Zwischen dem 27. Oktober und dem 4. November 1937 wurden in einem verborgenen Waldgebiet in Karelien 1111 Menschen aus dem Solowezki-Gefängnis erschossen. Die Erschießung unterlag strengster Geheimhaltung. Bis zur Perestroika kursierten Gerüchte, der Lastkahn mit den Gefangenen sei im Weißen Meer versenkt worden. Für die Angehörigen verschwanden sie spurlos. Nicht einmal über die Tatsache ihres Todes herrschte Gewissheit. Auch wenn die Wahrheit über die Todesursachen seit Ende der 1980er Jahre kleckerweise an die Öffentlichkeit gelangte, blieb der Erschießungsort bis in die späten 1990er Jahre unbekannt.
Erst 1997 wurde auf einer Expedition, bei der der Lokalhistoriker Juri Dmitrijew eine entscheidende Rolle spielte, in einem karelischen Nadelwald eine Vielzahl von Massengräbern gefunden. In diesen waren außer den Solowezki-Gefangenen auch mehrere tausend weitere Hingerichtete verscharrt.1 Der namenlose Ort im Wald bekam damals auch einen Namen: Sandarmoch.
Die Erschießungsorte und Friedhöfe des NKWD unterlagen der strikten Geheimhaltung. Bis heute sind noch nicht alle Spezobjekty (dt. „Spezialobjekte“) – wie es in der NKWD-Sprache heißt – entdeckt. Erst die Öffnung der KGB-Archive ermöglichte es zivilgesellschaftlichen Akteuren, und vor allem der Menschenrechtsorganisation Memorial, einige zu finden: Butowo und Kommunarka bei Moskau sowie Lewaschowo bei Sankt Petersburg. Die Suche nach Sandarmoch aber dauerte länger und war viel aufwändiger.
Tatort Sandarmoch
Sie begann mit der Recherche nach einem zunächst unbekannten Ort, an dem die Häftlinge aus dem Solowezki-Gefängnis begraben worden waren. Laut KGB-Dokumenten sind sie 1937 auf Anweisung der Leningrader Troika irgendwo in den karelischen Wäldern hingerichtet worden.
Hinweise zum Tatort hat in den NKWD-Akten ein Täter hinterlassen, der später selbst zum Opfer wurde: Michail Matwejew, Leningrader Hauptmann der regionalen NKWD-Abteilung, führte die Erschießungen mit seinen Assistenten durch. Eineinhalb Jahre später wurde er festgenommen und wegen Amtsmissbrauchs zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Ihm wurden sadistische Prügel vorgeworfen, die den Hinrichtungen vorausgegangen waren.2
In einem Verhörprotokoll hatte er den Transport der Häftlinge in das Lagergefängnis am Weißmeer-Ostsee-Kanal in Medweshjegorsk vermerkt. Näher als „16 Kilometer von Medweshjegorsk“ dürfe der Exekutionsort nicht liegen, sonst könne jemand die Schüsse hören oder das Licht des Feuers sehen, so Matwejew.
60 Jahre später, in den 1990er Jahren, führte der Memorial-Mitarbeiter Juri Dmitrijew, dem die Entdeckung einiger Friedhöfe und Hinrichtungsorte zu verdanken ist, eine Expedition in einen der Kiefernwälder zwischen Medweshjegorsk und Powenez. Am 1. Juli 1997 stieß er mit seinen Mitstreitern von Memorial Sankt Petersburg auf 150 Erdmulden mit menschlichen Überresten.3 Alle Opfer in den vier mal vier Meter großen Mulden hatten identische Einschusslöcher im Nackenbereich des Schädels. Außer den Häftlingen aus Solowki sind in Sandarmoch insgesamt mehr als 7000 Menschen erschossen und verscharrt worden.
