Konturen der früheren Sowjetunion werden in der Forschung vielfach entlang der Bruchlinie von Repression und Widerstand aufgezeigt. Der Kulturanthropologe Alexei Yurchak hat in seinen Untersuchungen den Fokus verschoben. Er hat die offiziellen Strukturen und Rituale des früheren Sowjetstaates in den Blick genommen – und das, was die Menschen in ihren Alltagspraktiken daraus gemacht haben.
Sein Buch Everything Was Forever, Until It Was No More (dt. Alles war für immer, bevor es verschwand) über die sowjetische Generation unter Breshnew ist inzwischen auf Russisch erschienen und Yurchak für seine Studie im vergangenen Jahr mit dem renommierten Buchpreis Proswetitel (dt. Aufklärer) in Russland geehrt worden. Das junge Medienprojekt Gorky traf ihn nun für ein Interview, sprach über Vererbtes ins Heute, Vergleiche mit den USA und verschobene Wahrnehmungen der Gesellschaft.
Felix Sandalow: Beginnen wir mit einem zentralen Begriff Ihres Buchs – Freiheit des Außerhalbseins. Glauben Sie, dass es in der jetzigen russischen Gesellschaft Räume des Außerhalbseins gibt? Oder ist diese Erscheinung nur ein Charakteristikum des Lebens in der späten Sowjetunion?
Alexei Yurchak: Das Bestreben, über die Beschränkungen des Gegensatzpaares Systemzugehörigkeit / Systemgegnerschaft hinauszugehen, ist in der postsowjetischen Zeit nicht verschwunden. Durch die Erfahrung aus der UdSSR im freien Umgang mit Gesetzen wurde ja die Entwicklung von Unternehmernetzwerken im frühen postsowjetischen Russland sehr befördert. Eigentlich ist unsere gesamte Geschäftswelt aus diesen Räumen des Außerhalbseins hervorgegangen. Nehmen wir zum Beispiel die Entstehung des neuen Unternehmertums in den 1990er Jahren: Man kaufte im Westen Computer, brachte sie her und verkaufte sie. Und über den Preisunterschied wurde Kapital gebildet. Bei näherem Hinsehen stellt man fest: Das lief alles vorschriftsmäßig; es gab für alles Unterlagen und Zolldeklarationen – aber zugleich wurden normale Diskettenlaufwerke als viel teurere deklariert und vertrieben. Oder nehmen Sie das Verhalten der Zollbeamten: Ich habe damals in den USA studiert und bin oft nach Russland geflogen. Es gab ein Gesetz, nach dem Leute, die mehr als acht Monate im Ausland lebten, steuerfrei ein Auto einführen durften. Ich brauchte kein Auto, aber die Zollbeamten haben mir jedes Mal angeboten, eines auf meinen Namen einzutragen. Dafür gab es 1000 Dollar. Das heißt, man konnte in dieser Situation als Instrument fungieren, damit jemand anders Geld sparen kann. So kommt es zu einer performativen Verschiebung: Man kann die Form des Gesetzes reproduzieren und dabei dessen Sinn immer wieder ändern. Solche Verschiebungen gab es millionenfach.
Und wie sieht es damit in den USA aus?
