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Imperiale Spuren im „nahen Ausland“

Wenn russische Diplomaten vom „nahen Ausland“ sprechen, schwingen viele Bedeutungen mit. Gemeint sind die Staaten, die aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgegangen sind: Sie sind zwar formal unabhängig, doch erhebt Moskau weiter den Anspruch auf Mitsprache. In seiner aktuellen Ausstellung New Fatigue legt der Fotograf Eiko Grimberg offen, wo dieser imperiale Anspruch auch an der Oberfläche sichtbar wird: an Gebäuden und in Städten des ehemaligen Ostblocks, aber auch in öffentlichen Ritualen und Demonstrationen.  

Zu Diptychen kombiniert, entfalten Grimbergs Bilder eine zusätzliche Bedeutungs-Dimension. Die Ausstellung mit Fotografien aus drei Jahrzehnten ist noch bis zum 10. Mai in der Galerie K' in Bremen zu sehen:  

Galerie K' 

Alexanderstraße 9 b / Weberstraße 51 a 
28203 Bremen 

Weberstraße: Eiko Grimberg  
New Fatigue 

Alexanderstraße: Arne Schmitt
viel oder wenig Bild oder Text 

Odessa 1993 / Fotos © Eiko Grimberg

Simferopol / Kyjiw 1994 / Fotos © Eiko Grimberg

Sankt Petersburg 1994 / Fotos © Eiko Grimberg Sankt Petersburg 1994 / Fotos © Eiko Grimberg Moskau 2016 / Fotos © Eiko Grimberg Prag 2024 / Fotos © Eiko Grimberg Warschau 2024 / Fotos © Eiko Grimberg Moskau 2016/2017 / Fotos © Eiko Grimberg Berlin 2022 / Fotos © Eiko Grimberg Berlin und Prag 2022 / Fotos © Eiko Grimberg Zu Wasser, zu Lande und in der Luft / Fotos © Eiko Grimberg Berlin 2022 / Fotos © Eiko Grimberg Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park Berlin 9. Mai 2022.  Berlin 24.8.2022 / Fotos © Eiko Grimberg Prag 2024. Berlin 2023 / Fotos © Eiko Grimberg

Berlin 2016. Berlin 2024 / Fotos © Eiko Grimberg

 

dekoder: Ihre aktuelle Ausstellung trägt den Titel New Fatigue. Was steckt dahinter? 

Eiko Grimberg: New Fatigue spielt auf eine Erschöpfung an, die gerade viele empfinden, und die aus der Flut schlechter Nachrichten resultiert: erst Corona, dann der russische Krieg gegen die Ukraine, der 7. Oktober und der Krieg in Gaza und ganz aktuell US-Zölle und Kurseinbrüche. Die Dichte an Nachrichten ist so hoch, dass man ihr manchmal kaum noch folgen, geschweige denn sie verstehen und verarbeiten kann. Das führt bei vielen Menschen zu einer Ermüdung, man spricht dann von „news fatigue“. In der Ausstellung gibt es ein Video mit dem Titel Journal, das diese Überforderung spürbar macht: eine schnelle Abfolge von Bildern und Videos, die kaum zu verarbeiten ist. Gleichzeitig entsteht daraus aber auch ein Sog, der den Betrachter hineinzieht. 

Sie waren bereits in den 1990er Jahren mit Ihrer Kamera in der Ukraine und auch in Russland unterwegs. Jetzt kontrastieren Sie die Bilder von damals mit aktuellen Fotos. Was ist Ihnen dabei aufgefallen? 

Mir ging es dabei um die Perspektive von heute auf das Damals. Ich habe mir meine alten Bilder angesehen und mich gefragt, ob man darin vielleicht Hinweise auf die Entwicklungen finden kann, von denen heute einige sagen, man konnte das nicht kommen sehen. Manchmal sieht die Kamera ja Dinge, die wir selbst nicht bemerken und die uns erst später auffallen. Gleichzeitig habe ich dadurch aber auch etwas über mich selbst gelernt und darüber, mit welchem Blick ich nach dem Untergang der Sowjetunion in diese Region gefahren bin. 

Und was war das für ein Blick? 

