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Star Wars und die Frauenfrage

Immer wieder kritisieren Opferverbände und Menschenrechtsaktivisten, dass Frauen in Russland nicht genug vor häuslicher Gewalt geschützt werden. Erst 2017 trat ein Gesetz in Kraft, wonach häusliche Gewalt als Ordnungswidrigkeit mit entsprechend geringem Strafmaß geahndet wird. Nur, wenn jemand binnen eines Jahres wiederholt tätlich wird, droht ihm eine Haftstrafe – von bis zu drei Monaten.

Derzeit sorgt eine geplante Gesetzesänderung wieder für Proteste. Der Entwurf sieht einen besseren Opferschutz vor, etwa ein Kontaktverbot für Täter. Aktivistinnen und Menschenrechtlerinnen wie der Rechtsanwältin Olga Gnesdilowa gehen die Änderungen jedoch nicht weit genug. Im Gespräch mit RBC kritisierte sie etwa, dass der Abstand, den ein Täter zum Opfer einhalte müsse, von den vorgesehenen 50 Metern wieder auf Null zurückgenommen worden sei.

In der Debatte gibt es zum einen die konservative Position, die vor allem seitens der Kirche vorgetragen wird, wonach die hierarchische Familienstruktur schützenswert und Privatangelegenheit sei, und zum anderen die liberale, die einen größeren Schutz für die Opfer und härtere Strafen für die Täter verlangt. 

Generell polarisieren Fragen wie Feminismus und Frauenrechte sehr stark, dabei verlaufen die Meinungs-Grenzen quer durch unterschiedliche Lager. „Es ist möglich ein Liberaler zu sein, der die Gleichstellung der Geschlechter leugnet“, kommentiert Wladislaw Inosemzew im Blog auf Echo Moskwy. „Wer sie aber verteidigt, der kann nur Liberaler und Demokrat sein.“ 

Anna Narinskaja geht in der Novaya Gazeta noch einen Schritt weiter und meint, in der Frauenfrage habe sie sich endgültig vom „Paketdenken“ verabschiedet. 

Источник Novaya Gazeta

Noch vor ein paar Jahren schien mir, den meisten denkenden Menschen in Russland sei das sogenannte Paketdenken eigen.

Hinter diesem Begriff steht der Gedanke, dass unsere Werte weltanschaulich miteinander verknüpft sind. Um also zu wissen, welche Gesinnungs- und somit auch Wahl-Präferenzen ein bestimmter Mensch hat, muss man sich keineswegs tiefgehend mit ihm beschäftigen. Man muss über ihn nur irgendetwas, jedoch etwas möglichst Symptomatisches, wissen. Beispielsweise kann man aus dem, wie jemand auf die Frage antwortet, ob sowohl Väter als auch Mütter Elternzeit nehmen können, auch auf vieles andere schließen: was er über das Verbot von Gay-Paraden denkt, was er von radikaler moderner Kunst hält. Und wen er bei den nächsten Wahlen wählen wird.

In Russland waren noch vor rund sieben Jahren diese Pakete enger geschnürt als in den USA, wo dieses Phänomen erstmals benannt wurde. Im Grunde gab es genau zwei: Das archaische Denken und das progressive Denken.

Sag mir, was du von Pawlenskis Performances hältst und ich sage dir, was du über den russischen „Sonderweg“ denkst

Sag mir, was du von Pawlenskis Performances hältst und ich sage dir, was du über den russischen „Sonderweg“ denkst und vom verfaulten beziehungsweise nicht verfaulten Westen. Ja, und wen du wählst, das sage ich dir auch.

Heute muss ich zugeben, dass diese Theorie nicht mehr funktioniert. Und nicht nur, weil die heutige Regierung ganz offensichtlich untauglich ist für die sogenannte Rolle des Bewahrers, sodass die Kette „Ihre Installationen sind keine Kunst; die Redefreiheit kann nur bis zu einem bestimmten Punkt gelten; man muss doch seine sexuelle Orientierung nicht offen vor sich hertragen“ bei weitem nicht immer endet bei „Putin ist unser Steuermann“.  