Auch dort gibt es solche Zonen des Außerhalb. Zum Beispiel das Lager Guantanamo auf Kuba. Dorthin sind mutmaßliche Terroristen verbracht worden, die während des Irak-Feldzugs gefangengenommen wurden. Und da sich Guantanamo außerhalb des Hoheitsgebietes der Vereinigten Staaten befindet, gelten die US-Gesetze dort nicht. Man kann dort Menschen beliebig lange ohne Gerichtsverfahren und Ermittlung einsperren. Oder jemanden töten, ohne dass es als Mord gilt wie im demokratischen Amerika. Das ist das, was Giorgio Agamben als den Raum des Ausschlusses bezeichnet – und der US-amerikanische Staat nutzt ihn aktiv. Aber die Prinzipien, nach denen der Raum des Ausschlusses und der Raum des Außerhalbseins konstruiert sind, unterscheiden sich etwas voneinander, auch wenn die Erscheinungen selbst verwandt sind. Dieser Unterschied gleicht dem zwischen der liberalen und der sozialistischen Gesellschaft. In der liberalen Gesellschaft funktionieren die grundlegenden Bereiche über ein festgelegtes System aus Gesetzen und transparenten Institutionen. Aber es gibt Zeiten – etwa im Krieg – oder Orte, in denen sie außer Kraft treten. Diese Räume des Ausschlusses sind für liberale Gesellschaften sehr wichtig, weil sie sich dadurch ihre souveränen Grenzen vergegenwärtigen. Räume des Außerhalbseins waren hingegen ein wichtiger Bestandteil einer anderen Gesellschaft, nämlich der spätsozialistischen. Überhaupt war das Prinzip des Außerhalbseins die Funktionsgrundlage für das gesamte System des Spätsozialismus. Es gab in der Sowjetunion keine vom Staat abgesonderten, autonomen Zonen, auch nicht in Form der Küchen. Das ist Unsinn. Es gab vielmehr das Außerhalbsein als Prinzip, nach dem das gesamte sowjetische System funktionierte. Das heißt, es existierten keine autonomen Räume der Freiheit, die aus dem sowjetischen System herausgefallen wären. Dafür gab es aber jede Menge Räume des Außerhalb, in denen sich das System formal vollständig reproduzierte, aber der Sinn sich laufend verschob, manchmal bis hin zum völligen Gegenteil dessen, was ideologisch verkündet wurde.
Ich brauchte kein Auto, aber die Zollbeamten haben mir jedes Mal angeboten, eines auf meinen Namen einzutragen. Dafür gab es 1000 Dollar
Im Titel Ihres Buches ist von der „letzten sowjetischen Generation“ die Rede. Was denken Sie über die Generationentheorie? Sie ist plötzlich wieder populär geworden. Alle Welt spricht von den „Millenials“, und auch der Begriff „Putin-Generation“ ist im Umlauf. Inwieweit ist es überhaupt zulässig, mit solchen Konstrukten zu arbeiten?
Die Rede von den Generationen beschreibt nicht notwendig ein Objekt, das von vornherein existiert. Sie erlaubt es auch, Generationen im Nachhinein zu schaffen. Dabei werden die Objekte zunächst im Diskurs hergestellt und treten dann in der Realität in Erscheinung. Dass Menschen im gleichen Jahr geboren wurden, bedeutet nicht, dass sie eine bestimmte Gruppe bilden. Manchmal ist es so und manchmal nicht. Generationen entstehen nicht einfach durch das gemeinsame Alter, sondern durch gemeinsame Erfahrungen oder Erlebnisse. Beispiele dafür sind die Kriegsgeneration oder die Generation der Kinder der Leningrader Blockade.
Aber es gibt nicht immer zwangsläufig eine wichtige und gemeinsame Erfahrung, die alle Gleichaltrigen verbindet. Menschen sind bekanntlich verschieden. Sie beschäftigen sich mit unterschiedlichen Dingen und haben unterschiedliche Ansichten, auch wenn sie zur gleichen Altersgruppe gehören. Zudem werden ständig neue Menschen geboren, und die Generationsschichten sind nicht immer durch markante Stufen voneinander getrennt. Die klassische Theorie des Soziologen Karl Mannheim, der die Idee der Generationen als erster formuliert hat, ist schon vor langer Zeit kritisiert worden. Sie hat als erster Versuch auf diesem Gebiet einen bleibenden Wert, aber ihr Problem ist ein gewisser Positivismus. Sie betrachtet Generationen als soziale Objekte und setzt voraus, dass sie immer real existieren. Aber das stimmt nicht.
In letzter Zeit sind Sie in Kalifornien tätig, an der Universität von Berkeley. Aber Sie halten auch Vorlesungen in Russland. Wie unterscheidet sich Ihrer Ansicht nach die akademische Welt in Russland von der in den USA?
