Während in Russland allgemein die Einwohnerzahl schwindet, kann Nowosibirsk seit Jahren kontinuierliche Zuwächse verbuchen. Die pulsierende 1,6-Millionen-Metropole im Herzen Sibiriens, die ihre Gründung dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn zu verdanken hat, saugt förmlich die Menschen aus den umliegenden Gebieten auf. In dieser Hinsicht gleicht Nowosibirsk der Hauptstadt des Landes.
Moskau ist zwar gewissermaßen Vorbild, aber gleichzeitig auch Hemmschuh, meint Riddle-Redaktionsleiter Anton Barbaschin auf InLiberty. Aus der Perspektive der „inoffiziellen Hauptstadt Sibiriens“ wirft der Nowosibirsker einen kritischen Blick auf den russischen Föderalismus und das nicht immer einfache Verhältnis zum Machtzentrum Moskau.
„Sie sind hier nicht in Moskau“ – das ist in all den Jahren wohl die griffigste Losung auf den Monstrationen von Nowosibirsk. Die Monstration – lassen Sie es uns den Moskauern erklären – ist eine in Nowosibirsk entstandene Aktion zum 1. Mai, eine Parodie auf die offiziellen Paraden zum Tag des Frühlings und der Arbeit. Die Teilnehmer der Aktion gestalten lustige, komische, verrückte und provokante Plakate, mit denen sie durch das Stadtzentrum ziehen – wenn es gelingt, eine behördliche Genehmigung zu erlangen. Nicht zufällig trifft man auf die Losung von „nicht in Moskau“ gerade in Nowosibirsk, der inoffiziellen Hauptstadt Sibiriens, der größten Stadt hinter dem Ural, deren Einwohnerzahl nur hinter Moskau und Sankt Petersburg zurückbleibt.
Regionales Moskau
Das seiner langen Geschichte beraubte Nowosibirsk hat trotz all seines wissenschaftlichen, industriellen und kulturellen Potenzials im Grunde kein unverkennbares Antlitz und keine unverwechselbare Stimme. Auf der Suche nach Identität vergleichen wir uns nicht so sehr mit Städten wie Jekaterinburg oder Krasnojarsk, sondern stehen im Dialog mit Moskau, besser gesagt, wir hören seinem Monolog zu. Diese Kommunikationsform wird zweifellos von Moskau vorgegeben.
Die Millionenstadt ist ein regionales Moskau: Hierhin zieht es Studenten aus ganz Sibirien, dem Fernen Osten und dem postsowjetischen Raum, hier findet man die modernsten Bars und Restaurants der Region, hier häufen sich Finanzströme und Investitionen. Moskau ist sowohl Vorbild als auch größter Hinderungsfaktor für die Entwicklung. Die wichtigsten politischen Fragen und die Besetzung von Ämtern werden nicht ohne das Zutun von Moskau entschieden, und die Moskauer Geschäftswelt hält die lokale Business-Elite auf Trab. Sogar bei kulturellen Themen lassen es sich die Moskauer Behörden nicht nehmen, ein Wörtchen mitzureden. 2015 entließ Kulturminister Medinski den Direktor des Opern- und Ballett-Theaters Nowosibirsk nach einer Affäre um eine Inszenierung von Tannhäuser, die offenbar zu riskant geraten war. Nach den Protesten von 2011 und 2012 verstärkte sich der Druck auf die Nowosibirsker Oppositionellen deutlich, die gezeigt hatten, dass nicht nur Moskau und Sankt Petersburg imstande sind, große Demos zu veranstalten. Die Aktivsten und Widerständigsten wurden praktisch aus der Stadt verdrängt, und Nawalny ist in Nowosibirsk immer mit schwierigen Arbeitsbedingungen konfrontiert.
Konformität und Mittelmaß
Der Stadt, in der die Beliebtheit der Regierungspartei nie durch die Decke ging und die Kommunisten immer stark waren, gilt immer die besondere Aufmerksamkeit des föderalen Zentrums. Moskau versucht in allen Nicht-Moskau-Städten des Landes Konformität und Mittelmaß zu erreichen.
Besonders ist wohl, dass die Struktur des russischen Föderalismus gerade in Sibirien besonders deutlich sichtbar ist. Alle großen Städte liegen ziemlich weit voneinander entfernt und sehen sich nicht gegenseitig an, sondern schauen in Richtung Moskau. Je weiter im Osten des Landes, desto stärker zeigt sich das. Aufgrund fehlender politischer Befugnisse und wirtschaftlicher Chancen agieren die Städte und Regionen nicht miteinander, die Konkurrenz zwischen ihnen ist minimal – dabei könnte gerade sie dem Russland außerhalb des Moskauer Autobahnrings den nötigen Kick zum Aufschwung geben.