Die Krise der werteorientierten Regierungspolitik fällt zusammen mit einem Wertewandel auf der ganzen Welt in einer Zeit, in der neue ethische Regeln aufgestellt werden (versuchen Sie nur mal auf die Frage zu antworten, wofür jemand einsteht, der den Putinismus unterstützt – außer dem russischen Anrecht auf die berühmte Halbinsel). Das Ergebnis ist, dass das Bündel progressiver Werte, wie es vor zehn Jahren geschnürt war, dem von heute in keiner Weise mehr gleicht.

Es geht doch nicht, dass die Heldin des neuen Star Wars-Films eine junge Frau ist! 

Die Pakete lösen sich auf, logische Ketten fallen auseinander. Wie viele derer, die die Redefreiheit verfechten, verzweifeln daran, dass die Hauptheldin des neuen Star Wars-Films eine junge Frau ist! Das geht doch nicht, das kann man doch nicht gutheißen! Das schwache Geschlecht kann doch bitte nicht unseren Luke Skywalker ersetzen. Auf gar keinen Fall.
Und wie viele übereifrige Gegner der aggressiven russischen Außenpolitik teilen in den sozialen Medien Tag für Tag Ansichten wie „Nun, wenn sie mit in sein Hotelzimmer gegangen ist, dann heißt das, dass sie verantwortlich ist für das, was dann kam“.

Wichtig ist: Der wesentliche Schnittpunkt zwischen konservativem und progressivem Paket – der Punkt, an dem sich alle treffen, an dem es keinen Unterschied gibt –  ist mittlerweile die Frauenfrage. Bei den unterschiedlichsten damit verbundenen Themen (ob man jungen Müttern verbieten soll, im Schutze eines Museumssaals zu stillen, bis hin zu all den Variationen von „selbst Schuld”) vereinen sich die Vertreter diametral entgegengesetzter Ansichten. (Das Geschlecht hat hierbei keine Bedeutung – bei weitem nicht alle Frauen sind Verfechterinnen der Gleichberechtigung.)

Der Schnittpunkt zwischen konservativem und progressivem Denken ist die Frauenfrage

Ich möchte die beiden für mich offensichtlichsten Gründe dafür anführen.

Erstens: Für die ältere Generation klingt „Gleichberechtigung der Frau“ wie ein Echo sowjetischer Heuchelei, als sich eben jene Gleichberechtigung ausdrückte in der bis zur Erschöpfung getriebenen, die Kräfte übersteigenden Arbeit einer Eisenbahnarbeiterin und Vollzeit-Parteisekretärin mit fester Hochsteckfrisur.

Zweitens: Das Internet und andere Technologien machen uns alle zu Bewohnern der großen weiten Welt. US-amerikanische Themen, von eben jener Heldin aus Star Wars bis zum Ende vieler Karrieren aufgrund von Belästigung, werden gleichsam auch zu unseren Themen.

Und so entsteht die irreführende, aber überzeugende Vorstellung, wir würden in einer Welt leben, in der Metoo gesiegt hat und in der es in den unterschiedlichsten Organisationen Frauenquoten gibt. Und nicht in einem ganz konkreten Land, in dem der Abgeordnete Leonid Sluzki junge Interviewerinnen begrapscht und nicht nur seinen Posten behält, sondern auch noch ausgezeichnet wird. In einem Land, in dem in einer der besten Schulen der Hauptstadt im Unterricht den Jungen Hammer und den Mädchen Lappen in die Hand gedrückt werden mit den Worten „Ihr werdet doch Hausfrauchen“, gleichsam zur Programmierung ihrer Rolle. In einem Land, in dem häusliche Gewalt entkriminalisiert wird.