In Russland gibt es, grob gesagt, zwei akademische Welten. Eine ist mehr oder weniger traditionsverhaftet und findet sich vor allem in den Institutionen, die aus dem akademischen System der Sowjetunion hervorgegangen sind. Die Mitglieder dieser Welt publizieren vor allem in Russland und auf Russisch. Viele von ihnen sprechen keine andere Sprache. Das führt zu einer gewissen Isolation von der internationalen akademischen Gemeinschaft. Zwar werden ausländische Texte im Bereich der Sozialwissenschaften und der Philosophie nach und nach ins Russische übersetzt. Aber mit der Übersetzungsarbeit in die umgekehrte Richtung, aus dem Russischen in die internationalen Sprachen, steht es weitaus schlechter.
Es gibt jedoch noch eine zweite akademische Welt, die sich aktiv am internationalen Wissenschaftsdiskurs beteiligt und regelmäßig zumindest auf Russisch und Englisch (oder Französisch und so weiter) arbeitet. Dazu gehören etwa die Europäische Universität St. Petersburg, die Higher School of Economics in Moskau und St. Petersburg und einige weitere Hochschulen in diesen Städten. Sie sind Auslandserfahrung gegenüber offener: Man reist in die wissenschaftlichen Zentren im Ausland. Man hat kein Problem damit, Professoren zu beschäftigen, die einen Teil ihrer Ausbildung im Westen erhalten haben, also etwa einen Doktorgrad in England oder den USA. Und manchmal werden sogar Ausländer eingestellt.
Es gab in der Sowjetunion keine vom Staat abgesonderten, autonomen Zonen, auch nicht in Form der Küchen. Das ist Unsinn
Das ist nicht deshalb nötig, weil die ausländische Ausbildung zwangsläufig besser wäre – sie ist es nicht immer, und darum geht es auch nicht. Diese Herangehensweise ist aus anderen Gründen wichtig. Sie ermöglicht es, sich aus dem geschlossenen Feld einheimischer Traditionen, Ansätze, sozialer Netze, Beziehungen und so weiter zu lösen und nicht nur den Forschungsgegenstand kritisch zu betrachten, sondern auch das akademische Feld, in dem er untersucht wird. Das führt zu einer offeneren und kritischeren Diskussion über Arbeiten, Forschungen, Konzepte und Methoden.
Denn wenn Ideen nicht der Kritik unterzogen werden, weil die Grenzen des geschlossenen Bereichs von Traditionen und Überzeugungen dies nicht zulassen, dann kommen alle möglichen unwissenschaftlichen Theorien auf, wie etwa Lew Gumiljows Theorien zur Ethnogenese.
Es gibt noch einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen dem akademischen Milieu im Westen und dem in Russland. Die meisten Hochschullehrer in Russland haben – anders als etwa die Dozenten der führenden Universitäten in den USA – eine sehr hohe Lehrbelastung. Sie müssen ein extrem hohes Pensum an Unterrichtsstunden absolvieren. Es bleibt ihnen kaum Zeit, um wissenschaftlich zu arbeiten, Aufsätze zu schreiben und in den führenden Zeitschriften zu publizieren. Zugleich sind sie angehalten, den Zitationsindex für ihre Arbeiten kontinuierlich zu verbessern. Ihr Gehalt, ihre Karriere und so weiter hängen davon ab. Das führt bisweilen dazu, dass das Publizieren zum Selbstzweck wird, statt der wissenschaftlichen Arbeit zu dienen. Es erscheinen Publikationen in verschiedenen unseriösen Zeitschriften, die nur dazu da sind, dass man schnell und häufig gegen Bezahlung darin veröffentlichen kann.
Jede Reform des Systems, die die russischen Universitäten auf internationalen Stand bringen soll, muss bei gleichbleibender oder höherer Bezahlung der Universitätsprofessoren ihr Unterrichtsdeputat stark reduzieren, damit das Niveau der wissenschaftlichen Arbeit steigen kann. Hier liegt einer der offenkundigsten Unterschiede zwischen den westlichen und den russischen Universitäten. Das wäre letztlich auch für die Studenten viel vorteilhafter. Sie kommen auch mit weniger Unterrichtsstunden pro Woche aus, wenn sie dafür mit den Professoren unter vier Augen oder in kleinen Gruppen zusammenarbeiten können und in ihre Forschung einbezogen werden.
