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Debattenschau № 47: ESC-Kandidatin Julia Samoilowa

Wie politisch ist der Eurovision Song Contest (ESC)? Die Frage wurde schon mehrfach diskutiert, vor allem auch im vergangenen Jahr, als die Ukraine (ein Jahr nach der russischen Angliederung der Krim) die Krimtatarin Jamala ins Rennen schickte, diese prompt gewann und den russischen Kandidaten auf Platz 3 verwies.
 
Nun hat der Erste Kanal die russische Kandidatin für den ESC 2017 in Kiew bekannt gegeben. Dass keine Zuschauerwahl stattfand, ist nicht gegen ESC-Regeln, aber ungewöhnlich. Und leistet dem Vorwurf Vorschub, dass die russische Seite versuche, die Gewinnerin zu instrumentalisieren: Julia Samoilowa hat 2015 einen Auftritt auf der Krim absolviert. Weil sie bei ihrer Einreise gegen ukrainisches Recht verstieß – sie hatte keine Einreiseerlaubnis der ukrainischen Behörden – droht ihr in diesem Fall eigentlich ein Einreiseverbot oder eine Geldstrafe. Da die 27-jährige Sängerin aber seit ihrer Kindheit im Rollstuhl sitzt und noch dazu in einem Interview sagte, schon immer von der Teilnahme beim ESC geträumt zu haben, sehen vor allem viele Ukrainer ihr Land moralisch erpresst. Am 15. März wurden laut Medienberichten schließlich alle Verbote gegen die Sängerin von ukrainischer Seite aufgehoben – für die Zeit des ESC [Update vom 22. März: Wie Interfax berichtet, wurde Samoilowa ein offizielles Einreiseverbot erteilt. Der Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU hatte bereits am 20. März angegeben, dass ein Dokument für ein Einreiseverbot gegen Samoilowa vorbereitet worden sei].

In russischen wie ukrainischen Medien und Sozialen Netzwerken tobt seit Samoilowas Nominierung eine hitzige Debatte. Eine Debatte, die nicht nur das desolate Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine spiegelt, sondern auch positive wie negative Stereotype gegenüber Menschen mit Behinderung zum Vorschein bringt.

Источник dekoder

Facebook Uliana Pcholkina: Gleiche Regeln für alle

Die ukrainische TV-Moderatorin Uliana Pcholkina sitzt selbst im Rollstuhl. Auf ihrer Facebook-Seite wirbt sie für gleiche Regeln für alle – in jeder Hinsicht:

Deutsch
Original
Die Kandidatin Russlands, die eine Behinderung hat, soll unter Verletzung der Gesetze unseres Staates in die Ukraine reisen. Der SBU untersucht den Fall bereits und wird überprüfen, ob Julia tatsächlich die ukrainische Grenze überschritten und ein Konzert auf der annektierten Krim gegeben hat.

Aber hier gibt es noch eine andere Seite der Medaille. Im Internet schreiben einige, dass sie Favoritin würde, weil sie „ein armes Mädchen im Rollstuhl“ sei.

Leute, meint ihr das ernst? Das ist ein Songcontest, und bewertet werden sollten der Gesang, das artistische Vermögen und der Auftritt selbst! Was spielt denn hier die Behinderung für eine Rolle? Wie hilft ihr diese beim Singen?

[...]

Ich schlage vor, eine Aktion ins Leben zu rufen: „Ukrainische Menschen mit Behinderung gegen die Gesetzesbrecherin Samoilowa!“

Конкурсантка від росії, яка має інвалідність, має приїхати в Україну, порушуючи закони нашої держави. СБУ вже розглядає цей випадок і буде перевіряти, чи дійсно Юлія перетинала кордон України і давала концерти в анексованому Криму.

Але, тут є і інша сторона медалі. Користувачі мережі, пишуть, що вона має стати фавориткою, бо "бєдна дєвочка в каляскє" ...

Народ, ви серйозно? Це пісенний конкурс і оцінювати треба спів, артистичність і сам номер! При чому ту її інвалідність? Як вона допомагає їй співати?

