„Wir haben von einem Wunder geträumt
Durch die Poesie ins Leben zurückzukehren!
Nur sind Gedichte wie Menschen,
Die wenigsten sind unsterblich.“1
Im Januar 2023 veröffentlicht das Projekt Posle Rossii (After Russia) in Erinnerung an die Vertreibung russischer Intellektueller in den 1920er Jahren ein Album mit ihren neu vertonten Gedichten. In 16 Liedern ehren zeitgenössische Künstler:innen die Poesie der sogenannten unbemerkten Generation, die im Exil größtenteils ein kulturelles Schattendasein führte. Ein ähnlicher Exodus Kulturschaffender passiert auch seit dem Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine. Zahlreiche Regisseur:innen, Autor:innen und Musiker:innen haben Russland aus Protest oder wegen politischer Verfolgung verlassen. Dazu gehört auch Noize MC, der für Posle Rossii das Gedicht Parnassus des Dichters Sergej Bongart interpretiert hat. Mit seinen von der Polizei aufgelösten Konzerten und den auch im Exil ausverkauften Hallen bringt Noize MC russischsprachige Menschen zusammen, die sich in der Grausamkeit der Gegenwart verloren haben – und hilft ihnen dabei, wieder von Wundern zu träumen.
Moskau, November 2019: Noize MC auf dem Red Bull SoundClash in der Arena des ZSKA / Foto © Gavriil Grigorov/TASS, imago-images
Während die ersten russischen Panzer in die Ukraine einrollen, veröffentlicht Noize MC ein neues Video zum Song Na Marse Klassno (dt. Es ist großartig auf dem Mars).2 Das Antikriegs-Lied erzählt von einer Zivilisation auf dem Mars, nachdem ein Atomkrieg die Erde ausgelöscht hat. Im Instagram-Post dazu schreibt Noize, heute sei es wichtiger denn je, ehrlich zu fixieren, was gerade passiere. Und genau zwischen jenem Fixieren des Gegenwärtigen und der Politisierung von Musik liegt die Tätigkeit des Künstlers, der nicht in Selbstmitleid versinken, sondern „das Unmögliche“ wagen will.3 Er will nicht unsterblich sein, sondern die durch das Putinsche Regime atomisierten Menschen wieder zusammenführen.
MC Staatsfeind
In der Heimat machen ihn solche Aussagen zum „MC Staatsfeind“, wie das deutsche Magazin fluter 2017 titelt.4 Zu einem der größten russischen Protestrapper wird Iwan Alexejew – so Noize MCs bürgerlicher Name – spätestens in dem Moment, als er sich 2014 bei einem Konzert im Donbas spontan in eine ukrainische Flagge wickelt. Es folgen: Konzert-Verbote, vermeintliche Drogenrazzien und schließlich das Label „ausländischer Agent“. Doch mit dieser Gängelung durch den Staat ist Noize MC zu dem Zeitpunkt bereits vertraut. Schon 2010 veröffentlichte er mit Mercedes S666 einen Song, der den Unmut der Mächtigen nach sich zog. Atmosphärisch unterlegt mit Nina Simones Feelin’ Good rappt Noize unverblümt als lyrisches Ich des Lukoil-Vizepräsidenten Anatoli Barkow, der damals einen tödlichen Autounfall verschuldete und ungestraft davonkam.
Ich bin halt auf einem anderen Level, ein Wesen höherer Ordnung
Ich kenne keine Probleme, die man nicht mit Bestechung lösen könnte
Noch brisanter als der Liedtext war allerdings die Aufforderung an alle Zeugen, sich unter der Mailadresse stop_auto_murder@mail.ru zu melden. Im letzten Satz unter dem Video heißt es: „Die Schuldigen sollen unabhängig von ihrer finanziellen und sozialen Situation bestraft werden“. Damit prangert Noize MC ganz öffentlich das korrupte System an, für das Barkow steht und das die Kleptokraten pauschal in Schutz nimmt. Infolgedessen steht der Rapper plötzlich nicht mehr nur als Musiker, sondern auch als Person im Scheinwerferlicht des öffentlichen Lebens.
Rap gegen das Regime
Noize MC ist jedoch niemand, der sich leicht einschüchtern lässt. Alexejew, der schon früh zur Musik kommt – sein Vater ist selbst Musiker – gewinnt bereits im Jugendalter Preise für seine Kunst. Der am 9. März 1985 in Jarzowo in der Oblast Smolensk geborene Alexejew experimentiert immer wieder mit neuen Bands, bis er als Student in Moskau sein Rap-Ego Noize MC entwickelt und 2008 sein erstes Album herausbringt. The Greatest Hits: Vol.1 erfüllt die vollmundige Ansage seines Titels, wird zu einem der meistverkauften Alben des Jahres – und katapultiert den Debütanten in die erste Riege des russischen Raps.