Wie hat sich die Neuauflage des Kalten Krieges, die mit dem Konflikt in der Ukraine begann, auf die Sowjetologie ausgewirkt? Hat sie Einfluss auf das Interesse an Russland in den USA, auf Anzahl und Art der Publikationen?
Die Sowjetologie als einheitliche Wissenschaft gibt es nicht. Das ist eher Wissenschaftsjargon für unterschiedliche Forschungsaktivitäten zur Sowjetunion. Die waren früher in der Regel stark von der Ideologie des Kalten Krieges beeinflusst. Häufig stehen sie in der Tradition von Hannah Arendts Konzept des Totalitarismus.
Leider enthielten viele politologische und ökonomische Arbeiten zur UdSSR eine Menge unreflektierter ideologischer Postulate. Zum Beispiel wurde die sowjetische Gesellschaft als atomisierte Masse betrachtet, die keine politischen Inhalte hatte und vom Staat unterdrückt wurde. Auf den ersten Blick scheint es angemessen, in solchen Begriffen über die Sowjetunion zu sprechen. Aber sobald man näher hinschaut, zeigt sich, dass dieser Ansatz die Realität nicht nur vereinfacht, sondern völlig verfälscht.
Die traditionelle amerikanische Sowjetologie hat derartige Modelle und Annahmen immer wieder in großer Zahl hervorgebracht und die Beschreibung der sowjetischen Gesellschaft auf die binären Kategorien der politischen Repression und des Widerstands reduziert. Es gab in der Sowjetologie auch eine andere Schule – die sogenannten Revisionisten, die sich mit der Erkundung der komplexen Gesellschaft innerhalb der Sowjetunion befassten. Durch ihren Verzicht auf den Totalitarismusbegriff förderten sie viele wichtige und interessante Erkenntnisse zutage. Aber auch sie konzentrierten sich auf den Widerstand als das grundlegende Paradigma der politischen Existenz in der Sowjetunion.
Mein Buch rief eine Wirkung hervor, die einige als Schockeffekt bezeichnet haben, wohl gerade deshalb, weil die Brille Repression/Widerstand, durch die die Geschichte der UdSSR sehr lange betrachtet worden ist, darin offensiv hinterfragt wird. Die englische Ausgabe des Buches hat auf dem Gebiet der Sowjetstudien einen Wandel herbeigeführt. Die Wissenschaftler verwenden eine andere Sprache und verzichten auf binäre Modelle.
Nun ist zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung in den USA die erweiterte russischsprachige Ausgabe in Russland erschienen. Und auch diesmal ernte ich viel Dankbarkeit für den Versuch, Methoden zur Analyse des sowjetischen Systems zu finden, die vom üblichen Binärschema abweichen. Das freut mich.
Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Heute taucht die Binarität in den meisten westlichen und russischen Beschreibungen des Geschehens in Russland erneut auf. Oft hat man es mit Beschreibungen zu tun, nach denen die russische Gesellschaft in zwei Gruppen zerfällt. In der Sprache der Staatsmedien werden diese Gruppen als Patrioten (die Mehrheit) und als Fünfte Kolonne (die liberale Minderheit) bezeichnet. Und in der Sprache der liberalen Intellektuellen und Journalisten heißen sie „Watniki“ (oder „die 86 Prozent“) und „aufgeklärte, liberale Gemeinschaft“. Ich denke, dass diese binäre Beschreibung absolut nicht die Wirklichkeit widerspiegelt und entlarvt werden muss. In gewissem Sinne ist sie wirklich eine Rekonstruktion der Sprache des Kalten Krieges.
Leider enthielten viele politologische und ökonomische Arbeiten zur UdSSR eine Menge unreflektierter ideologischer Postulate
Noch einmal nachgefragt: Hat die Zuspitzung der politischen Lage irgendwelche Auswirkungen auf Ihr Forschungsgebiet?