[...] Пропоную, запустити акцію "Люди з інвалідністю України, проти порушниці закону Самойлової!

 
erschienen am 13.03.2017

Republic: Revanche und Testballon

Oleg Kaschin kommentiert auf dem unabhängigen russischen Portal Republic, dass die ESC-Teilnahme Julia Samoilowas für die Verantwortlichen Revanche und Testballon zugleich bedeute:

Deutsch
Original
Nun wird niemand mehr glauben, dass der Skandal in der Show Minute des Ruhms unabhängig war von der geplanten Kandidatur der russischen Sängerin beim Kiewer ESC. Auf der Seite des Ersten Kanals finden sich die Clips nebeneinander in der Rubrik „Spezialprojekte“: Renata Litwinowa und Wladimir Posner entschuldigen sich bei dem einbeinigen Tänzer Jewgeni Smirnow für die Äußerungen zum „unerlaubten Kniff“, daneben das Mädchen im Rollstuhl, die Sängerin Julia Samoilowa mit ihrem Song Flame is burning, quasi als Fortsetzung des Themas „Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen im kulturellen und medialen Leben Russlands“.

[...]

Die Sängerin Samoilowa befindet sich an einem Punkt, an dem gleich drei Probleme sich kreuzen, mit denen sie nichts zu tun hat. Die Revanche des Ersten Kanals nach der ESC-Niederlage im vergangenen Jahr, und jetzt, im Vorfeld der Wahl, das Austesten der Möglichkeiten des Fernsehens sowie der russisch-ukrainischen Beziehungen – das sind die drei Räder, auf denen der Rollstuhl der Sängerin ins Finale des Wettbewerbs gefahren ist.

Никто уже не поверит, что скандал на шоу «Минута славы» не был связан с запланированным выдвижением российской певицы на киевское «Евровидение». На сайте Первого канала эти два ролика висят рядом в разделе спецпроектов – Рената Литвинова и Владимир Познер извиняются («извиняются») перед безногим танцором Евгением Смирновым за слова о «запрещенном приеме», а рядом девушка в инвалидной коляске, певица Юлия Самойлова со своей песней «Flame is burning» как бы продолжает тему участия людей с ограниченными физическими возможностями в культурной и медийной жизни России. [....]

Певица Самойлова находится в точке, в которой сошлись сразу три проблемы, не имеющие к ней никакого отношения. Реванш Первого канала после прошлогоднего отставания, предвыборные проверки возможностей телевидения и российско-украинские отношения – вот три колеса, на которых коляска певицы доехала до финала песенного конкурса.

 

erschienen am 13.03.2017

Komsomolskaja Prawda: Die Flamme brennt

Das Boulevardblatt Komsomolskaja Prawda mutmaßt, weshalb Julia Samoilowas ESC-Teilnahme in Russland nicht unumstritten ist:

Deutsch
Original
Von der Seite sieht das so aus: Nach Kiew kommt endlich der Armata T-14, fährt auf die Bühne des ESC und beginnt zu feuern. Flame is burning – die Flamme brennt. Und mit ihr die „europäischen Werte“, die gleichgeschlechtliche Liebe, die Transgender, Transvestiten, Transsexuellen und anderes profiliertes Publikum der Show.

Das wäre ein zu konfrontatives Vorgehen. So scheint es vielen (bei einer Umfrage des KP-Radios sprachen sich 64 Prozent gegen die Kandidatur von Julia aus). Das wäre zu gemein, zu konjunkturell, zu spekulativ.

Mit anderen Worten: ein „unerlaubter Kniff“.

Со стороны это выглядит так. В Киев наконец-то входит «Армата Т-14», заезжает на сцену «Евровидения» и начинает палить. Горит пламя. А вместе с ним — «европейские ценности», однополая любовь, трансгендеры, трансвеститы, транссексуалы и другая профильная аудитория шоу.
То есть слишком лобовой ход. Так кажется многим (опрос на радио «КП» выявил 64% несогласных с кандидатурой Юли). Слишком пошло, слишком конъюнктурно, слишком спекулятивно.