Genau deswegen ist die Frage, welches Verhältnis wir zur Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Sicherheit für Frauen in Russland haben, eine ausschlaggebende Frage. Ausschlaggebend für das Land und für uns, die wir hier leben.
In vielem ist das eine Frage der Bewusstmachung und des Begreifens der Wirklichkeit, also dessen, was Veränderungen überhaupt erst möglich macht.
Nein, wir leben nicht in der sowjetischen Simulation von Gleichberechtigung und nicht in der US-amerikanischen unbedingt zu erfüllenden Politcorrectness. Wir leben in diesem Hier und in diesem Jetzt.
   

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Frauen und die Revolution

Es waren Frauen, die mit ihrer Demonstration am 8. März die Ereignisse in Gang setzten, die vor 100 Jahren den Zaren stürzen und den radikalen Politikwechsel ermöglichen sollten. Zu der Zeit kämpften Frauen in Russland immer mehr um ihre Rechte – und gestalteten die revolutionären Umbrüche aktiv mit. Carmen Scheide über die historische Frauenbewegung, ihre Vorstellungen von einer sozialistischen Zukunft und den Verlust revolutionärer Utopien.

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Frauenstraflager

„Plötzlich durchbohrt eine Nadel mit aller Wucht deinen Nagel und dringt in den Finger ein. Fünf Sekunden lang begreift das Bewusstsein nicht, was geschehen ist. [...] Erst nach fünf Sekunden überrollt dich eine Welle aus Schmerz: Wow, schau nur, dein Finger ist auf die Nadel gefädelt. Deswegen kannst du die Hand nicht rausziehen. Ganz einfach. Vielleicht kannst du einfach fünf Minuten mit dem Finger so dasitzen, aber mehr nicht. Du musst weiternähen. Bist du etwa die erste, die sich den Finger durchsteppt? Ein Pflaster willst du? Woher denn? Du bist hier im Lager, Kleines.“1

So erinnerte sich die Kunstaktivistin Nadeshda Tolokonnikowa aus der Punk-Band Pussy Riot an die Arbeit im Straflager. Die Verurteilung von drei Mitgliedern der Band zu zwei Jahren Haft, weil sie in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale ein Punk-Gebet aufgeführt hatten, löste weltweit Empörung und Mitgefühl aus. Das hatte nicht nur mit dem politischen Hintergrund zu tun, vor dem das Urteil fiel, sondern auch mit den Bedingungen der Lagerhaft an sich. Die Berichte der „prominenten Häftlinge“ machten vielen Menschen schlagartig bewusst, dass der Strafvollzug für Frauen im heutigen Russland nicht mit einem Gefängnisaufenthalt im üblichen Sinne zu vergleichen ist, sondern die Verbringung in entlegene Lagerkomplexe, fernab von Familie und Freunden, bedeutet. Harte Arbeit, Entbehrungen und Widrigkeiten prägen den Lageralltag.

Leben in erzwungener Gemeinschaft, vor aller Augen / Foto aus der Reihe „Otdelenije“ von Elena Anosova

Die spezifische (vormoderne) Einheit von Exil und Haftstrafe hat in Russland eine lange Tradition. Sie reicht bis ins frühe 17. Jahrhundert zurück, hat mehrere Systemwechsel überdauert und kulturell tiefe Wurzeln geschlagen.

Trotz gewisser Reformen und Erleichterungen des Strafvollzugs, die nach dem Ende der Sowjetunion in Angriff genommen wurden, blieben manche Merkmale des Gulags erhalten, eines umfassenden Straflagersystems, das in der Stalinzeit entstand. Dieses Erbe prägt den Strafvollzug bis heute. Dazu gehört vor allem die spezielle Lagergeographie, vorzugsweise an der Peripherie, und die damit verbundene Loslösung der Straftäter aus der ihnen vertrauten Umgebung, ihre vollständige Abschottung von der Gesellschaft. 

Exil plus Haft

Frauen sind von der doppelten Belastung durch Exil plus Haft viel häufiger betroffen als männliche Straftäter. Denn nur ein geringer Teil der rund 750 russischen Straflager sind Frauenlager, und gerade diese befinden sich durchweg an der Peripherie (zum Beispiel in Mordwinien, der Komi-Republik oder in Sibirien). Daher müssen deutlich mehr Frauen als Männer die Haft weit entfernt von ihren Heimatorten verbringen.

