Nach den zahlreichen Konzertverboten Ende 2018 sagte Wladimir Putin, dass diese kontraproduktiv seien, sie hätten „genau den gegenteiligen Effekt wie erwartet, so viel steht fest.“ Wenn man den Erfolg an den Klickzahlen festmacht, dann hat die gesellschafts- und kremlkritische Musik im Jahr 2019 in der Tat einen regelrechten Boom erlebt. Die Gegenkultur wurde damit ein Stück weit Mainstream.
Ist der Erfolg der Gattung auf die Verbote zurückzuführen? Oder sind etwa die üblichen Kommerzialisierungs-Mechanismen der Musikindustrie dafür verantwortlich?
Während Soziologen und Musikkritiker über solche Fragen nachsinnen, hat die Colta-Redaktion traditionsgemäß die besten Alben des Jahres gekürt. Protestmusik darf hier natürlich nicht fehlen, in den Top-12 findet sich aber ein bunter Mix: von Rap mit Punchlines à la deine Mudda bis zum feingeistigen Jazz.
1. Rap des Jahres
Scriptonite
2004
Nach seinem kryptischen Doppelalbum Uroboros, in dem es darum geht, dass Ruhm und Erfolg eine schwere Bewährungsprobe sind, verkündete Adil Zhalelov, er wolle sich aus dem Rap zurückziehen, weil er damit nichts mehr zu sagen habe. Und tatsächlich widmete er sich zunächst völlig anderen Dingen – experimentierte in seiner Band Scriptonite mit lateinamerikanischen Vibes und produzierte Alben von Künstlern seines eigenen Labels Musica36. Umso mehr schlägt 2004 ein, das kurz vor Jahresende erschien. Der Form nach ist es ein typisches Rap-Album wie zu Beginn der 2000er Jahre: mit Selbstdarstellungen, Skits, Interludes und sogar versteckten Angriffen auf die Kollegen der eigenen Zunft. Um es richtig zu würdigen, muss man die von Scriptonite im Sprachmix der wilden Vorstädte geschriebenen sarkastischen Texte Zeile für Zeile auseinandernehmen – dann erweist sich diese Zusammenstellung makellos klingender, betörend grooviger Rap-Hits als eine Sammlung von Geboten für die Gerechten.
2. Antiutopie des Jahres
Delfin
Krai
Das Album Krai (dt. Rand) lässt sich auf unterschiedliche Weise interpretieren, ebenso wie sein mehrdeutiger Titel und das enigmatische Cover. Am leichtesten erkennt man darin die Reaktion des Bürgers und Dichters Andrey Lysikov auf die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse des vergangenen Jahres bis hin zum Moskowskoje Delo. Delfin zufolge sind die Lieder jedoch schon lange vor den besagten Ereignissen entstanden, außerdem entspräche es nicht seiner Art, Lieder über das aktuelle Zeitgeschehen zu schreiben. Allem Anschein nach haben wir es mit einem Beispiel künstlerischer Vorahnung zu tun, und wenn die Realität weiterhin das in Krai beschriebene Szenario abbildet, haben wir 2020 nichts Gutes zu erwarten – es ist ein böses und verzweifeltes Album: Eine Antiutopie, in der junge, ungestüme Herzen zu Kanonenfutter werden. Allerdings verbirgt sich in Krai auch die Antwort auf die Frage, wie man in dieser Hölle überleben kann.
3. Non-standard Jazz des Jahres
Makar Novikov & Hiske Oosterwijk
Stereobass
Das Sankt Petersburger Jazzlabel Rainy Days, 2018 vom Schlagzeuger Sascha Maschin gegründet, nahm 2019 so richtig Fahrt auf und brachte eine Reihe von Alben heraus, die von den renommiertesten Kennern auf diesem Gebiet hoch gelobt wurden. Stereobass, eingespielt von den KontrabassistInnen Makar Novikov und Daria Chernakova und der holländischen Sängerin Hiske Oosterwijk gehört zu jenen Alben, die auch für Menschen, die nicht jeder Entwicklung des Genres folgen, verständlich und interessant sind. Denn es handelt sich um eine seiner traditionellsten Spielarten – den Vocal Jazz, allerdings in modernster Form. Makar Novikov hat die markanten Melodien der Lieder von Hiske Oosterwijk über ein raffiniert konstruiertes rhythmisches Gerüst gespannt, das über zwei Stereokanäle erklingt (ein Kontrabass ertönt von links, der andere von rechts). Daneben verleihen die filigranen Soli des Pianisten Alex Iwannikow und die explosiven Beats von Sascha Maschin den Liedern eine feine Dramaturgie. Stereobass ist Vocal Jazz, wie man ihn sich für das 21. Jahrhundert wünscht.