Другими словами, запрещенный прием.

 

erschienen am 13.03.2017

Apostrophe.ua: ESC als Plattform für hybriden Krieg

Das ukrainische Onlinemagazin Apostrophe.ua empfindet die Kandidatur Samoilowas ebenfalls als eine Art „unerlaubten Kniff“: 

Deutsch
Original
Die Russische Föderation nutzt den ESC nicht als Songcontest, sondern als ideologische Plattform für ihren hybriden Krieg.

So haben sie ohne jegliche Vorauswahl Julia Samoilowa zur Kandidatin gekürt, zynisch eine Interpretin im Rollstuhl ausgewählt, um später zu zeigen, wie brutal die Ukrainer sind, weil die sie nicht reinlassen. Das ist der völlige moralische Verfall des putinschen Russlands sowohl in humanitärer als auch in politischer Hinsicht. Die Auswahl eines Mädchens, das sich im Rollstuhl fortbewegt – das ist für die ein völlig normaler propagandistischer Zug. 

РФ использует Евровидение не как песенный конкурс, а как идеологическую площадку в своей гибридной войне.

И вот они без всякого отбора назначили кандидата Юлию Самойлову, цинично выбрав исполнительницу на инвалидной коляске, чтобы потом показать жестокость украинцев, которые не будут ее принимать. Это полное моральное падение путинской России как в гуманитарном, так и в политическом смысле. Выбор девушки, которая передвигается на инвалидном кресле, – для них нормальный пропагандистский ход.

 
erschienen am 13.03.2017

Blog Echo Moskwy: Verhängnisvolles Symbol

Dimitri Bykow sieht in seinem Blog auf Echo Moskwy ein „gefährliches Symbol“ in einer Rollstuhlfahrerin, die Russland ausgerechnet in der Ukraine vertreten soll:

Deutsch
Original
Russland und die Ukraine befinden sich vielleicht nicht im Kriegszustand, aber Frieden kann man das auch nicht nennen. In dieser Situation ein Mädchen im Rollstuhl auf die ukrainische Bühne zu schicken, bedeutet – besonders wenn man bedenkt, dass der ESC in Russland aus irgendeinem Grund als unglaublich wichtig und prestigeträchtig gilt, obwohl er das schon längst nicht mehr ist – einen gefährlichen symbolischen Schritt zu machen. Schließlich interpretieren wir jetzt jeden Wettbewerb, ob kulturell oder sportlich, im symbolischen Sinne. Und bei diesem Wettbewerb einen Invaliden vorzuschlagen, bedeutet ein gewisses doppeldeutiges Bild seines Landes zu schaffen. Nach der Art: Uns darf man nicht den Sieg verwehren, weil wir krank sind. Das wurde offenbar nicht so erdacht, aber aussehen tut es genau danach. Ist Russland heute daran interessiert, als Invalider zu erscheinen? (Besonders wenn man bedenkt, dass die Situation von Menschen mit Behinderung in Russland schwierig ist.)

Ich persönlich will nicht, dass mein Land im Kontext höchst musikalischer Wettkämpfe als Paralympionike wahrgenommen wird. Auch wenn das heute der schnellste Weg zum Sieg ist. Aber vielleicht wissen wir einfach nicht alles über die wahre Sachlage?

Россия сейчас находится с Украиной не то чтобы в состоянии войны, но и миром это тоже не назовешь. В этой обстановке выпускать на украинскую сцену девушку в коляске — особенно если учесть, что Евровидение почему-то считается в России ужасно важным и престижным, давно не являясь таковым — значит совершать опасный символический шаг. Ведь мы теперь любое соревнование, культурное или спортивное, интерпретируем в символическом плане. И предлагать к участию в таком конкурсе инвалида — значит создавать какой-то двусмысленный образ своей страны. Типа нам нельзя не отдать победу, потому что мы больные. Это явно задумывалось не так, но выглядит это именно так. Заинтересована ли сегодня Россия в том, чтобы представать в образе инвалида? (Особенно если учесть, что положение инвалидов в России сложное.)