Nach langen strapaziösen Fahrten in speziellen Eisenbahnwaggons am entlegenen Bestimmungsort angelangt, dürfen sie pro Jahr sechs kurze (vier Stunden) und vier lange (drei Tage) Verwandtenbesuche im Jahr erhalten. Viele Angehörige können sich die zeitaufwändigen und kostenträchtigen Reisen jedoch nicht leisten. Weibliche Häftlinge kommen seltener in den Genuss, weil insbesondere Ehemänner weniger geneigt sind, die Haftzeit durch Besuche zu mildern und gemeinsam auf die Freilassung zu warten. Viele lassen sich schnell scheiden, ohne die bestehenden Kontaktmöglichkeiten (Anrufe, Briefe, Pakete) ausgeschöpft zu haben.2 In der Folge müssen Frauen viel häufiger als Männer nicht nur mit dem Verlust der Freiheit zurechtkommen, sondern auch mit dem Schmerz darüber, im Stich gelassen worden zu sein. 

Verrat an der Weiblichkeit

Frauen bilden nur eine kleine Minderheit aller Straftäter. Insgesamt beträgt der Anteil weiblicher Häftlinge heute weniger als ein Zehntel der gesamten Häftlingsgesellschaft. Gleichwohl steigt die Zahl der von Frauen verübten Straftaten seit Ende der Sowjetunion kontinuierlich an. Auch das Spektrum hat sich erweitert: zu klassischen Delikten wie Diebstahl kommen inzwischen illegale Bankgeschäfte, Betrugs- und Kreditvergehen, Hooliganismus sowie Drogenkriminalität hinzu.3 

Erkennbar ist ebenfalls ein zunehmendes Vordringen von Frauen in den Bereich der Gewaltverbrechen, von Einbrüchen und Raubüberfällen bis hin zu Tötungsdelikten. Damit gleicht sich das Profil straffällig gewordener Frauen in Russland dem der westlichen Industriegesellschaften an, ist also mitnichten außergewöhnlich. Doch unterliegen straffällig gewordene Frauen innerhalb der russischen Gesellschaft einer wohl noch stärkeren Stigmatisierung als männliche Straftäter, werden ihnen doch außer der Gesetzesverletzung zusätzlich der Verrat an ihrer Weiblichkeit und der bewusste Bruch mit der kulturell determinierten Geschlechterolle vorgeworfen.

Das Leben vor aller Augen

Neben den Transporten in weit entfernte Lagerkomplexe werden viele Frauen durch den dort praktizierten Kollektivismus traumatisiert: Es beginnt mit der einheitlichen Anstaltskleidung (dunkle Röcke und weite Jacken, weiße Kopftücher), die die individuellen Frauen zu einer ununterscheidbaren Masse vereinheitlichen. Das Leben in erzwungener Gemeinschaft, vor aller Augen, bedeutet, die Nachtruhe in überfüllten Schlafbaracken, in eng nebeneinander stehenden Doppelstockbetten zu verbringen. Die dort angebrachten Namensschilder enthalten Angaben über den Strafrechtsparagraphen, das Ankunfts- und Entlassungsdatum. Die Gemeinschafts­waschräume und Toiletten haben keine Türen, gewähren also keine Intimität. 

Es gibt in den Frauenstraflagern nur öffentliche Räume und somit keinerlei Privatsphäre. Man könnte von einer Art sozialer Gefangenschaft sprechen, die durch Schikanen des Aufsichtspersonals und durch das Spitzelwesen unter den Häftlingen noch verschärft wird.4 Begründet wird diese Art des Strafvollzugs mit dem Ziel der Resozialisierung, also der Einübung von gesellschaftlich akzeptiertem Sozialverhalten. 

