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Playlist: Best of 2018

Die besten russischen Interpreten des Jahres 2018 – ein Ritt durch die Genres. Eine Auswahl der Colta-Redaktion: subjektiv, überraschend, jung.

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LEITMOTIV DES JAHRES

Verbotene Lieder

2018 sind in Russland erneut verbotene Musik und schwarze Listen von Musikern aufgetaucht, ganz nach Vorbild der UdSSR 1984. Diverse Machtinstanzen, angefangen bei städtischen Verwaltungen und regionalen Staatsanwaltschaften bis hin zu den Ermittlungsbehörden der Russischen Föderation, haben sich der Analyse populärer Songs auf VKontakte verschrieben, haben nach Propaganda für Suizid, Extremismus, Drogen und sogar Kannibalismus gesucht und als präventive Maßnahme schlicht „per Telefon“ Konzerte abgeblasen.

Unter den Opfern fanden sich Poschlaja Molli (dt. „Gemeine Molli“), Friendzona, Monetotschka (dt. „Kleine Münze”), Allj, Gunwest, Jah Khalib, Matrang, Husky und IC3PEAK – diese völlig unterschiedlichen Künstler waren gezwungen, ihre Auftritte abzusagen oder zu unterbrechen und wurden von der Polizei festgehalten und gefilzt.

Das einzige, was diese Musiker verbindet, ist wohl ihre Beliebtheit bei der Generation VKontakte und die Beunruhigung, die bei der älteren Generation ausgelöst wird durch ihren Einfluss auf die jungen Gemüter; diese ältere Generation fordert nun im Namen aller Eltern in ganz Russland, [die Jugend] „abzuschirmen und zu beschützen“. Dafür bedient sie sich so traditioneller wie ineffektiver Methoden: Denunziation und Druck, die in polizeiliche Willkür münden.

Der Grad an Besorgnis ist dermaßen ausgeartet, dass man sich angesichts der zersetzenden Kraft der neuen russischen Popmusik, die laut den Beschwerdeführern auf den Säulen „Sex, Drogen und Protest“ ruht, mit dem Präsidenten der Russischen Föderation beriet. Der bemerkte weise, es sei zwecklos, Konzerte zu verbieten – wenn man die Bewegung nicht aufhalten könne, müsse man sie organisieren und lenken. Damit ist der Staatsauftrag für korrekte, ideologisch reine, sterilisierte und fettfreie Popmusik bereits formuliert; warten wir also ab, wie die wachsamen Veteranen des Showbiz und die Funktionäre des Kulturministeriums ihn im neuen Jahr umsetzen werden.


KONZERT DES JAHRES

Soli-Konzert für Husky: Ich werde meine Musik singen im GlawClub Green Concert

Die breiteste Medienresonanz in der Reihe der Konzertabsagen und -verbote hat der Fall Husky ausgelöst. Husky alias Dimitri Kusnezow hatte auf die Provokation durch die Polizei reagiert und sich in Krasnodar zwölf Tage Haft wegen „geringfügigen Rowdytums“ eingehandelt – dadurch konnte er die russische Rap-Szene hinter sich vereinigen. 

Das Solidaritätskonzert Ich werde meine Musik singen, das [seine Rapper-Kollegen] Oxxxymiron, Noize MC und Basta daraufhin auf die Beine stellten, war schon wenige Stunden nach den ersten Ankündigungen ein historisches Ereignis: Die Tickets waren im Nu ausverkauft, die Kasseneinnahmen in Höhe von sechs Millionen Rubel flossen in die Hilfe für Husky, die Strafe wurde infolge des ganzen Rummels überprüft und der Rapper sogar wieder freigelassen. 

Das Soli-Konzert hat gezeigt, dass russische Musiker durchaus in der Lage sind, für sich und das Recht auf Meinungsäußerung einzustehen, wenn sie es schaffen, an einem Strang zu ziehen.


NACHWUCHS DES JAHRES: SONGWRITING

Monetotschka: Raskraski dlja Wsroslych (dt. „Ausmalbilder für Erwachsene“)

Die Jugend (und das Äußere) der aktuellen Interpreten und vor allem Interpretinnen – vor allem das hielt die Beobachter der inländischen Popkultur in diesem Jahr beschäftigt. Das zweite Album von Monetotschka alias Lisa Gyrdymowa ist wohl das bestartikulierte Argument dafür, der Jugend so oft wie möglich das Recht auf ihre Stimme zu geben: Das Album ist zeitkritisch, brandaktuell, witzig, weise, sanft, treffsicher und zu hundert Prozent von heute.