Лично я не хотел бы, чтобы моя страна воспринималась в контексте сугубо музыкальных соревнований как паралимпиец. Даже если это сегодня кратчайший путь к победе. Но, может, мы просто не всё знаем об истинном положении дел?

 

erschienen am 15.03.2017

Nowoje Wremja: Nichts zu befürchten

Bogdan Jaremenko ist ukrainischer Diplomat und Vorsitzender der Bewegung Maidan sakordonnich spraw. Was er am 14. März auf dem populären ukrainischen Onlineportal Nowoje Wremja vorschlägt, wurde schließlich umgesetzt: Für die Zeit des ESC darf Samoilowa in die Ukraine reisen [Update vom 22. März: Wie Interfax berichtet, wurde Samoilowa nun ein offizielles Einreiseverbot erteilt. Der Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU hatte bereits am 20. März angegeben, dass ein Dokument für ein Einreiseverbot gegen Samoilowa vorbereitet worden sei]:

Deutsch
Original
Ich würde Samoilowa zum ESC in der Ukraine zulassen.
Erstens haben wir gewisse Verpflichtungen gegenüber den Organisatoren und Zuschauern des Wettbewerbs. [...] Und Verpflichtungen muss man erfüllen – einerlei, ob es für dich nutzbringend oder schwierig ist.
[...]

Ja, wir haben das Hoheitsrecht, zu definieren, wen wir auf unserem Staatsgebiet sehen wollen oder nicht. Und selbstverständlich wird die Entscheidung, Samoilowa nicht zum ESC zu lassen, aus offensichtlichen Gründen unter vielen Ukrainern Anklang finden.

Aber falls wir die Einreise verweigern, und zwar einer Sängerin, die noch dazu „ein Mädchen im Rollstuhl“ ist (Julia Samoilowa ist körperlich beeinträchtigt), schadet dieser von Russland provozierte Skandal der nationalen Sicherheit der Ukraine meines Erachtens mehr als wenn wir Julia Samoilowa für die ESC-Teilnahme in unser Staatsgebiet lassen.

[...]

Und noch eine Sache: Ich habe mir Samoilowa angeguckt, ihr Lied angehört … Eine abgeleierte Melodie (würde mich wirklich wundern, wenn die nicht geklaut ist), ein einfach gestricktes Mädchen (und ihren Facebook-Posts nach – einfach ungebildet), irgendeine scheußlich-gelispelte englische Aussprache. In etwa so ist auch Russland. Da gibt’s nichts zu befürchten.

Я бы допустил Самойлову в Украину на Евровидение.

Во-первых, мы имеем определенные обязательства перед организаторами и зрителями конкурса. [...] Обязательства следует выполнять несмотря на то, выгодно, сложно это для тебя или нет.
[...] 
Да, мы имеем суверенное право определять, кого хотим или не хотим видеть на территории своего государства. И, конечно, решение не допустить на Евровидение Самойлову по очевидным причинам найдет положительные отзывы среди многих украинцев.

Но спровоцированный россиянами скандал вокруг нашего отказа допустить в Украину певицу, да еще и "девушку в инвалидной коляске" (Юлия Самойлова имеет физические ограничения), с моей точки зрения, нанесет больше вреда национальной безопасности Украины, чем допуск на нашу территорию для участия в конкурсе Евровидение Юлии Самойловой.
[...]
И еще одно. Посмотрел я на Самойлову, послушал ее песню... Банальный мотив (буду искренне удивлен, если не ворованный), простенькая девочка (а из постов в ФБ - то элементарно безграмотная), какое-то ужасно-шепелявое английское произношение. Где-то такой Россия и есть. Нечего бояться. 