Ich würde ihn heute als tendenziell nostalgisch beschreiben. Als junge Männer Anfang 20 aus Westdeutschland haben meine Reisegefährten und ich nach den sichtbaren Manifestationen alles Sowjetischen gesucht. Ich habe die Treppe in Odessa fotografiert, die durch den Sergej-Eisenstein-Film Panzerkreuzer Potemkin weltberühmt wurde, rote Sterne und Stalinbauten. Mit der Perspektive von heute erkenne ich in diesen Monumentalbauten aber noch etwas anderes, nämlich eine imperiale Markierung, die Moskau an Orten hinterlassen hat, die das Regime heute als „nahes Ausland“ bezeichnet und es damit weiterhin als eigene Einflusszone beansprucht.  

Moskau hat mit diesen Bauten seinen Einflussbereich also gewissermaßen visuell markiert? 

Genau. Ich war im vergangenen Jahr zwei Mal in Warschau. Dort steht ja mitten in der Stadt der Kulturpalast, ein Geschenk der Sowjetunion im Stil des Sozialistischen Klassizismus, auch Zuckerbäckerstil genannt. Und mir ist klar geworden, warum die Polen nach dem Krieg den Wiederaufbau der von der Wehrmacht zerstörten Altstadt so vorangetrieben haben. Die wollten offensichtlich den Sowjets nicht so viel Raum geben. Die hatten sich schon den zentralen Platz direkt am Hauptbahnhof genommen, also guckt man, wie man das begrenzt. Das ist schon eine interessante Entgegnung.  

Etwas Ähnliches sehen wir ja in der Ukraine: Dieses Wiederentdecken von nationalen Traditionen, die Suche nach den Wurzeln der eigenen Identität, um nicht eine fremde übergestülpt zu bekommen …  

Es gibt noch einen anderen interessanten Trend: In Putins Erzählung ist Stalin stark und Lenin schwach. Lenin wird heute fast ausgeblendet, während Stalin als großer Verteidiger des Vaterlandes wieder gefeiert wird. Damit geht einher, dass die Architektur der Moderne der 1920er und frühen 1930er Jahre nicht besonders pfleglich behandelt wird. Vieles wird abgerissen, wenig steht unter Denkmalschutz. Das ist insofern bemerkenswert, als nicht wenige dieser Modernisten ukrainische Wurzeln hatten. Wladimir Tatlin etwa oder auch Kasimir Malewitsch. Das spielte damals vielleicht keine Rolle. Aber es ist spannend zu sehen, wie diese Künstler je nach politischer Konjunktur eingemeindet oder wieder ausgeblendet werden. Die Internationalität der Sowjetunion dieser Periode wird heute als Schwäche betrachtet. 

Mit einem Ort in Moskau haben Sie sich sehr ausführlich beschäftigt: 1931 ließ Stalin die Christ-Erlöser-Kathedrale am Ufer der Moskwa sprengen. Am selben Ort sollte der Palast der Sowjets errichtet werden. Auf dessen Fundament entstand unter Chruschtschow dann ein riesiges Freibad mitten in der Stadt. Und 1995 begann dort der Wiederaufbau der Kathedrale. Was erzählt das über das Land? 

Mich faszinierte an diesem Pool, dass er gewissermaßen in einer Falte der Geschichte lag. Er war groß, er war zentral, aber anders als die Sieben Schwestern erstreckte er sich nicht vertikal, sondern horizontal im Raum. Das kreisrunde Bassin Moskwa war ein Sieg über die Natur, weil man dort auch bei Minusgraden im beheizten Wasser das ganze Jahr über schwimmen konnte, umgeben von einer eindrucksvollen Dampfwolke. Fast wie durch Zufall hatte sich die Gesellschaft da etwas Tolles gebaut. Aber dann wurde das sofort wieder verdrängt und zurückgebaut. 

Gar nicht weit von dieser Stelle, vor den Mauern des Kreml, steht seit 2016 die Statue des Großfürsten Wladimir. Welche Rollte spielt sie? 

Auf die Statue bin ich gestoßen, während ich an dem Projekt über den Pool gearbeitet habe. Ich war zufällig gerade dort, als mit einem Kran das große Kreuz eingehängt wurde. Ich habe das fotografiert, aber mir wurde erst später klar, welcher Wladimir hier eigentlich gewürdigt wird und was das politisch bedeutet. Er schaut ja auf die Kathedrale, er schaut vor allen Dingen aber in die Ukraine, glaube ich. Das war für mich so ein Moment, da dachte ich: Das ist jetzt eine Zäsur. Die Kirche, das war noch Wiederaufbau. Aber hier kommt etwas Neues dazu, was absolut Gegenwart ist und gleichzeitig Anspruch auf eine bestimmte Lesart der Vergangenheit behauptet. 

