralen Orten der westlichen Hauptstädte. Damit sollen Forderungen direkt an die russische Führung adressiert werden, die zumeist ungehört verhallen, bestenfalls in Stellungnahmen, Tweets oder Telegram-Posts ironisch kommentiert werden. 

Proteste an symbolträchtigen Orten sollen auch den im Westen teils bestehenden Eindruck einer lethargischen bis kriegsstützenden russischen Gesellschaft zerstreuen, der angesichts der Kriegsverbrechen russischer Soldaten und der zahlenmäßig schwachen Proteste innerhalb Russlands bei vielen entstanden ist. Das hat zwei Effekte: Die Proteste tragen im Westen tatsächlich zur Aufklärung bei. Sie unterstreichen, dass die vielen Kriegsgegner:innen in Russland vor allem aufgrund der exorbitanten Repression so wenig sichtbar sind. Zugleich bedienen diese Exilproteste ein Bild „guter Russen“ und tragen so ihrerseits dazu bei, der (im Land verbliebenen) russischen Bevölkerung eine Kollektivschuld zuzuschreiben.

Trotzdem liegt in den Protesten eine Chance, nämlich das Bild eines positiven, zukunftsgewandten, neuen Russlands ohne geopolitische Minderwertigkeitskomplexe und imperiale Ansprüche zu begründen. Als visuelles Symbol eines solchen „generalüberholten“ Russlands dient die weiß-blau-weiße Flagge. Ihr fehlt das Rot der russischen Flagge, das laut Aktivisten als „Farbe des Blutes“ die russische Trikolore als positives Identifikationssymbol spätestens seit der Invasion diskreditiert habe1.

„Feministischer Antikriegswiderstand“ (FAS) 

Die Gruppe gründete sich im Februar 2022 unmittelbar nach der Invasion. Auf Telegram wuchs sie schnell zu einer der größten Communities des Antikriegs-Protests heran. Die Aktivisten sprayen Graffiti, halten Einzelproteste ab, verteilen Flyer und organisieren andere Formen des Protests. Eine wichtige Protagonistin der Gruppe ist die Aktivistin, Lyrikerin und Kuratorin Daria Serenko. Bekannt unter anderem für das Projekt FemDatscha, ein 2020 gegründetes queer-feministisches Projekt außerhalb Moskaus, rief sie drei Tage nach der Invasion die Russinnen und Russen zum Widerstand auf:

„[...] Hört auf, erbärmliche Feiglinge, Konformisten, geduldige Leidtragende, loyale Bürger zu sein, hört auf, unpolitisch zu sein. 

Die Welt hat sich verändert. Unsere Apathie könnte die Ursache für die Zerstörung einer großen Zahl von Menschen sein, einschließlich unserer Kinder und Angehörigen.

Hört auf, in Cafés zu sitzen. Hört auf, Urlaube zu planen. Hört auf, der Propaganda zuzuhören. Sterbt nicht als Idioten. Hört auf, Angst vor Gefängnis und Festnahmen zu haben, ich schwöre bei Gott, das sind nicht die schlechtesten Optionen.

Schließt euch Antikriegsaktivist:innen und -bewegungen an. Protestiert gegen diesen Krieg. [...]“

Während sich eine internationale Gruppe von Feministinnen gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen hatte und sich in ihrem Manifest auf den FAS bezogen hatte, stellt die Gruppe in ihren Statements häufig klar, dass Gewalt dann als legitimes Mittel anzusehen sei, wenn es um die „Befreiung von der Unterdrückung“ gehe2. So solidarisierte sich der FAS auch mit den ukrainischen Feminist:innen, die in ihrem Manifest wiederrum erklärten:

„Ein abstrakter Pazifismus, der alle am Krieg beteiligten Seiten verurteilt, führt in der Praxis zu unverantwortlichen Lösungen. Wir bestehen auf dem wesentlichen Unterschied zwischen Gewalt als Mittel der Unterdrückung und als legitimes Mittel der Selbstverteidigung.“ 

Attentate auf Kriegspropagandisten

Am 20. August 2022 kam Daria Dugina, konservative Aktivistin und Tochter des faschistischen Philosophen Alexander Dugin, bei einem Anschlag auf Dugins Auto bei Moskau ums Leben. Kurz darauf reklamierte der russische Exiloppositionelle Ilja Ponomarjow den Anschlag für die von ihm angeblich unterstützte Partisanengruppe „Nationale Republikanische Armee“. Die Existenz dieser Gruppe ist jedoch zweifelhaft; unabhängige Bestätigungen ihrer Aktivitäten und ihrer Zusammensetzung fehlen. 