 

erschienen am 14.03.2017

InLiberty: Amputation des Gewissens

Der Politikwissenschaftler und Historiker Sergej Medwedew ist eine der profiliertesten Stimmen des liberalen Lagers. Auf der unabhängigen Diskussionsplattform InLiberty geißelt er den Zynismus der Show-Produzenten:  

Deutsch
Original
Samoilowas Problem besteht auf zwei Ebenen – auf der menschlichen und auf der politischen. Auf der menschlichen kann man ihr nichts anderes für den Wettbewerb wünschen als den Sieg, von dem sie schon jahrelang träumt. [...] Möglicherweise wird ihr Auftritt allen helfen, die mit eigenen Verletzungen und Gebrechen kämpfen; die diese nicht verstecken, den Schmerz überwinden, die Isolation und die Anonymität. Vielleicht wird er ihnen helfen, sich vollwertig in die Gesellschaft zu integrieren. 

Auf der politischen Ebene ist es unmöglich, sich nicht über den Zynismus dieser Show-Produzenten zu wundern, die Samoilowa nach Kiew schicken – lösen sie doch ihre propagandistischen Aufgaben mithilfe verwundbarer, abhängiger Körper. Im Übrigen, das Gewissen wurde ihnen schon vor Langem amputiert – wie auch unsere Fähigkeit verkümmerte, uns noch über irgendetwas zu wundern.

Проблема Самойловой существует на двух уровнях — человеческом и политическом. По-человечески нельзя не желать ей победы в конкурсе, о котором она мечтала долгие годы: Возможно, ее выступление поддержит всех, кто борется со своими травмами и недугами, не скрывает их, преодолевает боль, изоляцию и анонимность, поможет им полноценнее интегрироваться в общество. Но на политическом уровне нельзя не удивиться цинизму продюсеров этого шоу с отправкой Самойловой в Киев: они решают свои пропагандистские задачи при помощи уязвимых, зависимых тел. Впрочем, у них уже давно случилась ампутация совести — как и у нас атрофировалась способность чему-либо удивляться.

 

erschienen am 14.03.2017

dekoder-Redaktion

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Russland und der ESC

2009 richtete Vorjahressieger Russland zum ersten Mal den Eurovision Song Contest aus. Und wie: Zur Eröffnung des ersten Halbfinals trat das international bekannte russische Duo t.A.T.u. mit seinem Hit Not gonna get us auf. Bei der Aufführung war auch das Alexandrow-Ensemble, einer der bedeutendsten und ältesten Soldatenchöre in Russland, dabei. Als Bühnendekoration dienten ein Jagdflieger und ein pinkfarbener, blumengeschmückter Panzer. Hinter der Bühne war eine rote Kremlmauer zu sehen.

Die Inszenierung verdeutlicht die widersprüchliche Haltung Russlands zu Europa und zum ESC: Einerseits bedient man den Mainstream-Geschmack und die ESC-übliche Sehnsucht nach Glitzer und Glamour. Andererseits folgt Russland seinen eigenen Regeln, gleichzeitig mit dem Anspruch, auch für die anderen Maßstäbe zu setzen. Gerade in Georgien wurde so kurz nach dem Kaukasuskrieg von 2008 der Panzer als Affront aufgefasst und kritisiert.

Die Ereignisse rund um den ESC 2017 in Kiew – mit dem Einreiseverbot für die russische Sängerin Julia Samoilowa in die Ukraine und drohenden Sanktionen von der European Broadcasting Union (EBU) sowohl für die Ukraine als auch für Russland – warfen eine alte Frage wieder neu auf: Wie politisch ist der ESC?

https://www.youtube.com/watch?v=cwOkm300oiM

Selbst zu Zeiten der Sowjetunion, als Russland noch gar nicht an dem Musikwettbewerb teilnahm und er auch noch nicht übertragen wurde, war der Grand Prix in gewisser Hinsicht politisch – insofern, als das bunte Spektakel als Sinnbild der kapitalistischen Konsumgesellschaft galt.

Um den Wettbewerb zu verfolgen, mussten die Zuschauerinnen und Zuschauer ausländische Fernsehprogramme empfangen können. Seit 1956, dem Beginn des Grand Prix Eurovision de la Chanson, wie er damals in Deutschland hieß, wurden bis zum Zusammenbruch der UdSSR nur drei Ausnahmen gemacht: 1965 und 1968 konnten die Sowjetbürger den Grand Prix im Fernsehen mitverfolgen, 1987 zeigte die Sendung Melodii i ritmy sarubeshnoi estrady (dt. etwa: Melodien und Rhythmen aus der ausländischen Schlagerwelt) elf der insgesamt 22 Auftritte. 