 


NACHWUCHS DES JAHRES: TEXTE


Lizer: Teenage Love
GONE.Fludd: Supertschuits

Auch die hippe russische Rapszene verjüngte sich in diesem Jahr rasant: Die erdrückende Mehrheit der lautesten und herausragendsten Rap-Platten des Jahres kam von Künstlern um die zwanzig. Am liebsten mögen wir diese zwei Jungs, die beide von ihrer eigenen individuellen Seite ins Rap-Spiel eingestiegen sind. Lizer hat der leicht miefigen machohaften Welt des russischen Rap eine jugendlich-anrüchige, geradlinige Aufrichtigkeit eingehaucht, GONE.Fludd hat ihr die verrückten Farben psychedelischer Fantasien verpasst und dabei eine ganz eigene Sprache erfunden.


COMEBACK DES JAHRES

Yury Chernavsky: Woswraschtschenije na Bananowyje Ostrowa (dt. „Rückkehr auf die Bananeninseln“)

Ohne Yury Chernavsky – den ersten Produzenten der UdSSR – wäre die auch so nicht gerade farben- und stilfrohe russische Popszene noch weitaus ärmer. Wie großartig und symbolisch, dass sich der Maestro, der längst in den USA lebt, zum 35. Geburtstag seines Kultalbums Bananowyje Ostrowa erstmals wieder der russischen Öffentlichkeit präsentierte.


ROOTS DES JAHRES

Abstraktor: Abstraktor

Konservatorium umarmt Kornfeld (oder umgekehrt). Im Bandnamen des Woronesher Trios Abstraktor trifft „Abstraktion“ auf „Traktor“, während in ihrer Musik kompositorischer Post-Jazz auf Folk trifft – und was dabei herauskommt, ist unfassbar ansteckend und lebendig. Nein, echt, das ist, als würdest du selbst übers Feld laufen, deine Hände fahren durch die Ähren, und der vom Wald herüberwehende Wind lässt Haar und Hemd aufwirbeln.


KAMPF DES JAHRES

Posory: Dewitschje gore (dt. „Schande“: „Das Leid der Mädchen“)

Die Girls schlagen zurück – zornig, laut, kompromisslos, hinreißend. Das Debüt-Minialbum des Trios aus Tomsk betritt das (leider brandaktuelle) Schlachtfeld der Geschlechter erhobenen Hauptes, mit geballten Fäusten und der Bereitschaft, sofort und mehrfach jedem eine reinzuhauen, der ihnen Steine in den Weg legt – und das klingt so gerecht und hammermäßig, dass man unmöglich nicht aufstehen und mitlaufen kann.


BEGEGNUNG VON VERSTAND UND TANZ DES JAHRES


Kate NV: Dlja/For
GSch: Polsa (dt. „Nutzen“)

Diese zwei Alben klingen vielleicht nicht unbedingt ähnlich – auf dem einen spielt impressionistischer Ambient mit Klängen, auf dem anderen donnert architektonisch ausgefeilter Indie-Rock mit Gitarren. Und doch haben diese beiden Projekte, vereint in der Person von Katja Schilonossowaja, etwas gemeinsam – allem voran das Vermögen, sich bei aller formellen intellektuellen Strenge der Musik dem Leben und der Freude, der Sonne und dem Tanz zu öffnen. Blendend.

[video:]


DIE HOFFNUNGEN DES JAHRES

Die „Neue russische Welle“ im Ausland

2018 verlässt uns mit dem Gefühl, dass die russischen Musiker keine Angst vor dem neuen Eisernen Vorhang haben, der zwischen Russland und dem Rest der Welt durch die Außenpolitik des Landes und die Wirtschaftssanktionen errichtet wird.

Trotz der unvorteilhaften Medienumgebung und den unvermeidbaren Übersetzungsproblemen nimmt der Westen unser Produkt mit großem Interesse auf. Die ausländische Musikpresse schreibt plötzlich begeistert von einer „Neuen russischen Welle“ – zum ersten Mal seit dem Roten Rock der Perestroika-Zeit. Und sie haben allen Anlass dazu: Die internationalen Erfolge von Kate NV, GSch, Shortparis, Kedr Livanskiy und selbst der Meme-Hit Skibidi von Little Big lassen hoffen, dass der Prozess der kulturellen Integration gerade erst an Fahrt aufnimmt.