Am 2. April starb der ukrainische Staatsbürger Maxim Fomin bei einem Attentat in Sankt Petersburg. Fomin war ein glühender Unterstützer des Krieges und hatte unter dem Pseudonym Wladlen Tatarski als „Militärblogger“ bei Telegram vom Krieg berichtet. Fomin war am Rande der Zeremonie im Kreml zur Annexion der vier ukrainischen Oblasten im September 2022 durch die Äußerung aufgefallen, nun werde man „alle besiegen, alle töten [...]. Alles wird kommen, wie wir es lieben.“ Er starb durch eine Bombe, die mutmaßlich in einer Büste versteckt war und die eine junge Frau ihm anlässlich eines Auftritts in einem Sankt Petersburger Café überreicht hatte. Die Frau, Daria Trepowa, wurde zwei Tage später verhaftet. Sie soll laut Behörden Alexej Nawalnys FBK nahegestanden haben.

Die Umstände beider Anschläge sind ungeklärt, Spekulationen reichen von Aktionen des ukrainischen Geheimdienstes über False-Flag-Aktionen der russischen Geheimdienste bis zur Existenz von oppositionellen Untergrundnetzwerken in Russland. Wenngleich nichts davon gesichert ist, ist es doch nicht unmöglich, dass sich der russische Widerstand in geheimer und dezentraler Form auch in gewaltsamen Aktionen gegen die Propagandisten des Krieges äußert.

Brandanschläge 

Es gibt immer wieder Brandanschläge auf die Strukturen der Armee, insbesondere auf die Einberufungsämter. Der erste dieser Art fand schon drei Tage nach dem russischen Einmarsch statt. Der Attentäter veröffentlichte dazu ein Manifest, unter anderem mit den Worten „Die Ukrainer werden wissen, dass Russen für sie kämpfen; nicht alle haben Angst, nicht jedem ist [der Krieg] gleichgültig.“ Insgesamt schätzt das Online-Medium Mediazona die Zahl der Anschläge bis Ende 2022 auf etwa 77.

Die Anschläge stehen für einen kleinen Teil der Kriegsgegner, die sich – infolge der Radikalisierung des Regimes – ebenfalls radikalisieren. Anstatt bei Straßenprotesten „nur“ ihre Meinung zu äußern und damit letztlich an die Herrschenden zu appellieren, versuchen sie, die Kriegsmaschinerie so zu beschädigen, dass die materiellen Kosten für diesen Krieg steigen. Sabotage kann sehr effektiv sein, ist aber naturgemäß eine gefährliche Angelegenheit und wird daher nur für eine verschwindend geringe Minderheit in Frage kommen.

Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine

In einigen Telegram-Chats haben sich lokale Freiwillige zusammengefunden, um Hilfe für ukrainische Geflüchtete zu organisieren, die weiter nach Europa reisen wollen. Nicht alle Russinnen und Russen, die sich für Geflüchtete aus der Ukraine engagieren, sind gegen den Krieg. Doch Interviews zeigen, dass die Flüchtlingshilfe für viele, die aufgrund der immensen Repressionen vor radikalerem Widerstand zurückschrecken, eine willkommene Möglichkeit ist, sich einzubringen und auch das eigene Gewissen zu entlasten. 

Künstler

Auch Künstlerinnen und Künstler sahen sich mit Beginn der Invasion vor die Frage gestellt, ob sie dagegen Position beziehen und damit den Ausschluss aus der Kulturszene oder andere Konsequenzen riskieren, oder ob sie stattdessen versuchen, den Krieg zu ignorieren – oder ihn sogar positiv in ihr Werk einzubeziehen. Beispiele gibt es für jede dieser Varianten.