Opfer von Sandarmoch
Unter den 1111 Solowezki-Gefangenen befand sich die geistliche, kulturelle, wissenschaftliche und diplomatische Elite der Sowjetunion. Ihre Namen sind bekannt: Viele von ihnen waren adeliger Herkunft – unter ihnen der renommierte Anwalt Alexander Bobrischew-Puschkin, der herausragende Linguist Nikolaj Durnowo, der Historiker Matwej Jaworski, der Theaterregisseur Les Kurbas, die Erzbischöfe von Samara, Tambow, Kursk und Woronesh. Seit 1933/34 wurde ihnen wegen sogenannter „terroristischer Tätigkeit“, „Spionage“ oder im Zusammenhang mit der „Kirow-Affäre“ der Prozess gemacht. Nach dem Transport in die sogenannte Untersuchungshaft des BelBaltLags nahe Medweshjegorsk wurden sie mit LKW an die Vernichtungsstätte Sandarmoch gebracht.
Noch nicht alle Opfer des Großen Terrors in Karelien können benannt werden.4 Die Mehrheit von ihnen steht in direkter Verbindung mit dem BelBaltLag – dem ersten Zwangsarbeiterlager der Sowjetunion mit Zentrum in Medweshjegorsk: Beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals versuchte sich die sowjetische Geheimpolizei als Wirtschaftsunternehmen, indem sie zur Durchführung dieses gewaltigen Infrastrukturprojektes Häftlinge zur Zwangsarbeit heranzog. Der 227 Kilometer lange Kanal ließ sich dadurch innerhalb kürzester Zeit und ohne Belastung für den Staatshaushalt errichten. Hier, in einem exemplarischen Bauprojekt der Industrialisierung, das zwischen 1931 und 1933 entstand, sollten „Klassenfeinde“ zu „neuen Menschen“ „umgeschmiedet“ werden.
Nach der Fertigstellung des Weißmeer-Ostsee-Kanals blieben viele aus der Haft entlassenen Kanalbauarbeiter als freiwillige Arbeitskräfte weiter hier wohnen und wurden von der OGPU-NKWD im BelBaltKombinat beschäftigt. Dieses 1934 entstandene Industrieunternehmen hatte das Ziel, sowohl „großtechnologische Kraftstationen zu entwickeln, als auch sozialistische Städte aufzubauen“5. Die fehlenden Arbeitsressourcen wollte man mit der Zwangsumsiedlung von Bauern aus der ganzen Sowjetunion ausgleichen. So waren es – außer ehemaligen Kanalbauarbeitern – enteignete und umgesiedelte Bauern und „rote Finnen“, die das Gebiet des BelBaltLags am Vorabend des Großen Terrors besiedelten. Letztere, der Spionage angeklagt, und die als Kulaken verfemten Bauern sollten „auf unbarmherzige Art und Weise zerschlagen werden“.6
Obwohl die meisten Erschießungen in Sandarmoch zwischen August 1937 und November 1938 stattfanden, war es bereits seit 1934 eine Hinrichtungsstätte der OGPU-NKWD: Hier fanden Exekutionen von Häftlingen des BelBaltLags statt.7
Geschichte der Erschießung
Die Säuberung von „antisowjetischen Elementen“ begann mit dem geheimen operativen Befehl Nr. 00447 vom 30. Juli 1937, der das „Fließband des Todes“ in Gang setzte und als Auftakt des Großen Terrors gilt. In diesem Befehl wurde die Zahl der Menschen für jede Region festgelegt, die den Repressionen „unterlagen“: insgesamt eine viertelmillion Menschen, darunter 1000 Menschen in Karelien. Die Zahl der tatsächlich Repressierten ist deutlich höher: Allein in Karelien verurteilte die Troika des NKWD 4000 Angehörige „verdächtiger“ Nationalität und 7000 „Konterrevolutionäre“ zum Tode.
Für die Angehörigen verschwanden die festgenommenen Menschen spurlos. Der Satz „zehn Jahre Freiheitsentzug ohne Recht auf Briefwechsel“ war eine Vorahnung des Schrecklichen und eine Hoffnung zugleich. Über das Leben und den Tod sollte Schweigen herrschen. Erst in den späten 1950er Jahren, im Tauwetter und mit der Rehabilitierungskampagne unter Nikita Chruschtschow, wurde auf Anfrage der Angehörigen der Tod bestätigt. Die Wahrheit über die Todesursache, Datum und Ort der Beisetzung durfte erst dreißig Jahre später veröffentlicht werden.