RITT DES JAHRES

Pognali: Ty w porjadke (dt. „Auf gehts!“: „Du bist in Ordnung“)

Pognali machen Rockmusik, die so erschütternd klar ist, als käme sie geradewegs aus den 1968ern zu uns – noch bevor die Gigantomanie des Progressive Rock mit ihren lauten E-Gitarren die Musik überwuchert hat und wir uns wie mit einer Elektroschockbehandlung mit dem Primitivismus des Punk davon reinwaschen mussten.

Das ist wahrscheinlich der größte Triumph des Albums – hier erklingt Musik, die man vom Aufbau her instinktiv dem Classic Rock zuschreiben will, doch dabei hat sie nichts von all dem unangenehmen Gepäck, das sich über fünfzig Jahre darin angesammelt hat: dem Konservatismus, dem Macho- und Posergehabe. Nur ausgelassene Virtuosität und reine, glückselige Energie.


MUSICAL DES JAHRES

Leto

Kirill Serebrennikow hat mal wieder ins Schwarze getroffen: Der auf wahren Begebenheiten basierende Musikstreifen Leto hat unglaubliche Resonanz bekommen und das Publikum maximal polarisiert. Dabei ist das Skandalpotential der Geschichte strenggenommen minimal – ein platonisches Techtelmechtel aus einem Sommer im fernen Jahr 1981. Aber weil in das Liebesdreieck zwei Helden des russischen Rock verstrickt sind – der Heilige (Viktor Zoi) und der Kultstar (Mike Naumenko) – hat der Film niemanden kaltgelassen.


INFERNO DES JAHRES

Jars: Dshrs II

„Sabotiert alles!“, schreit sich die Moskauer Band Jars die Lunge aus dem Hals, während dazu der Bass ohrenbetäubend dröhnt, die Gitarre heult und kreischt und das Schlagzeug scheppert wie ein Metro-Waggon, der über deinen Kopf rast. Der blindwütige Noise-Rock von Jars wirkt so ähnlich wie ein Molotowcocktail, der in deinem Gesicht landet – schlag zu, renn, brüll, schüttel dich in Krämpfen, tu, was du willst, aber vergiss keine Sekunde, dass du immer noch kategorisch und voller Wut am Leben bist.


Übersetzung (gekürzt): Jennie Seitz
Veröffentlicht am 08.01.2019

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Hip-Hop in Russland

Am Anfang war das Wort, und das Wort war Rap. Das etwa 25-minütige Programm Rap von DJ Alexandr Astrow und der Gruppe Tschas Pik (dt. Stoßzeit) gilt als erste russischsprachige Rap-Aufnahme, die 1984 im Nachtclub Kanon in Samara erklang. Musikalisch lehnte es sich stark an Rapper’s delight der US-amerikanischen Gruppe The Sugar Hill Gang (1979) an. Textuell bietet es vor allem eine scherzhafte Reflexion, ob Rap auf Russisch überhaupt möglich ist.

Auch wenn eine Antwort damals alles andere als selbstverständlich war, entwickelte der russische – oder eher russischsprachige – Hip-Hop, im Gegensatz zu der Anpassung an US-amerikanische Formen in den frühen Jahren, allmählich eine eigene stilistische und musikalische Identität. Heutzutage steht er als ein eigenständiges Phänomen und als „dominante Gegenwartskultur“ da, eben auch in erster Linie als kulturelles Gut, das zudem nicht unrentabel ist.

Für die breite Öffentlichkeit wird das allerdings erst 2017 klar. Am 6. August 2017 geraten in einem Battle-Rap zwei russische MCs aneinander. Auf der einen Seite steht Oxxxymiron, einer der bekanntesten und renommiertesten russischen Rapper. Auf der anderen Seite der außerhalb der Szene kaum bekannte Battle-MC Gnoiny (dt. Eitrig) aka Slawa KPSS. Die am 13. August online gestellte Aufzeichnung brach alle Rekorde und verzeichnete elf Millionen Aufrufe in einer Woche, über 37 Millionen bis heute.