Moskau ist für Nowosibirsk als Stadt am einfachsten zu verstehen und zu erreichen – jeden x-beliebigen Tag gehen 14 Flüge dorthin. Von Nowosibirsk aus in eine Stadt westlich von Jekaterinburg zu kommen, ohne das Dreieck Scheremetjewo-Domodedowo-Wnukowo zu streifen, ist praktisch unmöglich – zumindest, wenn Sie nicht einen ganzen Tag oder länger die Innenausstattung der neuen Wagen der russischen Eisenbahn studieren wollen. Die Verbindung nach Kasan zum Beispiel ist von Nowosibirsk aus entweder einmal pro Woche ein traurig-einsamer und teurer Flug, oder führt, und dann mit flexiblen Zeiten, über Moskau.
Vereinzelte Oasen der Zivilisation
Man kann versuchen, das althergebrachte Modell zu akzeptieren, in dem alles über Moskau läuft und in dem Moskau bestimmt, wie die Städte östlich des Urals zusammenspielen. Man kann sich darauf einigen, dass Moskau den Löwenanteil der Einkünfte durch die in Sibirien geförderten Rohstoffe kassiert, dass der Gewinn Moskau angerechnet wird und es nur einen kleinen Teil davon Sibirien abgibt. Dann soll Moskau aber auch bitteschön einen klaren Entwicklungsplan für diese Gebiete vorlegen oder ihnen mehr Freiheit gewähren. Doch während Russland sich durch die Krim „großwächst“, bleiben gigantische Gebiete im Norden Eurasiens unterentwickelt und schwer durchschaubar. Vereinzelte Oasen der Zivilisation – große Städte, die im 21. Jahrhundert leben, mit Craft-Bier und schnellem Internet – ziehen mehr und mehr neue Bewohner aus dem tiefsten Sibirien an, wodurch diese ohnehin schon rar besiedelten Gebiete Russlands komplett veröden. Also was schlägt Moskau vor?
Offenbar bleibt die wichtigste Idee der letzten Jahre die Hinwendung zum Osten, die in Moskau vielleicht als geopolitisches Manöver verstanden wird, das das Ziel hat, die Außenbeziehungen zu diversifizieren. Von Nowosibirsk aus wirkt das wie eine banale Verlegung einer Leitung nach China und nach einer Anbindung der gesamten Region an ein einzelnes Land südlich von Sibirien.
Erinnerungen an eine glänzende Zukunft
Wenn Moskau so allmächtig ist, dass es gleichzeitig das syrische Volk retten, eine Brücke zur Krim bauen und gegen die Hegemonie der USA ankämpfen kann, warum fügt es dieser Liste nicht auch die bescheidene Aufgabe hinzu, seine eigenen Gebiete zu entwickeln? Natürlich streben diese Territorien nicht aus Russland hinaus – von Separatismus ist in Sibirien nichts zu spüren – aber ganz bestimmt werden sie nicht zu dem Schatz, durch den sich ganz Russland laut Prophezeiung Lomonossows großwachsen sollte. Einzelne Versuche, im Fernen Osten Territorien der vorauseilenden Entwicklung anzuleiern und ähnliche Projekte blieben an derselben Stelle hängen wie Medwedews Modernisierung – als Erinnerungen an eine glänzende Zukunft.
Die einzige Chance auf Entwicklung besteht darin, den sibirischen Regionen als solchen mehr Freiheit zu geben, sich um die Gebiete zu kümmern, die Russland zum größten Land der Welt machen. Keineswegs muss Sibirien zu den Vereinigten Staaten Sibiriens gemacht werden – es genügt, den Regionen zu gestatten, etwas mehr Einkünfte in ihren Budgets zu belassen, die Steuern zu senken, Möglichkeiten zu privaten Initiativen zu erweitern und sich dem beträchtlichen Kreis potenzieller Investoren zu öffnen.
Wie Wladislaw Inosemzew richtig bemerkte, liegt östlich von Russland nicht China, sondern Japan, die USA und Kanada – und daher ist Russlands Orientierung nach Osten eine Orientierung in den Westen. Wenn das heutige außenpolitische Paradigma unverändert bleibt, entwickeln wir uns zum kleinen Bruder Chinas. In Nowosibirsk ist besonders stark spürbar, dass unser gemeinsames Zuhause Großeuropa ist, und nicht Großasien.
Einstweilen bleibt Nowosibirsk, wie auch den anderen Städten Sibiriens, nichts anderes übrig, als fast im Flüsterton zu sagen: „Sie sind hier nicht in Moskau“, ohne sich wirklich darüber im Klaren zu sein, was genau hier entstehen kann. Und das werden wir garantiert nie erfahren, solange Sibirien keine Chance bekommt, sich vollwertig als Sibirien wahrzunehmen und nicht nur als ein Territorium östlich des Urals.