Das ist eine interessante Frage. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre gab es sehr viele Studenten, die sich mit Slawistik, russischer Geschichte und dem modernen Russland befassen wollten. Zur Jahrtausendwende waren es bereits deutlich weniger. An einigen Universitäten ging die Zahl der Studenten so stark zurück, dass die Lehrstühle für russische Literatur und Sprache einfach abgeschafft wurden. Bei den Lehrstühlen für Geschichte sah es schon immer besser aus. Dort bewerben sich traditionell mehr Doktoranden, die sich mit Russland beschäftigen wollen, als etwa bei den Anthropologen.
In letzter Zeit stelle ich aber auch dort fest, dass das Interesse an Russland unter den Doktoranden wieder wächst. Teilweise liegt das offensichtlich an der aktuellen politischen Situation. Trotzdem ist das Interesse an Russland in der anglo-amerikanischen Anthropologie weit geringer als das an vielen anderen Themen. Ein Beispiel: An der Fakultät für Sozialanthropologie in Berkeley bewerben sich jährlich vierhundert Leute für ein Promotionsstudium. Davon wollen sich vier oder fünf mit Russland beschäftigen. Weitere fünf bis sieben möchten zu anderen Regionen der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropas forschen. Das ist um eine Größenordnung weniger als die Anzahl der Doktoranden, die sich mit der Erforschung des Islam, des Finanzkapitalismus oder der Veränderung der menschlichen Gesellschaft durch neue Biotechnologien befassen wollen.
Und noch etwas ist hier hervorzuheben: Der abrupte Abbau der Russlandforschung in den USA in der postsowjetischen Zeit war nicht nur durch einen objektiven Rückgang des Interesses an Russland bedingt, sondern auch dadurch, wie die US-Regierung die Bedeutung dieser Forschung interpretiert hat. So hat etwa der US-Kongress in den letzten Jahren die Mittel für Forschungsprogramme zu Russland und der ehemaligen Sowjetunion erheblich reduziert. Auch das hat zu nachlassendem Interesse an solchen Forschungsvorhaben beigetragen.
Und dann stieg das Interesse an Russland plötzlich wieder heftig an, weil man nicht verstand, was dort tatsächlich geschieht und warum sich das so stark auf die internationalen Beziehungen auswirkt. Es war vorgesehen, dass Russland den Weg der postkommunistischen Demokratisierung geht. Und auf einmal zeigte sich, dass das alles nicht so einfach ist. Diese Erkenntnis reifte ab 2011. Das begann mit den damaligen Wahlen in Russland und der Massenprotestbewegung gegen die Wahlmanipulationen. Darauf folgte die politische Abkühlung, dann die Entwicklungen in der Ukraine, auf der Krim und in Syrien. Plötzlich wurde deutlich, dass es in den USA einen haarsträubenden Mangel an Experten für Politik, Soziologie und Kultur des heutigen Russland gab. Diese Einsicht hat im akademischen Milieu zu zahlreichen Diskussionen geführt. So wird der Kongress jetzt wieder einige große und wichtige Forschungsprogramme zu Russland und der ehemaligen Sowjetunion finanzieren.
Die russischsprachige Community auf facebook versucht zurzeit ständig, sich danach einzuteilen, ob man sich für oder gegen bestimmte historische Figuren positioniert. Die Binarität, von der Sie gesprochen haben, lässt sich am Beispiel der Internetgemeinschaft sehr deutlich verfolgen.
Diese Art, die Vergangenheit zu analysieren, ist sehr verbreitet. Man wird aufgefordert, sich mit einer von zwei Rollen zu identifizieren: Konformist oder Nonkomformist. Aber eine solche Aufteilung vereinfacht die historische Wirklichkeit und ist in vieler Hinsicht durch moralische Einstellungen gegenüber der Sowjetzeit diktiert, die sich erst in der postsowjetischen Zeit herausgebildet haben.