Aus dem Underground in die Pop-Kultur

Der Battle wurde bis in die großen Nachrichtenagenturen wie RIA Nowosti wochenlang analysiert, rezensiert und kommentiert. Es ist schon an sich eine Schlagzeile, wenn zehn Prozent der russischen Bevölkerung sich eine Stunde lang elegante verbale Beschimpfungen, a capella vorgetragen, voller vulgärer Ausdrücke, Insider- und kultureller Querreferenzen anschauen. Selbst die, die mit dem Internet „per Sie“ sind, mussten sich mit der „neuen kulturellen Erscheinung“ vertraut machen: „Das Konzept des Rap-Battles war den meisten Russen vor einem Jahr noch unbekannt. Nun ist es praktisch in euer Leben getreten”, schrieb der Kommersant zu Beginn des Jahres.1 So trat der Rap scheinbar plötzlich „aus dem Underground in die Pop-Kultur“ und wurde zum Massenphänomen: die Videoclips erreichen mehrere Millionen Internet-Nutzer, die Rapper füllen die größten Clubs und Konzerthäuser. Das war nicht immer so.

Rap Battle Oxxxymiron VS Slava KPSS from n-ost on Vimeo.

 
„Ich battle heute nur gegen einen Betäubten, eine graue Ratte“ – Der Battle brach alle Rekorde und verzeichnet bis heute 37 Millionen Aufrufe. Video: Maxim Kireev (Übersetzung) und Eva Famulla (Schnitt und Untertitel) / ostpol.de

Geburt des Raps aus dem Geiste des Tanzes

In den frühen 1980er Jahren gelangten die westlichen Rap-Aufnahmen, wie eben der Welthit Rapper‘s delight der Sugar Hill Gang erstmal als Raubkopien in die Sowjetunion und waren – wie auch Rockmusik und andere westliche Kulturgüter – der sowjetischen Jugend nicht länger vorenthalten.

Zur Subkultur wurde Hip-Hop in der Sowjetunion vor allem über Breakdance. Ausgewählte Szenen in Filmen wie Tanzy na krysche (dt. Tänze auf dem Dach, 1985, Viktor Wolkow) oder Courier (1986, Karen Schachnasarow) inspirierten eine ganze Bewegung an B-Boys und B-Girls. 1985 entstanden in Moskau erste Tanzcrews und im Folgejahr fand in Litauen das erste sowjetische Breakdance-Festival statt.

Auch frühe Rap-Gruppen wie Bad Balance oder MC Lika – die vermeintlich erste russische Rapperin – entstanden aus Tanzgruppen. Musikalisch unterscheiden sie sich auf den ersten Blick wenig von ihren US-amerikanischen Vorbildern. Manche Texte sind gar auf Englisch verfasst. Durch die Annahme US-amerikanischer kultureller Formen zeigen die Künstler ihre Kenntnis von und ihre Anbindung an eine zu der Zeit noch sehr US-amerikanisierte Hip-Hop Kultur, die sie durch Kassetten, Filme und seltener auch live konsumieren.

„Keep it real!“

Der Hip-Hop der Perestroika und des ersten Jahrzehnts nach der Auflösung der UdSSR bot der Jugend neben neuen Ausdrucksformen neue Identifikationsmöglichkeiten und künstlerische Freiheiten. Nicht zuletzt auch über ein gemeinsames Vokabular und Ethos. „Keep it real!“, also sowohl „Sei Hip-Hop“ als auch „Sei Du selbst“, ist ein zentraler Wert in der Hip-Hop Kultur. Für den Rap in Russland bedeutete das einerseits die Aufnahme externer Einflüsse, andererseits aber auch eine tiefe Verankerung im Hier und Jetzt. So hat sich das Genre, stets ein Spiegel seiner unmittelbaren Umgebung, zunehmend differenziert.

Räumlich übt Moskau, das Moloch, an dem es sich zu messen gilt, mit seinen Labels und Konzerthäusern gewiss die größte Anziehungskraft aus. Es zieht zwar viele Rapper in die Hauptstadt, aber Hip-Hop ist keineswegs nur ein Moskauer Phänomen. Bad Balance vertritt Sankt Petersburg, die berühmten Basta und Kasta kommen aus Rostow am Don, Face aus Ufa. Gerappt wird sowohl über Moskauer Hochglanz als auch über panelki (dt. Plattenbauten) in der Provinz. Tatsächlich hat sich die russischsprachige Rap-Landschaft seit den 1990er Jahren erheblich erweitert, bis über die Landesgrenzen hinaus: Nicht wenige der aktuellen Größen im russischsprachigen Rap kommen aus postsowjetischen Staaten wie Kasachstan (Skriptonit) oder Belarus (LSP).