Friedhof Sandarmoch
Die Gewissheit um den Tod der Angehörigen entwickelte sich zur Forderung nach einem Ort der privaten Trauerarbeit. Zivilgesellschaftliche Initiativen machten den Wunsch tausender Familien öffentlich: Die Topografie des Terrors sollte zur Topografie der Friedhöfe werden. Die Entdeckung von Sandarmoch sorgte für Aufruhr in der Region. Viele hofften, damit endlich einen Ort zu finden, um eine Grabstätte einzurichten. Insgesamt wurden auf einer Fläche von etwa siebeneinhalb Hektar 236 Massengräber entdeckt.8 Juri Dmitrijew wünschte sich damals, dass dem Friedhof Sandarmoch im heutigen Russland die gleiche symbolische Bedeutung zukommen sollte wie der Gedenkstätte Buchenwald in Deutschland.9
Weniger als ein halbes Jahr haben die Aktivisten für die Ausgestaltung der Gedenkstätte gebraucht. Ihre Arbeit wurde aus dem Haushalt der Republik Karelien finanziert. Die heutige Gedenkstätte Sandarmoch besteht immer noch aus den Elementen, die im Oktober 1997 entstanden: 236 Holzpfähle, die die Gräber markieren, eine Kapelle und der Solowezki-Gedenkstein – in Erinnerung an die Hingerichteten aus Solowki10. Ein Jahr später entstand das Mahnmal Erschießung mit Engel. Dieses ist für den Kontext der gegenwärtigen Erinnerungskultur in Russland aufschlussreich: Ein Engel, der mit gebundenen Händen in ein Grab fällt, ist ein Symbol des passiven, unschuldigen Opfers par exellence. Die Inschrift auf dem Stein lautet: „Menschen, tötet einander nicht“. Nach den Tätern wird nicht gefragt: Das Böse wird verallgemeinert. Mit wenigen Ausnahmen bleiben die Strukturen und Mechanismen des stalinschen Terrors in der Erinnerungskultur generell abstrakt, anonym und verschleiert.
Ort der lebendigen Erinnerung
Für einen westlichen Betrachter ist Sandarmoch kein Ort der negativen Identitätsstiftung durch „Pflicht zum Gedenken“. Sandarmoch ist vor allem ein Friedhof, auf den Angehörige der Hingerichteten kommen, um zu trauern. Dabei wissen die meisten nicht einmal genau, ob ihre Verwandten tatsächlich hier verscharrt wurden.11 Das „imaginierte Grab“ ist mindestens genauso wichtig wie das genaue Wissen. Die „Kinder von 1937“, wie die Kinder von verschwundenen oder verurteilten Menschen genannt werden, personalisieren Baumstämme, Pfähle und Erdstücke als persönliche Grabstätten. An den hölzernen Kreuzen oder an den Bäumen werden Fotografien, Plastikblumen, Schilder mit Namen und Lebensdaten befestigt. Zuweilen hat man den Eindruck, man sei auf einem Friedhof, auf dem noch Beisetzungen stattfinden. Sandarmoch ist ein Ort der lebendigen Erinnerung und Trauer.
Unter den vielen anderen Gedenkstätten zeichnet sich Sandarmoch durch die hohe Internationalität der Opfer heraus. Am symbolischen Feld des Gedenkens befinden sich Denkmale für Finnen, Polen, Litauer, Esten, Ukrainer, Tataren und andere. Hier findet auch die jährliche Gedenkzeremonie statt, der Internationale Tag des Gedenkens: Am 5. August wird Sandarmoch zum Ort einer transnationalen Erinnerung an die Opfer des Stalinismus.
Seit mehr als 20 Jahren ist das Bestehen der Gedenkstätte vom good will der örtlichen Verwaltung abhängig. Außer dem Mahnmal Erschießung mit Engel unterliegen weder andere Gestaltungselemente noch die Gedenkstätte selbst dem staatlichen Denkmalschutz. Für die Regierung Kareliens ist Sandarmoch – bislang – von großer Bedeutung: Die breite internationale Präsenz beim jährlichen Tag des Gedenkens am 5. August und die anhaltende mediale Aufmerksamkeit für diesen Ort erfordern von Seiten der lokalen Verwaltung administrative und finanzielle Investitionen. Doch weder der russische Präsident noch andere hochrangige Politiker Russlands oder anderer Länder haben Sandarmoch jemals offiziell besucht.