Ostblock-Gegenmodell zum Grand Prix

Als Gegenmodell zum westlichen Vorbild der Eurovision wurde 1977 die Intervision (russ. Interwidenije) gegründet und propagiert. Für das osteuropäische Gegenstück zum Grand Prix griff man auf das bereits bestehende Format des Musikwettbewerbs im polnischen Sopot zurück. Die Lebenszeit der Interwidenije war wiederum aus politischen Gründen nur kurz: Die Streiks der polnischen Gewerkschaft Solidarność im Sommer 1980, die anschließende Niederschlagung samt Verhängung des Kriegsrechts setzten dem Wettbewerb in dieser Form ein Ende. Ab 1984 fand der Wettbewerb wieder in seiner früheren Form als Sopot-Musikfestival statt.1

Postsowjetisches Nation Branding

Nach dem Zerfall der UdSSR war der Grand Prix Eurovision de la Chanson für viele mittel- und osteuropäische sowie postsowjetische Länder mit das erste europäische Format, das ihnen offenstand und in das sie sich integrierten. Entsprechend ernst nahmen sie den Wettbewerb. 
Bevor im Jahr 2004 zehn Länder der EU beitraten, gewann Estland 2001 den Grand Prix, gefolgt von Lettland. Im Jahr 2002 bekam der Wettbewerb auch seinen neuen, englischen Namen: Eurovision Song Contest, kurz ESC.

Für Estland kam der Sieg 2001 zu einem entscheidenden Zeitpunkt, nämlich während der EU-Beitrittsverhandlungen. Bei der Rückkehr des Siegerduetts Tanel Padar und Dave Benton nach Estland soll der damalige Premier Mart Laar gesagt haben: „Wir haben das russische Imperium singend zu Fall gebracht. Jetzt klopfen wir nicht an die Tür Europas, sondern treten einfach singend ein.“2

Das russische Nation Branding durch den ESC verlief da wesentlich holpriger. Nach dem Beitritt zur European Broadcasting Union (EBU) nahm die Sängerin Youddiph 1994 zum ersten Mal für Russland am Grand Prix Eurovision de la Chanson teil. In den Folgejahren setzte man auf altbekannte Estrada-Größen – diese Strategie ging jedoch nicht auf: Filipp Kirkorow landete 1995 mit Kolybelnaja dlja Wulkana (dt. Wiegenlied für einen Vulkan) auf Platz 17 von 25. 1997 kam dann Alla Pugatschowa mit dem Lied Primadonna auf Platz 15.

https://www.youtube.com/watch?v=QVJnjdROPOA

Drei Mal war die Teilnahme für Russland überhaupt nicht möglich: 1996 konnte sich Russland in einer Grand Prix-internen Qualifizierungsrunde nicht durchsetzen und nahm entsprechend nicht am Finale teil. Aufgrund der auch sonst schlechten Platzierungen konnte Russland, so wollte es die damalige Regelung, 1998 nicht teilnehmen. Der Wettbewerb wurde deswegen nicht im russischen Fernsehen übertragen, was wiederum gegen Eurovisions-Regeln verstieß. So blieb Russland auch 1999 ausgeschlossen.

Gelungenes Comeback

Russland vollzog schließlich eine 180-Grad-Wende und ließ fortan nur noch junge Stimmen mit Songs von international renommierten Komponisten und Produzenten antreten. Im Jahr 2000 schaffte die Sängerin Alsou, im Vorfeld erfolgreich als „russische Britney Spears“ lanciert, mit ihrem zweiten Platz für Solo ein gelungenes Comeback.