Seither nutzt Noize MC seine Bekanntheit, um Missstände in Russland anzuprangern. Neben Mercedes S666 sticht auch Ljocha als einprägsames Beispiel hervor. Den Song veröffentlicht der Rapper im August 2019, als neuerliche Proteste für freie Wahlen ihren Höhepunkt erreichen. Er macht die brutale Polizeigewalt gegen die Demonstrierenden zum Thema und fängt mit seinem stakkato-ähnlichen, an ein Maschinengewehr erinnernden Rhythmus, pointiert den Moment ein:
Ljocha träumte im Kindergarten davon, Kosmonaut zu werden
Im Flecktarn-Raumanzug mit Schild, Maschinengewehr und Schlagstock
– Humanoiden zu verprügeln
Humanoiden – schon in der ersten Strophe weist Noize darauf hin, wie die Kreml-Propaganda Regimegegner entmenschlicht. Um dem entgegenzuwirken, gibt er dem Protest ein Gesicht, nimmt oft selbst an Demonstrationen teil und nutzt seine Popularität zur Mobilisierung. Zudem organisiert er Solidaritätskonzerte und verbreitet seine Botschaften auf Social Media. Auch seine zahlreichen Fans nutzen seine Videos und Postings als sozialen Kommunikationsraum. 5
Einer für alle
So kommentiert Noize MC auf YouTube unter seinem Song Stoletnjaja Woina (dt. Der hundertjährige Krieg): „Der hundertjährige Krieg dauerte [...] nicht 100, sondern 116 Jahre. Diese Kuriosität ist sinnbildlich: Jeder internationale bewaffnete Konflikt ist immer untrennbar mit einer ungeheuerlichen Faktenverzerrung verbunden ...“ Seine Ausführungen endet Noize mit einem einzigen, groß geschriebenen Wort: FRIEDEN. Er erhält darauf über 400 Antworten, die meisten davon: Danke.
Diese Reichweite ist Noize MCs wichtigstes Werkzeug im Kampf gegen das Regime. Der Rapper zählt zu den meistgehörten russischsprachigen Künstler:innen, seinem YouTube-Kanal folgen fast eine Million Abonnent:innen. Er selbst gibt an, er richte sich nicht nur an den starren nationalen Raum Russlands, sondern an alle, die ihn verstehen – ob durch Sprache, Kunst oder Emotion. Dass er nicht in ausverkauften Stadien spielt, sei eine bewusste Entscheidung – gegen die Karriere und für moralische Integrität.6
Denn sein kritisches öffentliches Auftreten ist nicht ungefährlich. Als im Januar 2021 eine Demonstration gegen die Verhaftung Alexej Nawalnys bei seiner Rückkehr aus Deutschland losbricht, befindet sich auch Alexejew unter den Protestierenden. Der Protest endet mit über 3000 Festnahmen.7 In einem späteren Interview mit dem beliebten YouTube-Moderator Juri Dud sagt er dazu: „[Meine Kinder] haben sich große Sorgen gemacht und mich gebeten, ‚Papa, geh nicht‘ [...], und ich hab ihnen erklärt: ‚Jungs, wenn alle so denken, geht niemand.‘“
„Es ist an der Zeit, die Mützen, Schals und Mäntel auszuziehen“
Mit dem Beginn des vollumfänglichen Angriffskriegs gegen die Ukraine gibt es deshalb für den Rapper nur noch zwei Optionen: Schweigen und mit irgendetwas anderem Geld verdienen – oder Gefängnis. Alexejew entscheidet sich für eine dritte Variante und zieht mit seiner Frau und seinen zwei Kindern nach Vilnius. Das Exil ermöglicht ihm eine neue Unabhängigkeit. Von nun an entscheiden nur noch er und seine Fans über sein Einkommen – ohne staatliche Einmischungen.8
Die veränderte Gegenwart hat für Noize MC eine neue Direktheit zur Folge. Zwar hat er nie vor offener – oft derber – Sprache zurückgeschreckt. Das illustriert zum Beispiel Is Okna (dt. Aus dem Fenster), wo er die russische TV-Landschaft mit einigen Flüchen bedeckt. Doch während er in Na Marse Klassno noch mit kodierten Inhalten starke Gefühle hervorrufen will, wendet er sich jetzt von der Ästhetik ab. „Es ist an der Zeit, die Mützen, Schals und Mäntel auszuziehen [...]“, sagt der Rapper im Interview mit Galina Jusefowitsch.9 Man müsse es den Menschen heute einfacher machen, sich nicht mehr hinter komplizierten Worten zu verstecken.
Ein Teil dieser neuen Direktheit zeigt sich auf der Solidaritätstour Voices of Peace. Gemeinsam mit der russischen Künstlerin Monetotschka sammelt er über 300.000 Euro für die Ukraine. Ohne Schlenker und Verzierungen sprechen sich die beiden gegen den Krieg aus: „Ich werde [das Friedenszeichen] zeigen, bis sie mir die Hände hinter dem Rücken festbinden“, erzählt Alexejew der Menge während eines Konzerts in Warschau. Die Menschen aus der Lethargie holen, in der Gegenwärtigkeit verankern und sie aktivieren – Noize MC gelingt diese Aufgabe auch im Exil. Seine Konzerte verbinden nicht nur Fans, sondern Russ:innen, Belaruss:innen und Ukrainer:innen, die sich in seinen Texten gemeinsam wiederfinden.