Die „zweite Wahrheit“ von Sandarmoch
Die zweite Wahrheit des Konzentrationslagers Sandarmoch: Die Finnen haben Tausende unserer Soldaten zu Tode gequält. Mit diesem Titel wurde im August 2016 eine Sendung des TV Swesda ausgestrahlt. Seitdem ist die These im Raum, es handele sich nicht oder nicht nur um stalinsche Repressionen, sondern um Taten der finnischen Besatzungsmacht während des Zweiten Weltkrieges. Zum ersten Mal wurde dies vom Petrosawodsker Historiker Juri Kilin als Annahme formuliert, sie wird seitdem immer wieder aufgegriffen.
Die Annahme beruht auf folgender Logik: Während der Okkupation des sowjetischen Karelien durch Finnland waren insgesamt circa 64.000 Rotarmisten in finnischer Gefangenschaft. Mehr als 20.000 Menschen sind dabei am Elend der Haft gestorben oder wurden exekutiert. Die Finnen haben nachweislich die Lagerinfrastruktur des Gulag genutzt. Über die Massengräber ist wenig bekannt. Vielleicht haben sie auch Sandarmoch – den Erschießungsort vom NKWD – benutzt?
Die Hypothese von Juri Kilin lässt sich weder bestätigen noch widerlegen. Medialen Platz hat sie aber bereits gefunden: „Nach ungefähren Angaben ruhen in Sandarmoch circa 22.000 Soldaten der Roten Armee“, so die Sendung auf TV Swesda.
Die Relativierung dieses „schwarzen Herzens des Gulag“ ging der Verhaftung des Entdeckers von Sandarmoch voraus: Juri Dmitrijew wurde die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie vorgeworfen. Dem Freispruch vom April 2018 folgte bald eine neue aber nicht weniger fragwürdige Ermittlung, diesmal wegen angeblichen Missbrauchs seiner Ziehtochter. Ob das zeitliche Zusammenfallen der Berichterstattung über „die zweite Wahrheit von Sandarmoch“ und die Verhaftung seines Entdeckers zusammenhängen, ist unklar. Beide tragen aber dazu bei, die Täterschaft zu verschleiern und den Stalinschen Terror zu relativieren.
1.Die Zahlen der Opfer ist in der Forschung umstritten: Während Dmitriev von circa 9000 Exekutierten spricht, nennt Ivan Čuchin die Zahl 6067, vgl.: Čuchin, Ivan/Dmitriev, Jurij (2002): Pominal’nye spiski Karelii: 1937-1938: Uničtožennaja Karelija: Čast’2: Bol’šoj Terror, Petrozavodsk. Die Inschrift auf dem Gedenkstein in Sandarmoch weist auf 7000 Exekutierte hin. ↑
3.zum Verlauf der Suchaktion siehe: polit.ru: Bol’šoj terror v Sandormoche, später wurden weitere Gräber gefunden, sodass sich die Gesamtzahl auf 236 beläuft. ↑
4.6067 Namen hat Jurij Dmitriev identifiziert: Dmitriev, Jurij (1999): Mesto rasstrela Sandarmoch, Petrozavodsk ↑
5.Baron, Nick (2002): Production and Terror: The operation of the Karelian Gulag, 1933 – 1939, in: Cahiers du monde russe, 43/1, S. 139-181 und S. 141 ↑
6.sh. Čuchin, Ivan (1999): Karelija-37: Ideologija i praktika terrore, Petrozavodsk, S. 17 ↑
7.sh. Eintrag „Sandormoch” im Verzeichnis des virtuellen Gulag-Museums ↑
9.Interview mit der Verfasserin, April 2008 ↑
10.Der Solovecki Stein – ein rauer, unbehauener Stein vom Solovecki-Archipel – ist die klassische Denkmalform für Opfer des Stalinismus in Russland ↑
11.In Karelien wurden ca. 15 Orte von Massenexekutionen entdeckt, davon sind lediglich Sandarmoch und Krasny Bor als Gedenkstätten ausgestaltet ↑