Der russische Deutungsanspruch und das Ringen darum begegnen uns auch hierzulande. Das wird besonders in dem Bilderpaar deutlich, das die Gedenkfeier zum 9.Mai 2022 am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park und eine Demonstration von Ukrainerinnen im gleichen Jahr zeigt. 

Dieses Diptychon ist bewusst konfrontativ gesetzt, ein bisschen polemisch. Da ist einmal diese Riege von Männern in Anzügen, vorne der russische Botschafter Sergej Netschajew mit St. Georgs-Band, dahinter Soldaten und Popen. In der Nähe wurde protestiert von Leuten, die sagten, Russland kann nicht bei uns den Sieg im Weltkrieg feiern, wenn es gleichzeitig Krieg gegen die Ukraine führt. Die zweite Fotografie zeigt geflüchtete Frauen in ukrainischer Tracht, die für mehr Unterstützung für ihr Land demonstrieren. Über den Männern in ihren Anzügen und Uniformen sieht man im Hintergrund diesen metallenen Lorbeerkranz. Die Frauen tragen ein Tarnnetz wie einen Baldachin.  

Wenn Sie nochmal an Ihre frühen Bilder von den Reisen von vor 30 Jahren zurückdenken. Könnte man solche Bilder heute noch machen? 

Ich würde behaupten, wenn ich heute in Odessa oder in Moskau wäre, dass ich ähnliche Bilder wiederholen könnte. Es gibt große Veränderungen und gleichzeitig eine unheimliche Kontinuität im Stadtbild. Diese stalinistische Architektur war ja auf Dauer angelegt. Aber sie wird von Neuem überlagert. Das ehemalige Hotel Ukraina in Moskau – ebenfalls eine der Sieben Schwestern – steht heute durch die Skyline der modernen Moscow City im Hintergrund in einem neuen Kontext. Diese Schichtungen der Epochen zu zeigen, hat mich immer gereizt. 

 

Fotografie: Eiko Grimberg 
Bildredaktion: Andy Heller 
Interview: Julian Hans 
Veröffentlicht am: 15.04.2025 

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Russland und der Kolonialismus

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Eine solche „Dekolonisierung“ ist zu einem zentralen Motiv des Widerstands gegen das russische Regime geworden. Für die russländische Opposition wird das Thema jedoch zunehmend zur Zerreißprobe: Ist dieser „koloniale“ Krieg – schließlich geht es darum, fremdes Territorium zu erobern und zu besiedeln – den heutigen Machthabern im Kreml anzulasten oder muss man tiefer graben?  

Solche Fragen sind keine bloße Gedankenspielerei. Sie sind auch politisch relevant: Am 25. Juli 2024 erklärte der Oberste Gerichtshof der Russischen Föderation die renommierte Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde zum Teil einer angeblichen „antirussischen separatistischen Bewegung“. Als erste deutsche Organisation wurde sie zur „extremistischen Organisation“ deklariert, nachdem das Heft „Bodenprobe“ der DGO-Zeitschrift Osteuropa erschienen ist. In dieser Ausgabe kommen nicht nur Historiker zu Wort, sondern auch Aktivisten, die aufzeigen, dass im Inneren Russlands ein anti-kolonialer Widerstand wächst – gegen den Krieg und gegen die Regierung. 

Angehörige ethnischer Minderheiten aus Russland demonstrieren in London gegen den Krieg und die Mobilisierung © Thomas Krych / Zuma Press Wire/ Imago

Die Geschichte des russischen Kolonialismus ist lang und umstritten. Manche Experten sehen dessen Beginn in der Eroberung der Gebiete hinter dem Uralgebirge. Dort lebten entlang des Flusses Ob’ indigene Völker wie die Nenzen, Chanten und Mansen, die als anerkannte Minderheiten bis heute den (Nord-)Westen Sibiriens besiedeln. Das damalige Khanat Sibir' – eine Art Fürstentum, über das die muslimisch geprägten Tataren walteten – verleibte sich das russische Reich unter Führung des Kosakenanführers Jermak im 16. Jahrhundert ein. Jermak sind in Russland nach wie vor einige Denkmäler gewidmet. 