4. Comeback des Jahres
Alyans
Chotschu letat (dt. Ich will fliegen)
Dieses Album der Moskauer Neo-Romantik-Pioniere Alyans hätte bereits Anfang der 2000er Jahre erscheinen sollen. Durch die jahrelange Reifezeit ist es wertvoller und interessanter geworden. Für diejenigen, die mit der Geschichte der Band vertraut sind, ist Chotschu letat (dt. Ich will fliegen) ein epochales Ereignis: Denn es handelt sich um die Reunion des Bandleaders von Alyans Igor Shurawljow mit dem Keyboarder Oleg Parastajew, dem Autor des größten Hits der Band Na sare (dt. Im Morgenrot) – nur dass diese ein paar Jahrzehnte länger als vermutet auf sich warten ließ. Ein zweites Morgenrot sucht man hier vergebens, aber es finden sich einige erstklassige Lieder wie der Titelsong, in dem wie in einer Zeitkapsel das Bittersüße der Romantik von Alyans bewahrt ist – der leidenschaftliche Wunsch zu Fliegen, gesteigert durch die Gewissheit, dass der Flug unweigerlich mit einem Fall enden wird.
5. Debüt des Jahres
Maslo tschornogo tmina
Kensshi
Maslo tschornogo tmina (dt. Schwarzkümmelöl) folgt der Linie des kasachischen Rap. Das Projekt des in Karaganda lebenden Aidyn Sakarija hat tatsächlich eine Hip-Hop-Genealogie und einen Sound, der an einige Scriptonite-Tracks erinnert. Doch das ist nur der Ausgangspunkt, und aus Kensshi wird deutlich, dass Sakaria einen anderen Weg einschlägt – irgendwo Richtung britischer Trip-Hop zwischen Portishead und King Krule: verdichtete Melancholie, langsame ausgedünnte Beats, ein somnambuler Bass, bittere Reime, suggestive Bilder, Jazz-Samples und das Rascheln der Nadel auf der Vinyl-Schallplatte. Mit seinen effektvollen Sound- und Textleerstellen ähnelt Kensshi der faszinierenden Skizze eines großartigen Albums, das noch folgen wird. Und was will man mehr von einem Debüt?
6. Widerspruch des Jahres
Shortparis
Tak sakaljalas stal (dt. So wurde der Stahl gehärtet)
Der Titel dieses Albums lässt sich durchaus auch auf die Geschichte von Shortparis selbst übertragen – es scheint, dass keine andere aktive russische Band so polarisiert und so heftige Diskussionen hervorruft, was die Methoden angeht. Nur wenige können von sich behaupten, gleichzeitig als größter Hoffnungsträger und absolute Luftnummer unserer Zeit bezeichnet zu werden. Doch für Shortparis ist es normal, den einen wie den anderen Ruf gleichzeitig für sich zu beanspruchen. Im Prinzip ist die Arbeit mit schärfsten Widersprüchen eine der wichtigsten Fähigkeiten von Shortparis: Kaum einer kann so geschickt Folk und Industrial, Straßenjargon und ästhetisches Drama, zutiefst persönliche und verallgemeinerte soziale Aspekte miteinander verbinden, ohne dabei direkte Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu geben.
7. Gipfelglück des Jahres
AIGEL
Edem (dt. Eden)
Aigel Gaissina kehrt nach Hause zurück und findet dort Inspiration für AIGELs eindringlichstes und emotional aufgeladenstes Album. Auf Musyka (dt. Musik), dem zweiten Album, hatte das Duo Aigel Gaissina und Ilja Baramija sich an vielen verschiedenen Themen gleichzeitig versucht und ein wenig die generelle Richtung aus den Augen verloren. Edem korrigiert den Kurs selbstbewusst: Es ist ein Album über Wurzeln und Verästelungen, darüber, wo man anfängt und wie man etwas fortschreibt, wenn man unweigerlicher Teil davon ist. Diese für jeden Menschen äußerst wichtigen Themen treiben AIGEL an. Wie ein persönliches Gipfelglück des Dichters und der Sängerin entpuppt sich Edem sowohl stimmlich als auch textlich als ein absolutes Feuerwerk.