Gleich nach der Invasion äußerten sich zum Beispiel die Sängerin Zemfira, der Sänger Waleri Meladse, der Comedian Maxim Galkin oder der Talkshow-Host Iwan Urgant unmissverständlich gegen den Krieg. Sie alle (und viele weitere) beendeten damit faktisch ihre Karriere in Russland. Urgants beliebte Prime-Time-Show im staatlichen Ersten Kanal wurde abgesetzt, Zemfira und Galkin emigrierten und treten nur noch im Ausland auf. 

Der Sänger und Satiriker Semjon Slepakow versuchte es zunächst mit vorsichtigeren Tönen. Er erklärte, dass Frieden nötig sei, sparte aber zunächst mit direkter Kritik. Im Herbst 2022 veröffentlichte er schließlich einen kritischen Song und emigrierte nach Israel. Auch die große Alla Pugatschowa gab sich lange zurückhaltend, bis sie mit einer klaren Antikriegsposition längst nicht nur Beifall sondern viel Kritik und Schmähung erntete.

Auch abseits der großen Bühnen setzten sich viele Künstler:innen gegen den Krieg ein. Beispielhaft steht dafür die Sankt Petersburger Musikerin Sascha Skotschilenko, der als eine der ersten ein Verfahren über das Verbreiten von „Falschinformationen“ über die russische Armee angehängt wurde, weil sie Preisschilder im Supermarkt gegen kleine Zettel mit Informationen zu zivilen Kriegsopfern ausgetauscht hatte.

Die anderen Haltungen zum Krieg sind jedoch nicht weniger zahlreich zu finden: Viele lassen sich in die Propaganda einspannen und leihen den Kriegszielen ihren Namen. Im Herbst veröffentlichte ein Kollektiv, bestehend aus bekannten Sänger:innen wie zum Beispiel Stas Michailow, einen gemeinsamen Clip zum Titel Wstanem („Wir stehen auf“) des Sängers Shaman (Jaroslaw Dronow). Der Song handelt von den Helden des Zweiten Weltkriegs, im Clip sind aber zu Worten wie „solange Gott und die Wahrheit mit uns sind“ immer wieder aktuelle Szenen des Krieges gegen die Ukraine zu sehen.

Oppositionspolitiker und -parteien

Gleich nach dem Einmarsch haben sich einige wenige Politiker der systemischen Opposition, vor allem der Kommunistischen Partei, zu Wort gemeldet. Darunter war der Duma-Abgeordnete Michail Matwejew, der sagte, er habe bei der Abstimmung über die Anerkennung der ukrainischen Donbas-Republiken als unabhängige Staaten mit seinem Ja „für Frieden“ gestimmt, und „nicht dafür, Kiew zu bombardieren“3. Es gab auch einige regionale Abgeordnete, die sich gegen den Krieg aussprachen. Einen solchen Fall gab es zum Beispiel in Wladiwostok mit zwei Abgeordneten, die beide sofort aus ihrer Fraktion ausgeschlossen wurden. Solche Stimmen sind jedoch Einzelfälle.

Anders ist das bei der liberalen Partei Jabloko. Sie hat sich als einzige der offiziell zugelassenen Parteien offen gegen den Krieg positioniert und hält diese Position seit Kriegsbeginn durch. Für die öffentliche Meinung spielt sie indes so gut wie keine Rolle: Die Partei ist seit Jahren komplett marginalisiert. Sie ist außerdem unter der nicht-systemischen Opposition, also den kompromissloseren Regimegegnern, weitgehend diskreditiert – weil sie als zahnlos gilt, ohne nennenswerten Einfluss gegen das System Putin

Einer der letzten prominenten Politiker dieser demokratischen nicht-systemischen Opposition, Ilja Jaschin, hat sich ebenfalls deutlich gegen den Krieg ausgesprochen. In einem YouТube-Livestream sprach er über die getöteten Zivilisten in Butscha, woraufhin die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen der „Verbreitung von Falschinformationen“ über die russische Armee eröffnete. Er hat das Land nicht verlassen und wurde im Dezember 2022 zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt. 