Die Kunst, über und gegen den Krieg zu sprechen
In Noize MCs Auftritten spiegelt sich das widerständige, Grenzen überwindende Potential von Hip-Hop in Russland. Als Poesie der Gegenwart füllt er die Rolle der Protestmusik,10 die zu Sowjetzeiten von Rocklegenden wie Viktor Zoi getragen wurde. Rap hat durch seine Performativität jedoch nicht nur das Augenblickliche, das ekstatische Leben im Moment mit dem Russki Rock gemein. Er zieht ebenso ein Millionenpublikum an, entzieht sich oft staatlicher Kontrolle und erhebt den Anspruch, für eine bessere Zukunft einzustehen. Damals wie heute rüttelt die Musik am Thron der Mächtigen und verunsichert sie, bis sie verboten wird.
Auch die Anfänge von Rap haben diesen widerständigen Charakter: Als Teil der Hip-Hop-Kultur entsteht er in den 1970er Jahren als Party-Musik und Gegenkultur zum bis dato überwiegend weißen Musikgeschäft in der New Yorker Bronx. In den 1980er Jahren setzen sich schließlich die gesellschaftsrelevanten Themen durch. Ähnlich entwickeln sich Noize MC und andere russische Künstler:innen. Oft verlieren sie dabei die Leichtigkeit ihrer Anfänge: Findet man als Zuhörer:in auf The Greatest Hits: Vol.1 noch viele lustige und ironische Lieder, sind diese auf seiner neuesten Platte Wychod is Goroda (dt. Ausgang aus der Stadt) kaum mehr vorhanden.
In dem ewigen Dilemma zwischen Kunst und Politik fordert der Krieg die Kunst förmlich heraus, er verlangt ihre Neudefinition und Stellungnahme. Mit ihrer Lyrik versuchen die Künstler:innen, die Gewalt zu verarbeiten; zu fassen, was unfassbar ist.
Verloren im Orbit
Dass der Kampf gegen das Regime isoliert, zeigt sich in Noize MCs 2020 erschienenen Song Voyager 1. Dort bezeichnet er sich selbst als ungebetenen Gast, dessen Rufe an die Erde verhallen. Und rappt weiter:
Und keilförmig bündelt sich das Licht
Auf einen fernen Punkt, dort, ganz hinten
Auf den besten aller möglichen Planeten
Doch er ist schon lange weg, man kann ihn nicht mehr finden
Die Hoffnung auf Wunder und eine bessere Welt hat Noize MC mit Sergej Bongart gemein. Voyager 1 – und damit stellvertretend der letzte vernünftige Mensch – entfernt sich immer weiter vom „besten aller möglichen Planeten“. Noize stellt damit klar: Eine lebenswerte Gegenwart gibt es in Russland nicht mehr.
Zwei Jahre nach Veröffentlichung erhält der Song neue Aktualität. Durch den Krieg werden viele Künstler:innen und Kulturschaffende aus Russland herauskatapultiert und können auf ihre Heimat nur noch als weit entfernten Punkt blicken. Noize MC verleiht diesen Entfremdeten eine Stimme: in seiner Musik, auf der Bühne und im Netz. Er zeigt, dass die gewaltvolle Gegenwart eine neue künstlerische Verarbeitung braucht. Vor 100 Jahren – und heute auch.
1.Bongart, Sergej/Noize MC: Parnassus, zit. nach: after russia 100: Sergei Bongart ↑
2.instagram.com: noizemc ↑
3.zit. nach FAZ.net: Kummer ist der Anfang des Menschhseins ↑
4.fluter.de: MC Staatsfeind ↑
5.Denisova, Anastasia/Herasimenka, Aliaksandr (2019): How Russian Rap on YouTube Advances Alternative Political Deliberation: Hegemony, Counter-Hegemony, and Emerging Resistant Publics, in: Social Media + Society, 5(2) ↑
6.youtube.com/@vdud: Noize MC – The war and new life ↑
7.dw.com: 3000 Festnahmen bei Nawalny-Protesten ↑
8.Meister, Katarina (2023): Civic Activism Strategies of Russian Protest: Musicians after February 24, 2022, in: Russian Analytical Digest, 291, S. 12-16, hier S. 12 ↑
9.youtube.com/@YuzefovichProject: Noize MC* o Pelevine, Majakovskom, sovremennoj poėzii, muzyke i vospitanii detej v ėmigracii ↑
10.Liebig, Anne (2020): No Face, No Case: Russian Hip Hop and Politics under Putinism, in: FORUM: University of Edinburgh Postgraduate Journal of Culture & the Arts. No. 30 ↑