Diese Weichenstellung sorgte auch dafür, dass bei mehr und mehr jungen Menschen Interesse geweckt wurde: Der Wettbewerb avancierte auch in Russland zum generationenübergreifenden Familienprogramm.

https://www.youtube.com/watch?v=nz_JyKIey-8

Russland wollte es jetzt wirklich wissen. 2003 trat das damals auch im Westen bekannte russische Duo t.A.T.u. mit dem Lied Ne wer, ne boisja, ne prosi (dt. Glaube nicht, fürchte dich nicht, bitte nicht) an. Auf den T-Shirts der beiden Sängerinnen war die Nummer 1 zu sehen. Standen Julia Wolkowa und Jelena Katina nebeneinander, bildeten sie ihre Startnummer, die 11. Einzeln genommen drückten die T-Shirts den russischen Siegeswillen aus. Am Ende des Abends landete t.A.T.u. auf Platz drei.

Beachtliche(r) Bilan(z)

2006 war Dima Bilan noch enttäuscht, dass er trotz seiner Favoritenrolle nicht mit dem Sieg belohnt wurde und nur auf Platz zwei landete. Für Bilans zweiten Versuch 2008 wurden keine Kosten und Mühen gescheut. Bei seinem Auftritt mit dem Lied Believe stand ihm der ungarische Geiger Edvin Marton mit einer Stradivari zur Seite, während Jewgeni Pljuschtschenko, Olympiasieger im Eiskunstlauf, auf einer künstlichen Bahn Pirouetten drehte. Der finanzielle Aufwand wurde mit dem ersten Sieg für Russland belohnt.

2009 bei der Austragung des ESC in Moskau wurde in ähnlichem Maßstab geklotzt. Für die Bühne wurde ein Drittel der damals europaweit vorhandenen LED-Bildschirme verbaut. Für 40 Millionen Dollar lieferte Moskau den bis dahin teuersten ESC.3

Ein Sieg, vier Mal zweiter und drei Mal dritter Platz – bei insgesamt 20 Teilnahmen hat Russland inzwischen eine durchaus beachtliche Bilanz vorzuweisen. 

https://www.youtube.com/watch?v=-72s4WzUcKI

Zuschauer beim „schwulen ESC“

Im postsowjetischen Russland war und ist der ESC ein populäres Fernsehformat, das in der Regel von den Sendern Erster Kanal und Rossija 1 übertragen wird. 2016 verzeichnete Rossija 1 für das Finale 5,5 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer, eine Quote von 8,1 Prozent, ein Fünfjahreshoch.4 In der Wahrnehmung des Wettbewerbs in Russland und in Europa sind aber eklatante Unterschiede festzustellen.

Der ESC wird seit Jahrzehnten in vielen westlichen Teilnehmerländern von LGBT-Vereinigungen auch und gerade als ihr Fest betrachtet. Die Extravaganz der Kostüme ist zuweilen so bunt und ausgefallen wie die Paraden am Christopher-Street-Day. In Russland verhält es sich anders. Während des ESC in Moskau 2009 wurden LGBT-Aktivisten drangsaliert,5 die sich während des ESC öffentlich für ihre Belange einsetzten.

Beim Sieg der österreichischen Conchita Wurst 2014 wurde im Fernsehen das bekannte Denk- und Sprachmuster vom „verfaulten Westen“ bemüht.6 Interessanterweise wich die Bewertung der russischen Jury, die Österreich den elften Platz zuwies, deutlich vom Votum des Publikums ab, das Conchita auf Platz drei sah. Letztlich vergab Russland fünf Punkte an Österreich.7 Von offizieller Seite gab es Überlegungen, bei dieser dekadenten Veranstaltung erst gar nicht mehr anzutreten. Schon älter ist der Vorschlag, stattdessen das alte Intervision-Format neu zu beleben.8