Andere wiederum setzen den Anfang russischer Kolonisierung schon 500 Jahre früher an. Bereits im 11. Jahrhundert betrieb Nowgorod Pelzhandel mit der indigenen Bevölkerung entlang des Flusses Ob’. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte erwarben auch Kyjiw und die Hanse Pelze aus Sibirien. „Handel“ ist dabei beschönigend: Die Pelze waren Tributzahlungen an den russischen Großfürsten. Um sie durchzusetzen, töteten seine Söldner bei Widerstand auch Frauen und Kinder.1 

Den Höhepunkt des Kolonisationsprozesses erreichte Russland im 18. und 19. Jahrhundert, als es den Kaukasus, das Baltikum, Alaska, große Gebiete Finnlands, Polens, Bessarabiens, Zentralasiens und Gebiete im östlichen Teil Asiens unterwarf. Durch diese gewaltsamen Eroberungen wurde Sankt Petersburg zum Machtzentrum des – nach dem Mongolischen Reich – zweitgrößten zusammenhängenden Reiches der Weltgeschichte.  

Je nach Territorium und Epoche wandte Russland unterschiedliche koloniale Strategien an. Neben militärischer Unterwerfung und dem Installieren wirtschaftlicher Kontrolle und eigener Verwaltungsapparate bediente sich der Zar kultureller und geopolitischer Strategien. Russisch wurde langfristig in den kontrollierten Gebieten als Verwaltungs- und Bildungssprache eingeführt. Eine weitere Strategie bildete der Siedlerkolonialismus, wie ihn beispielsweise die Zarin Katharina die Große im 18. Jahrhundert praktizierte, indem sie Einwanderer aus Europa anwarb. Dem Ruf folgten insbesondere Siedler aus ihrer deutschen Heimat, die sich – angelockt von Begünstigungen wie der Befreiung vom Militärdienst oder Steuererleichterungen – am Schwarzen Meer oder an der Wolga niederließen. 

Eine „gute“, sowjetische Kolonisierung? 

Die von Russland eroberten Gebiete und die Menschen, die wirtschaftlich ausgebeutet wurden, lagen nicht in Übersee, sondern auf zwei zusammenhängenden Kontinenten: Europa und Asien. Zudem erstreckte sich die Kolonisierung über mehrere Jahrhunderte. Deshalb verstehen Historiker den russischen Kolonialismus heute noch eher in Analogie zum preußisch-deutschen Ost- und Grenzkolonialismus oder zum US-amerikanischen Frontier Colonialism. Im spät-imperialistischen Russland etablierte sich vom Konzept des Binnenkolonialismus ausgehend die „Selbstkolonisierung“ als Begriff – ein Euphemismus, der darauf abzielt, den für die Geschichtsschreibung wichtigen Unterschied zwischen den Kolonisatoren und den Kolonisierten zu verwischen.2 Er ist eine Chiffre für die erklärte Andersartigkeit des russischen Kolonialismus im Versuch, die russische Kolonisierung von der westlichen abzugrenzen. 

Die Bolschewiken unter Lenin wie auch spätere Vertreter des Sowjetsozialismus verstanden die vom russischen Zarenreich erworbenen Gebiete als „normale“ Kolonien. Das galt auch für ukrainische Gebiete.3 Diese Haltung hatte politisches Kalkül: Sie sollte den von der Februarrevolution 1917 erzwungenen Regimewechsel legitimieren. 

Lenin wollte die Länder und Gebiete des zerfallenen russländischen Imperiums in seinem Sinne dekolonisieren. Die einst vom Zarenreich unterworfenen Völker sollten ihre Staatsgebiete selbständig verwalten können. Die Unabhängigkeit verlief jedoch nicht so, wie es sich die Vertreter der ehemaligen Kolonien vorgestellt hatten. Denn Lenin setzte voraus, dass die Länder sowjetisch werden. Vor allem unter Stalin traten dann Sowjetisierung, Industrialisierung, Deportationen, Zwangsarbeit und Zwangskollektivierung an die Stelle der kolonialen Strategien des Russischen Reiches. Um die Kolonisierung voranzutreiben, arbeiteten Wissenschaftler ab 1922 in einem eigens dafür gegründeten Institut: dem Staatlichen Kolonisierungs-Institut (Goskolonit), wo sie an Konzepten für Umsiedlungen und wirtschaftlicher Nutzbarmachung forschten.4  

Obwohl sie selbst koloniale Strategien anwendete, hatte sich die Sowjetunion antikolonialen Widerstand auf die Fahne geschrieben. Wie schon bei Lenin, wurde die westliche Kolonisierung als ausbeuterischer Kapitalismus (Kolonisatorstwo) einem gemeinsinn- und kulturschaffenden Sowjetsozialismus entgegengestellt. Global relevant wurde diese Haltung spätestens 1960, als die Sowjetunion den ersten Entwurf für die UN-Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker (Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples) vorlegte.  