Ähnlich erging es dem liberalen Lokalpolitiker Alexej Gorinow. Er hatte im März bei der Sitzung eines Moskauer Stadtteilparlaments dazu aufgerufen, die russische Armee abzuziehen und hatte die „Spezialoperation“ einen Krieg genannt. Gorinow wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt.

Spontane Kundgebungen und Demonstrationen wurden nach Russlands Einmarsch in die gesamt Ukraine immer gefährlicher / Foto © Gavriil Grigorov/ITAR-TASS/imago-images

OWD Info

Der Name der Organisation OWD leitet sich von der Bezeichnung „organy wnutrennych del“ – „Organe des Inneren“ – ab, die die Einheiten der Polizei und weiterer Behörden zur Wahrung der inneren Sicherheit umfasst. Die Organisation besteht seit 2011 und widmet sich der juristischen Unterstützung für Menschen, die von Repression betroffen sind, außerdem der Aufklärung über politische Repression. Dazu stellt sie hilfreiche Informationen für politische Aktivist:innen zusammen, bietet juristische Beratung an und vermittelt anwaltliche Unterstützung. Sie hat zudem ein Netz von Korrespondent:innen in den russischen Regionen, die von Repressionsfällen berichten. OWD-Info sammelt systematisch Daten zu politisch motivierten Gerichtsverfahren und Verurteilungen: Sie zählt zum Stand August 2023 19.786 Festnahmen im Zusammenhang mit Antikriegsprotesten, 7683 eingeleitete Verfahren zur „Diskreditierung der Streitkräfte“ (darunter auch Ordnungswidrigkeiten) sowie 663 Strafverfahren gegen Personen für ihre Antikriegsposition.4

Petition

Zu Beginn der Invasion setzten verschiedene Gruppen offene Briefe und Petitionen gegen den Krieg auf. Neben allgemeinen Antikriegs-Petitionen, wie es sie vom Feministischen Widerstand (rund 110.000 Unterschriften, Stand September 2023) und von dem Menschenrechtler Lew Ponomarjow (rund 1,3 Millionen Unterschriften, Stand September 2023) gab, waren dies häufig Offene Briefe von bestimmten Berufsgruppen oder anderer klar umrissener Kollektive. Darunter war zum Beispiel ein Brief, der von über 8000 ganz überwiegend in Russland ansässigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterzeichnet wurde, ein offener Brief von Kino- und Filmschaffenden sowie ein Brief russischer Ärztinnen und Ärzte. Internationale Aufmerksamkeit erregte auch die Stellungnahme regionaler Abgeordneter aus Sankt Petersburg, die im September 2022 aufgrund des Krieges eine Petition der Staatsduma gegen Wladimir Putin wegen Hochverrats forderten.5 Die beteiligten Abgeordneten leben teils inzwischen im Exil, teils wurden strafrechtliche Verfahren eröffnet wegen „Diskreditierung der Streitkräfte“.

Ähnlich wie die Proteste von Russinnen und Russen im Ausland dienen diese Stellungnahmen weniger der direkten Beeinflussung der Politik in Russland, sondern mehr der Signalisierung, dass es noch zahlreiche kritische Geister gibt, die in einer möglichen Post-Putin-Ära als Repräsentanten eines möglichen neuen Russlands (das zur Zeit freilich nicht mehr ist als ein Wunschtraum) zur Verfügung stehen.