Für viele ist es wichtig, sich nachträglich den Nonkonformisten zuzurechnen – zu sagen, dass man nie an irgendetwas geglaubt hat, immer dagegen war, den ganzen Sowjetmief hasste und so weiter. Das ist eine heroische Position. Man kann verstehen, dass sie heute wichtig ist, dass sie ein moralisches Kapital darstellt.
Aber in der Sowjetzeit war das alles anders, und die Einstellung der meisten Bürger zum System war weder konformistisch noch nonkonformistisch. Sie war komplexer. In meinem Buch analysiere ich sie eingehend. Generell existierte damals für die Mehrheit weder der Begriff „Nonkonformismus“ noch das Ziel, sich in dieser Hinsicht zu definieren. Die sowjetische Geschichte wird heute nicht nur in den Sozialen Netzwerken vereinfacht, sondern auch auf der Ebene der staatlichen Rhetorik – und, wie schon gesagt, auf der Ebene der westlichen Rhetorik über die sowjetische Vergangenheit.
Sehen Sie sich beispielsweise an, wie die sowjetische Vergangenheit in den sogenannten Besatzungsmuseen in den baltischen und osteuropäischen Staaten dargestellt wird. Das ist eine unglaubliche Vereinfachung, eine Wiederholung des binären Schemas. Das sozialistische Projekt und seine komplexe Geschichte kommen dort gar nicht erst vor. Es gibt nur sie und uns – ihre Besatzungstruppen und unsere freie Nation, die immer eine Nation von Nonkonformisten war.
Diese Methode ermöglicht es, die Geschichte unabhängig von unserer eigenen Rolle darzustellen. Wir werden weißgewaschen, die anderen werden angeschwärzt. Und so wird alles einfach. Dabei geht es nicht darum, zu behaupten, dass es in Wirklichkeit gar keine Unterdrückung durch die Sowjetunion gegeben habe. Es geht darum, dass man die Geschichte des sowjetischen und osteuropäischen Kommunismus nicht auf das Schema von Repression und Widerstand reduzieren kann. Das ist ein großes politisches und ethisches Problem. Es ist wichtig, dem etwas entgegenzusetzen.
Für viele ist es wichtig, sich nachträglich den Nonkonformisten zuzurechnen – zu sagen, dass man immer dagegen war, den ganzen Sowjetmief hasste und so weiter
Wenn über die Gegenwart gesprochen wird, kommt man gleich auf die 1990er Jahre: War es damals soundso oder nicht? Kehren sie wieder oder haben sie nie aufgehört? Und so weiter. Sie sind regelmäßig in Russland. Haben Sie den Eindruck, dass sich die gesellschaftlichen Gegensätze in den letzten Jahren verschärft haben?
Um das zu verstehen, muss man sich ansehen, wie die aktuellen politischen Ereignisse beschrieben werden – und zwar nicht nur in den Staatsmedien, sondern auch in der Sprache der sogenannten liberalen Opposition. Ihr dominierender rechter Teil, der, der zwischen Watniki und freien Menschen unterscheidet, propagiert ein Schema, demzufolge 86 Prozent der Einwohner Russlands keinen Verstand haben und gebändigt gehören.
86 Prozent – das ist eine haarsträubende Zahl. Sie ist eine Erfindung sogenannter Meinungsumfragen, die in Wirklichkeit nichts beschreiben. Die Methoden zur Erhebung solcher Informationen haben sehr wenig mit dem zu tun, was in der Welt vor sich geht. Bei der Befragung werden den Menschen relativ einfache Fragen über ihre Haltung zu dieser oder jener Politik oder Tatsache gestellt. Wenn man sich jedoch mit den Leuten unterhält, oder noch besser, wenn man sich einfach anschaut, wie sie sich verhalten und wie sie sich in ganz verschiedenen Kontexten äußern, dann zeigt sich, dass sie eine Menge verschiedener, komplexer und manchmal widersprüchlicher Einstellungen zur Wirklichkeit haben, in der sie leben. Aber diese Ambivalenz passt nicht in das binäre Schema. Nur etwas Markantes, Grelles, Großes kann die Menschen durch die Medien erreichen. Und schon spricht man auf facebook von der Fünften Kolonne oder den Watniki. Ich betrachte das als ein politisches Projekt, das die Reproduktion von Macht fördert.