8. Therapie des Jahres
Kira Lao
Trewoshny opyt (dt. Beunruhigende Erfahrung)
In den vier Jahren, die zwischen Trewoshny opyt und dem vorangehenden Album Woda (dt. Wasser) von Kira Lao liegen, hat sich für Kira Wainstein vieles verändert: darunter zum Beispiel der Wechsel vom Status einer Band-Sängerin zu einer Solokünstlerin. Trewoshny opyt ist zugleich ein Tagebuch dieser schwierigen Zeit und der Versuch, das Blatt zu wenden und alle Schwere von Innen nach Außen zu kehren. Das Kunststück der Erfahrung liegt darin, dass Kira für Unruhe und Chaos, für Zweifel und Ängste nicht nur Worte, sondern auch eine musikalische Sprache findet. Das Ergebnis ist eine Session in experimenteller Klangtherapie, in der sich, denke ich, jeder erwachsene Hörer wiederfindet. Das Experiment funktioniert also nicht nur für die Künstlerin selbst, sondern für uns alle.
9. Retro des Jahres
Inturist (dt. Ausländischer Tourist)
Ekonomika (dt. Ökonomie)
Das zweite Album der Art-Jazz-Post-Punk-Formation von Jewgeni Gorbunow zeugt von unbeirrter und sinnvoller Arbeit an sich selbst. Ekonomika poliert den absurden Retrosound des ersten Albums Komandirowka (dt. Geschäftsreise) wunderbar auf und verbannt gleichzeitig kompromisslos die ihm innewohnenden Längen und Unschärfen. Im endlosen Netz der lärmenden Instrumentalimprovisationen muss der Inturist sich nicht mehr zurechtfinden – auf dem Album Ekonomika weiß die Band genau, was sie zu tun hat, und fliegt als leuchtender Pfeil in die richtige Richtung.
10. Hilferuf des Jahres
Foresteppe
Karaul
Noch eine Chronik einer beunruhigenden Erfahrung: Jegor Klotschichin hat Wehrdienst bei den Raketentruppen geleistet und unter dem Eindruck dieser Phase seines Lebens ein Album aufgenommen. Es verwundert nicht, dass Klotschichins selbstgemachter pastoraler Ambient-Sound auf dieser Platte düsterer und angespannter, unruhiger und scharfkantiger daherkommt. Es ist anzunehmen, dass sich in diesem Jahr viele Menschen ungefähr so gefühlt haben, deren persönliche Utopie durch die Ereignisse in den Fenstern ihrer Browser als auch beim Blick aus dem echten Fenster neue, beunruhigende Schattierungen annahm.
11. Dancefloor des Jahres
Samoe Bolshoe Prostoe Chislo (dt. Die größte Primzahl)
Nawernoje, totschno (dt. Wahrscheinlich, genau)
In den letzten gut zehn Jahren hat sich die Band von Kirill Iwanow bis zur Unkenntlichkeit verändert und ihre Musik immer wieder neu erfunden. Das Album Nawernoje, totschno gehört in die letzte Etappe dieser endlosen Transformation: Ein Gründungsmitglied, Ilja Baramija, hat die Band endgültig verlassen, um sich auf das Duo AIGEL zu konzentrieren. Dafür ist die Sängerin Jewgenija Borsych der Band beigetreten und hat die zweite, manchmal auch die Lead-Stimme übernommen. Der Idee nach macht SBPC das Gleiche wie auf den beiden vorherigen Alben: Lieder für junge tanzwütige Beine, die den besten Beispielen grooviger Musik folgen – von Old-School-Hip-Hop bis Afrobeat – aber auch für erwachsene Köpfe und Herzen: Die Texte von Kirill Iwanow sind es wie immer wert, in Aphorismen zerlegt zu werden, die unsere Wirklichkeit im Hier und Jetzt beschreiben.
12. Kooperation des Jahres
Sojus
II
Die Minsker Gruppe Sojus hat den Ruf eines Ensembles, das Musik für Musiker macht. In der Tat hört das geschulte Ohr in den makellos gespielten Stücken zahlreiche musikalische Referenzen – vom brasilianischen Samba bis zum äthiopischen Jazz; dazu geschickt, subtil, und auf einzigartige Art und Weise miteinander verwoben. Es ist sicher kein Zufall, dass Sojus auf seinem zweiten Album bei zwei Songs von den Moskauer Bands Pasosch und Inturist unterstützt wird, die einen völlig anderen kreativen Ansatz verfolgen. Man kann nur hoffen, dass es in Zukunft noch mehr solcher Kooperationen geben wird.
Original: Colta
Übersetzung: Henriette Reisner
Veröffentlicht am 07.01.2020