Während in Deutschland beim Resozialisierungsgedanken auch die psychologische Betreuung der Häftlinge, Fortbildungs- und Freizeitangebote sowie Bewährungshilfen nach der Entlassung eine Rolle spielen, geht es im russischen Fall vor allem darum, gesellschaftlich konformes Verhalten mit konkreten Erwartungshaltungen an eine Frau, an deren Weiblichkeit und Häuslichkeit, zu fördern. So werden regelmäßig Schönheits- beziehungsweise Hausfrauenwettbewerbe veranstaltet. Auch das Raumdekor im Straflager – Rüschengardinen und Topfblumen – soll die Bewohnerinnen tagtäglich an ihre zukünftigen Aufgaben in einer patriarchalen Gesellschaft erinnern. Der Aufenthalt im Lager soll also vor allem die Refeminisierung der weiblichen Häftlinge bewirken.

Straf-Einzelzelle als Luxus

Für manche Frauen ist der Mangel an Privatsphäre neben der räumlichen Isolation die schlimmste Hafterfahrung. Dagegen helfen Strategien des inneren Rückzugs (Lesen, Fernsehen, mentale Abschottung während der Arbeitszeit) oder die bewusste Suche nach Orten und Zeiten des Alleinseins. Um wenigstens einige Tage für sich sein zu können, trauen sich manche Frauen, gezielt Regeln zu überschreiten. So kommen sie für eine gewisse Zeit in eine Straf-Einzelzelle. Für diesen Luxus werden sogar verschärfte Haftbedingungen in Kauf genommen. 

 

Neben den Transporten in weit entfernte Lagerkomplexe werden viele Frauen durch den dort praktizierten Kollektivismus traumatisiert. / Foto © Sergey Savostyanov/ITAR-TASS/imago images

Beziehungen zu anderen Mithäftlingen können unter Umständen mehr Wohlbefinden, eventuell sogar Nähe herstellen. Obwohl Straflager nicht gerade als vertrauensfördernde Institutionen gelten, entstehen auch dort nicht nur zweckmäßige, sondern auch emotionale Beziehungen unter Frauen. Das Spektrum reicht von Freundschaften und Netzwerken über sogenannte „Spiel- beziehungsweise Ersatzfamilien“ bis hin zu verdeckt geführten gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehungen (die verboten sind und geahndet werden).5 

Gearbeitet (das umfasst zumeist Näharbeiten für Armee- oder Polizeizwecke, die Herstellung von Arbeitskleidung sowie das Bemalen von Matrjoschkas und gegessen wird ebenfalls im Kollektiv, abteilungsweise. Laut gesetzlicher Vorschrift soll der Arbeitstag nicht länger als acht Stunden dauern. Doch Tolokonnikowa berichtete 2013 aus ihrem Lager in Mordwinien, dass dort täglich 16 bis 17 Stunden gearbeitet werden müsse, um die Produktionsnorm zu erfüllen. Praktisch handele es sich um Zwangsarbeit, für den sie einen Monatslohn von 29 Rubeln (damals weniger als ein Euro) erhalten habe. Täglich produzierte ihre Brigade 150 Polizeiuniformen, die Norm war von einem Tag auf den anderen um 50 Stück erhöht worden (wiederum nicht den Vorschriften entsprechend). Wurden die Vorgaben nicht erfüllt, drohten der gesamten Brigade empfindliche Strafen.6

Ungewissheit und Zumutungen der Freiheit

Wenn die Haftzeit überstanden ist, folgt für viele Frauen die wohl schwierigste Phase: der Übergang vom Lageralltag mit seinen festen Regeln und seiner Subkultur in die Freiheit, die mit Ungewissheit und Zumutungen verbunden ist. Es droht der tiefe Fall in das sogenannte Entlassungsloch. Staatliche Hilfen gibt es nicht. Wenn, dann bleibt nur die Unterstützung von Familie und Freunden. Die wenigen bestehenden bürgerrechtlichen Organisationen etwa die Bewegung Rus sidjaschtschaja (Einsitzende Rus) oder die von Nadeshda Tolokonnikowa und Maria Aljochina gegründete Organisation Sona prawa (dt. Die Zone des Rechts) kümmern sich unter anderem um Hilfe für entlassene Frauen. Da aber die gesellschaftliche Ablehnung spürbar ist,7 fallen die eben Entlassenen schnell wieder in alte Gewohnheiten zurück und landen bald erneut im Lager.