Proteste 

Im Rückblick ist die große Repressionskampagne des russischen Staates gegen Alexej Nawalnys Organisationen und gegen unabhängige Medien im Jahr 2021 fast zweifelsfrei als Kriegsvorbereitung zu interpretieren. Der organisierte Widerstand, dessen ressourcen- und reichweitenstärkster Repräsentant die Gruppe um Nawalny war, sollte präventiv zerschlagen werden. Trotzdem sind gleich zu Beginn der russischen Invasion zahlreiche Menschen in spontanen Aktionen auf die Straßen gegangen. Einzelne Politiker:innen riefen zum Protest auf, wie auch die Aktivistengruppe Wesna, die im April 2022 die vorletzte Protestwelle organisierte – zu der aber kaum noch jemand kam. Die letzten größeren Demonstrationen mit einigen hundert bis tausend Menschen gab es dann im September 2022 nach Ausrufung der „Teilmobilmachung“ in verschiedenen Landesteilen. So bleibt der Protest anonym, unorganisiert, und schwach. Das bedeutet nicht, dass er wirkungslos wäre; aber unmittelbare Auswirkungen auf die großen Entscheidungen in Bezug auf den Krieg sind von möglichen Protesten nicht zu erwarten.6

Pikety

Pikety sind kleine Protestkundgebungen ohne Bühne und Lautsprecher, die sich – im Gegensatz zum Demonstrationszug – nicht von der Stelle bewegen. Der „odinotschny piket“, der Einzelprotest, hat in den letzten Jahren eine immer wichtigere Rolle im russischen Repertoire des Protests eingenommen, denn er ist immer noch die öffentliche Protestform, die nicht grundsätzlich der Absprache (das heißt einer de-facto Genehmigung) der Behörden bedarf. Als die spontanen Kundgebungen und Demonstrationen nach Russlands Einmarsch immer gefährlicher wurden, waren Einzelproteste zunächst für viele das Mittel der Wahl. Es gibt sie immer noch zuweilen, an U-Bahn-Stationen und anderen belebten Orten, auch wenn man mittlerweile grundsätzlich mit Verhaftung und Gefängnis rechnen muss. Denn jede Antikriegsäußerung in der Öffentlichkeit kann grundsätzlich als Begründung für ein Strafverfahren wegen „wissentlicher Verbreitung von Falschinformationen“ herangezogen werden.

Wesna

Wesna ist eine politische Jugendgruppierung, die aus der liberalen Partei Jabloko in Sankt Petersburg hervorgegangen ist. Im Jahr 2012 gab es einen innerparteilichen Streit zwischen zwei aufstrebenden Abgeordneten, die sich weigerten, ihre erfolgreich errungenen Mandate an die Altvorderen abzutreten. Das führte zum Ausschluss, dem weitere Parteianhänger folgten. Daraus formierte sich unter anderem auch Wesna. Die Gruppe hat seither zahlreiche Protestaktionen organisiert, die in Petersburg für Aufsehen gesorgt haben. 
Wesna hat auch zum Antikriegsprotest nach dem 24. Februar 2022 beigetragen, gilt als eine der wenigen Kräfte, die überhaupt noch Menschen mobilisieren können. Zu Beginn des Krieges hat Wesna mehrmals zu Straßenprotesten aufgerufen, zuletzt im April 2022. Danach verlegten sie sich auf die Ermunterung zu weniger gefährlichen Einzelaktionen, wie das Verteilen von Flyern und Graffiti. Sie posten auch regelmäßig Bilder von visuellen Antikriegsbotschaften aus ganz Russland und organisieren juristische Unterstützung für verfolgte Antikriegsaktivist:innen. Ihre Aktivitäten bei Social Media sind wichtig, um im Inland zu demonstrieren, dass Menschen mit ihrer Haltung nicht allein sind – und ins Ausland das Signal zu senden, dass nicht nur viele Russen gegen den Krieg sind, sondern sich auch trauen, dies mehr oder weniger offen zu zeigen.


1.theguardian.com: Russian flags come down in New York’s Little Odessa: ‘Putin has turned it into a fascist symbol’ und Russland-Analysen Nr. 420: Emigration, Exil, Flucht 
2.t.me/femagainstwar: Absoljutnyj pacifizm — privilegija tech, kto v bezopasnosti 
3.holod.media: «Odni kričat: „Ubijca!“, drugie – „Predatel'“» 
4.ovd.info: Svodka antivoennych repressij. Avgust 2023 
5.dw.com: Bezirksrat fordert Anklage Putins 
6.bpb.de: Analyse: Krieg, Protest und Regimestabilität 

 

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