Das Papier schuf die formalen Rahmenbedingungen für Dekolonisierung weltweit – nur nicht in der Sowjetunion. Dabei konnte sie von der sogenannten „Wasser-Regel“ der UN profitieren, da sie zu diesem Zeitpunkt keine Kolonien in Übersee besaß. Ohnehin hatte ihre Dekolonisierung aus sowjetisch-russischer Perspektive bereits in den Jahren nach 1917 stattgefunden, als die Kolonien und Protektorate des Russischen Zarenreiches zu autonomen Republiken, Oblasten und Kreisen umgewandelt worden seien – unabhängig davon, was das für die tatsächliche Souveränität der betroffenen Gebiete bedeutete.  

Die Besonderheiten des sowjetischen Kolonialismus bekamen Nordost-, Ostmittel- und Südosteuropa während und nach dem Zweiten Weltkrieg zu spüren. Als Konsequenz aus dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und der Niederlage der Nationalsozialisten 1945 beanspruchte die Sowjetunion Regionen und ganze Länder für sich, die vormals zum Russischen Reich gehörten. Die sowjetische Rückeroberung dieser Länder bedeutete für die betroffenen Regionen zwar eine Befreiung vom Nationalsozialismus. Doch der Preis dafür war die Angliederung an die stalinistische Sowjetunion. So entstanden nicht nur neue Sowjetrepubliken, sondern auch Satellitenstaaten – sozialistische Regierungen in Osteuropa, die politisch um Moskau kreisten. Ideologisch wurden sie als „Brüdervölker“ in die Propaganda der Sowjetunion integriert – immer unter der impliziten Annahme, dass Russland in der Hierarchie der „größere Bruder“ blieb. 

Russische Dekolonialisierung – zweiter Versuch 

Der Zerfall der Sowjetunion 1989–1991 kündigte die über Jahrzehnte von Moskau diktierte „Völkerfreundschaft“ auf. Es folgte eine Umstrukturierung der Sprachpolitik – Russisch war nicht mehr überall Amtssprache und die Erinnerungspolitik der nun unabhängigen Staaten berief sich nicht mehr ausschließlich auf sowjetische Errungenschaften. 

Dass die ehemaligen Republiken die sowjetische Vergangenheit als eine historische Ungerechtigkeit wahrnahmen, zeigt sich nicht zuletzt am massenhaften Abriss sowjetischer Denkmale. So wurden 2009 im georgischen Kutaissi, 2022 im lettischen Riga und 2023 im bulgarischen Sofia sowjetische Kriegsdenkmale abgebaut oder gesprengt. Internationale Aufmerksamkeit erregte 2022 die Verlegung eines sowjetischen Panzers nahe der estnisch-russischen Grenzstadt Narwa. Die damalige Präsidentin Kaja Kallas schrieb dazu auf Twitter: „Als Symbole von Repressionen und sowjetischer Besatzung sind sie [die Denkmale – dek] zu einer Quelle zunehmender sozialer Spannungen geworden – in diesen Zeiten müssen wir die Gefahr für die öffentliche Ordnung so gering wie möglich halten.“ Ein Panzer sei „eine Mordwaffe, kein Erinnerungsobjekt. Und mit denselben Panzern werden gegenwärtig auf den Straßen der Ukraine Menschen getötet“, so Kallas.5  

Diese symbolischen Aktionen der Dekolonisierung und der Abgrenzung rufen in Russland das Trauma der 1990er Jahre auf. Der Zerfall der Sowjetunion ist gleichsam wunder Punkt und zentrales identitätsstiftendes Moment des heutigen Regimes. Putin beschwört das wirtschaftliche, politische und soziale Chaos der 1990er Jahre als Schreckensbild eines Russlands ohne seine Führung. Der Kreml geht deshalb entschieden gegen Bewegungen vor, die sich weitere Abspaltungen von der Russländischen Föderation auch nur vorstellen.  