Zum Weiterlesen:
Pallot, Judith/Piacentini,Laura (2012): Gender, Geography, and Punishment: The Experience of Women in Carceral Russia, Oxford
Pallot, Judith (2015): The Gulag as the Crucible of Russia's 21st-Century System of Punishment, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 16 (3), S. 681-710
Pallot, Judith/Katz, Elena (2017): Waiting at the Prison Gate: Women, Identity, and the Russian Penal System, London, New York

1. Tolokonnikowa, Nadja (2016): Anleitung für eine Revolution, München
2. Pallot, Judith (2008): Continuities in Penal Russia: Space and Gender in Post-Soviet Geography of Punishment, in: Lahusen, Thomas/Solomon, Peter H. Jr. (Hrsg.): What is Soviet Now? Identities, Legacies, Memories, Berlin, S. 253; dies. (2015): The Topography of the Spatial Continuity of Penality and the Legacy of the Gulag in Twentieth and Twenty-First Century Russia, in: Laboratorium 7 (1), S. 100
3. Katz, Elena/Pallot, Judith (2010): From Femme Normale to Femme Criminelle in Russia: Against the Past or Towards the Future, in: New Zealand Slavonic Journal 44, S. 123-125
4. Moran, Dominique/Pallot, Judith/Piacentini, Laura (2009): Lipstick, lace, and longing: constructions of femininity inside a Russian prison, in: Environment and Planning D: Society and Space 27, S. 714; dies. (2013): Privacy in penal space: Women’s imprisonment in Russia. In: Geoforum 47, S. 141-142; Al’pern, Ljudmila (2004): Son i jav’ ženskoj tjur'my, St. Petersburg, S. 25; Zekovnet.ru: Ženščina v tjur'me
5. Omelchenko, Elena (2016): Gender, Sexuality, and Intimacy in a Women’s Penal Colony in Russia, in: Russian Sociological Review 15 (4), S. 86-89 
6. Siehe den Brief von Nadeshda Tolokonnikowa aus dem Lager: Lenta.ru: „Vy teper' vsegda budete nakazany“ 
7. Siehe auch den Beitrag über straffällig gewordene Mütter, denen nach der Entlassung soziale Ablehnung und Hilfeverweigerung entgegenschlägt, was ihre gesellschaftliche Wiedereingliederung sehr schwierig, wenn nicht unmöglich macht: „Und für die Gesellschaft sind sie keine Menschen mehr. Nein, nicht Menschen zweiter Klasse, sondern schlicht keine Menschen“: dekoder.org: „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder“
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Gulag

Der Begriff Gulag steht im weitesten Sinne für das sowjetische Lagersystem und damit für den Terror und den Repressionsapparat, den die kommunistische Partei der Sowjetunion zum Erhalt ihrer Macht aufbaute. GULag ist die Abkürzung für Hauptverwaltung der Erziehungs- und Arbeitslager. Diese Verwaltungsstruktur existierte von 1922 bis 1956 und unterstand dem sowjetischen Sicherheitsdienst.

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Ermittlungskomitee

Das Ermittlungskomitee (Sledstwenny komitet/SK) ist eine russische Strafverfolgungsbehörde. Sie gilt als politisch überaus einflussreich und wird häufig mit dem US-amerikanischen FBI verglichen.

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Alexej Nawalny

Alexej Nawalny ist in Haft gestorben. Er wurde in mehreren politisch-motivierten Prozessen zu langjähriger Strafe verurteilt. Aus der Strafkolonie hat er mehrmals über unmenschliche Haftbedingungen berichtet.  

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Archipel Gulag

Archipel Gulag ist das Hauptwerk des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn. Darin wird das menschenverachtende sowjetische Straflagersystem eindrucksvoll beschrieben, weshalb das Werk in der Sowjetunion verboten war und zunächst nur im Ausland erschien. Heute gilt es vor allem als wichtiges Zeitdokument.

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