In Wirklichkeit lässt sich die russische Gesellschaft nicht in die große Watte und die kleine Freiheit einteilen. Sie ist viel komplexer. Ich bin sicher, dass wir die Gesellschaft im Falle eines politischen Führungswechsels von einer ganz anderen, unerwarteten Seite kennenlernen würden. Es wird sich herausstellen, dass wir sie mit unserem Binärschema überhaupt nicht verstanden haben. Genau so war es auch am Ende der Perestroika, als die ewige Sowjetunion unerwartet zusammenbrach.
Es entsteht der Eindruck, dass Zeitgenossen, die sich Gedanken darüber machen, was im Land vor sich geht, drei Möglichkeiten zur Auswahl haben: a) sich mit einem Plakat auf die Straße zu stellen, b) zu emigrieren, c) eine Alternative zu diesen beiden Optionen zu entwickeln. Was meinen Sie dazu?
Der Begriff der politischen Aktivität ist ein schwieriger Begriff. Nehmen Sie die typischen Leute aus meinem Buch, die an Versammlungen teilnehmen und für das stimmen, wofür in diesem Augenblick gerade gestimmt werden soll. Sie als apolitische Konformisten zu bezeichnen, wäre völlig falsch. Zunächst muss man verstehen, was da geschieht. Das habe ich in meinem Buch unternommen, und es hat dazu geführt, dass ich neue Begriffe vorgeschlagen habe – etwa die Politik und die Freiheit des Außerhalbseins, die meiner Meinung nach die Sowjetunion von innen heraus zerstört haben.
Die Politik des Außerhalbseins lässt sich nicht auf Konformismus oder Nonkonformismus reduzieren. Auch über die gegenwärtige Situation kann man Ähnliches sagen. Es gibt einen interessanten Sammelband, der von einem Team politischer Soziologen und Anthropologen aus Moskau und St. Petersburg herausgegeben wurde: Die Politik der Apolitischen: Die Bürgerbewegung in Russland in den Jahren 2011–2013. Dort geht es um die Frage, was eine „apolitische Haltung“ denn eigentlich ist. Denn der Begriff ist ein Etikett, der eine moralische Bewertung der Person impliziert.
Es gibt Kontexte, in denen Menschen mit scheinbar unpolitischen Methoden um sich herum soziale Räume schaffen, die nicht von den staatlichen Machtinstitutionen kontrolliert werden. Das ist eine politische Aktion, die nicht unbedingt mit den Methoden einer direkten Politik des Widerstands durchgeführt wird und deshalb apolitisch erscheinen kann. Doch tatsächlich hat sie weitreichende politische Konsequenzen.
Eine originär apolitische Haltung ist es, wenn jemand darauf pfeift, was mit ihm selbst und den Menschen in seiner nächsten Umgebung geschieht, wenn er nicht verfolgt, was sich um ihn herum ereignet, wenn er sich vor allem auf den Konsum konzentriert und so weiter. Also das, was manchmal als Eskapismus bezeichnet wird. Viele Menschen auf der ganzen Welt leben so, auch in liberalen Gesellschaften.
Aber es ist etwas ganz anderes, wenn Sie bestimmte Überzeugungen haben, sich jedoch nicht politisch engagieren möchten, indem Sie an Kundgebungen teilnehmen oder an organisierten politischen Aktionen und Bewegungen. Vielleicht sind Sie nicht damit einverstanden, welche Probleme auf den politischen Demonstrationen der Opposition dargestellt werden – wenn dort beispielsweise das liberale Establishment das Wort führt, dem sich viele nicht anschließen wollen. Mir persönlich ist der neoliberale Diskurs fern, der in der Opposition den Ton angibt. Gemäßigt linke Grundsätze und die direkte Demokratie liegen mir wohl näher. Deshalb würde ich nicht mit großer Überzeugung zu Veranstaltungen gehen, wo die Redner ein neoliberales Programm vertreten.