Russland und die Ukraine

Nicht angetreten ist Russland jedoch erst 2017. Der Sender Erster Kanal kürte die Sängerin Julia Samoilowa zur Kandidatin. Aufgrund ihrer Auftritte auf der russisch annektierten Krim, durfte sie aber nach ukrainischer Gesetzgebung nicht nach Kiew reisen. Das Angebot, Samoilowa per Satellit zuzuschalten, lehnte Russland kategorisch ab. Die Nominierung Samoilowas wirkte kalkuliert: Die Entscheidung für sie wurde, wie es seit 2013 Praxis ist, intern im verantwortlichen Fernsehkanal gefällt, man verzichtete auf ein Zuschauer-Voting. Die EBU hatte für den politischen Schlagabtausch auf Kosten des ESC Sanktionen sowohl gegen Russland als auch gegen die Ukraine angemahnt. 
2018 schickte Russland, wie im Vorjahr angekündigt, erneut Julia Samoilowa als Kandidatin ins Rennen. In Lissabon konnte sie mit ihrem englisch gesungenen I Won’t Break aber nicht überzeugen und schied im ESC-Halbfinale aus.

Das spätestens seit der Orangenen Revolution 2005 angespannte Verhältnis Russlands zur Ukraine wirkte sich auf den ESC allerdings auch schon früher aus. So machte sich die Ukrainerin Anastasija Prichodko, die 2009 für Russland ihr Lied Mama/Mamo auf Russisch und Ukrainisch sang, beim russischen Publikum mit nationalistisch-ukrainischen Äußerungen unbeliebt.

https://www.youtube.com/watch?v=fqQwapIxP3U

Der ESC-Sieg der Ukraine 2016 wurde in Russland gleich doppelt kritisch aufgenommen. Schon vor dem Wettbewerb hatte Russland gegen Djamalas Lied 1944 bei der EBU protestiert. In dem Lied geht es um die Deportation der Krimtataren von der Krim im Großen Vaterländischen Krieg, der Liedtext kann aber als Anspielung auf die Krimannexion 2014 verstanden werden.9 Es verstoße gegen die Regeln, da es politisch sei. Die EBU lehnte den Einspruch ab, das Lied enthalte keine politische Botschaft. Wenige Tage nach dem Finale wurden Details über das Abstimmungsverhalten bekanntgegeben und in Russland war man wieder verärgert. Das europäische Publikum hatte den russischen Sänger Sergej Lasarew auf Platz eins gewählt. Weil aber die Expertenjurys den Beitrag wesentlich schlechter bewerteten, landete Russland schließlich hinter der Ukraine und Australien auf Platz drei. 

Wie politisch ist also der ESC? Er verbietet in seinen Regeln explizit politische Äußerungen. Allerdings: Ob offensichtlich oder gefühlt bis eingebildet – politische Überlegungen spielen immer eine Rolle. Politisch ist manchmal auch die Reaktion des internationalen Publikums. So wurden die russischen Tolmatschowa-Zwillingsschwestern beim ESC 2014 in Kopenhagen ausgebuht – was nichts mit ihrem Gesang, aber viel mit der öffentlichen Ablehnung der russischen Annexion der Krim wenige Monate zuvor zu tun hatte. 


1.BBC: Kak "sovetskoe Evrovidenie" proigralo cholodnuju vojnu
2.auf Englisch zitiert in: Jordan, Paul (2014):The Modern Fairy Tale: Nation Branding, National Identity and the Eurovision Song Contest in Estonia, Tartu, S. 30
3.newsmsk.com: Pervij kanal: zatraty na "Evrovidenie" sostavili 40 millionov dollarov
4.Komsomol’skaja Pravda: «Evrovidenie-2017» posle uchoda Rossii poterjaet bol’še 12 millionov zritelej
5.Stychin, Carl F. (2014): Queer/Euro Visions, in: Rosello, Mireille / Dasgupta, Sudeep (Hrsg.): What's Queer about Europe? Productive Encounters and Re-enchanting Paradigms, New York, S. 171-188, hier S. 172
6.Interfax: "Edinuju Rossiju" vozmutila pobeda "borodatogo transvestita" na "Evrovidenii"
7.Auch die deutsche Jury setzte Conchita Wurst übrigens auf Platz elf. Weil das deutsche Publikum sie aber auf Platz eins sah, vergab Deutschland insgesamt acht Punkte an Österreich. 
8.Fluter: Propaganda, Politik, Popmusik
9.Im Interview für The Guardian vor dem Auftritt gab die Sängerin zu, dass das Lied natürlich auch über 2014 ist.

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