Der Film, den alle sehen wollen: Dekolonisierung Russlands 

Dennoch sind diese Vorstellungen heute von zentraler Bedeutung. Das gilt vor allem für Mittel- und Osteuropa und alle, die sich zur Opposition gegen das russländische Regime zählen. Fast drei Jahre nach dem Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine schwindet die Hoffnung, dass die russische Bevölkerung Widerstand leisten wird. Als einzige Rettung erscheinen die im Zuge der jahrhundertelangen Geschichte der Kolonisierung und Sowjetisierung unterdrückten Völker der Russländischen Föderation. Der ukrainische Filmemacher Oleksiy Radynski machte als einer der ersten auf dieses Potential aufmerksam: Die indigene Bevölkerung und die circa 180 Ethnien haben Radynski zufolge das Potential, wenn nicht sogar die moralische Verantwortung, sich an ihre Geschichten der Unterdrückung zu erinnern, sich mit den Ukrainern zu solidarisieren und sich zu wehren.6 

Radynski präsentiert die Ukraine als ein Modell für die Dekolonisierung der Russländischen Föderation. Er sagt, die Ukrainer trügen eine historische Verantwortung, denn einst seien sie selbst Kolonisatoren gewesen. Damit meint er die Ausweitung des russischen Reiches von Kyjiw aus und wahrscheinlich auch den Einsatz der Kosaken bei der Kolonisierung Sibiriens. Deshalb sei die Ukraine nun in der Pflicht, sich an der Dekolonisierung Russlands zu beteiligen. So verstanden wäre der ersehnte Sieg der Ukraine im aktuellen Angriffskrieg ein erster Schritt auf diesem Weg.  

In Analogie dazu ruft er Baschkiren und Burjaten auf, sich gegen die kolonialen Ansprüche der russländischen Herrschaft zu wehren. Burjatien ist eine der ärmsten Republiken Russlands. In ihrer Armut ausgenutzt, werden viele Männer aus der Republik im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt.  

Konsequent zu Ende gedacht, würde der Zusammenschluss all jener russländischen „Anderen“ womöglich zum Zerfall Russlands führen. Ein solcher wäre radikal genug, um der langen Geschichte der russischen Kolonisierung ein Ende zu setzen. Das wäre ein Film, den mittlerweile viele sehen wollen. Aber selbst wenn dieser Film heute produziert würde, wäre er noch weit von der Realität entfernt. 


Yuri Slezkine, Arctic Mirrors. Russia and the Small Peoples of the North, Cornell University Press, Ithaca/London, 1994, S. 16. 
Alexander Etkind, How Russia ‘colonized itself’. Internal Colonization in Russian Classical Historiography, in: International Journal for History, Culture and Modernity, 3 (2), 2015, S. 162. 
3  “(…)Украина окончательно превращается в 19 в. в русскую колонию, в которой русское правительство усиленно начинает искоренять всякие следы национальных особенностей, а украинский народ окончательно становится угнетенным, задавленным национальным гнетом и крепостным правом.“ Malaja Soveckaja Enciklopedia 9, hg. von N.L. Meščeryakov, Moskau 1931, S. 116. “Die Ukraine wird schließlich im 19. Jahrhundert zu einer russischen Kolonie, in der die russische Regierung beginnt, alle Spuren nationaler Eigenheiten auszumerzen, und das ukrainische Volk wird schließlich unterdrückt, von nationaler Unterdrückung und Leibeigenschaft erdrückt.” (trans. M.G.). 
4 Dies betraf u.a. folgende Länder mit der Präzisierung, welche Rohstoffe für die Kolonisierung relevant sind: Der Norden der RFSR (Wald, Fisch, Erdöl), Kaukasus (Textil, Erdöl, Bergbau), Turkestan (Erdöl, Bergbau), Kirgisien (Untergrund), Sibirien (Wald, Fisch, Pelz, Untergrund), Fernost (Pelz, Gold, Fisch, Erdöl), Ural (Bergbau), Wolgaregion (Ansiedlung der Industrie), Süd-Ost (Salz, Erdöl), Ukraine (Donbass), Zentralland (Kursk: Eisen). 
5 tagesspiegel.de: „Quelle zunehmender sozialer Spannungen“: Estlands Regierung will bis zu 400 sowjetische Denkmäler demontieren. https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/estlands-regierung-will-bis-zu-400-sowjetische-denkmaler-demontieren-859255...
6 Oleksiy Radynski: The Case Against the Russian Federation, in: e-flux 125 (2022), URL: https://www.e-flux.com/journal/125/453868/the-case-against-the-russian-federation/ 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)