„Ich brauche eine Pille“

Der teils rebellische russische Oldschool-Rap der 1990er Jahre bringt auch manche Tabubrüche mit sich. Der wohl erste Rap-Skandal in Russland entflammte um den Track Seks bes pererywa (dt. Pausenloser Sex) der Gruppe Maltschischnik (dt. Junggesellenabschied). Das Stück war 1991 der wohl erste russische Rap-Hit – und ein Bruch mit der Kultur des Schweigens, die in der Sowjetunion um das Thema Sex herrschte.2 Aus heutiger Perspektive ist der Skandal kaum nachvollziehbar. Die zahlreichen sexuellen Anspielungen in Rap-Texten und Videoclips überraschen kaum und selbst der latente Sexismus einiger Künstler, am besten veranschaulicht durch die häufige Nutzung des Wortes suka (vgl. en. „bitch“), führt kaum zu öffentlichen Debatten.

Nicht nur der Platz des Themas Sex hat sich seit den 1990ern erheblich geändert. Die urbane Rap-Welt an sich wandelte sich im Laufe der Zeit parallel der gesellschaftlichen Stellung der Rapper von einer Underground-Existenz zu einem glamourösen Leben. Wo Delfin „einer der feinsten Dichter der russischen Musikszene“3 noch einen Diler (1996) verkörperte, ein „grässlicher Typ“ in einer makabren Umgebung, so treten Drogen mittlerweile vor allem aus der Perspektive des Konsumenten auf. „In meinem Herz hab ich ein Loch / Ich brauche eine Pille“ – besingt der Minsker Rapper LSP im Track Monetka die „furchteinflößende Leere“, die sich hinter dem Erfolg verbergen kann.

 
„In meinem Herz hab ich ein Loch / Ich brauche eine Pille“: Drogen treten vor allem aus der Perspektive des Konsumenten auf.

„Poesie aus drei Buchstaben“

„Poschumim, bljad!“ – „Macht verfickt nochmal Lärm“: So beginnt jedes Battle-Rap der größten russischen Battle-Rap-Liga Versus. Nicht nur im russischsprachigen Rap sind Kraftausdrücke sehr verbreitet. Durch die Besonderheiten des Mat, der russischen Vulgärsprache, die sowohl besonders tabuisiert als auch besonders reichhaltig ist, ist die gekonnte Nutzung obszöner Begriffe oftmals Bestandteil der lyrischen Gewandtheit von MCs. „Poesie aus drei Buchstaben“4, betitelt der Ogonjok einen Artikel über Battle-Rap und lässt dabei offen, ob damit Rap oder ein bekannter Mat-Begriff (хуй [chuj], dt. „Schwanz“) gemeint ist. „Derbe Flüche sind die Perle der großen russischen Sprache“, bestätigt auch eine Battle-Line von Oxxxymiron diese Annahme.

„Die russische Kultur hat erneut ihre Elastizität bewiesen – die Möglichkeiten der Sprache sind nicht erschöpft“, kommentiert Ogonjok die „recht originelle, tiefe und figurative Sprache“ des russischen Raps. Tatsächlich hört sich der Rap mancher Interpreten so an, als sei er „nichts weniger als konzeptuelle Poesie“.5 Wo Tschas Pik 1984 die Machbarkeit von russischsprachigem Rap noch in Frage stellte, wird der Rap heute zunehmend als literarisches Genre ernst genommen. So bot die staatliche Nachrichtenagentur TASS vor kurzem ihren Lesern an, Rap-Zeilen von Versen von Wladimir Majakowski zu unterscheiden.6

Auch Oxxxymiron’s letztes Album Gorgorod (2015) kann als ein langes Gedicht wahrgenommen werden. Als solches stand es jedenfalls zu Beginn des Jahres in der Vorauswahl eines angesehenen russischen Literaturpreises.7 Tatsächlich wagt sich Oxxxymiron dabei an ein anderes Format, ein Konzeptalbum, in dem man von Track zu Track den künstlerischen und persönlichen Werdegang eines Schriftstellers in einer antiutopischen fiktiven Stadt verfolgt.

Große Poesie und große Musik

Rap ist natürlich mehr als nur Text. „Oxxxymiron hat allen bewiesen, dass Rap auf Russisch große Poesie sein kann. Skriptonit hat bewiesen, dass er große Musik sein kann“8, stellt Meduza in einer Kritik zwei der einflussreichsten Rapper der vergangenen Jahre gegenüber. Der kasachische Rapper Skriptonit9, bekannt für seinen abgehackten Flow, nutzt seine Stimme nicht nur als Sinnträger, sondern vor allem auch als ein Instrument unter anderen.

Nicht zuletzt durch die technischen Entwicklungen im Hip-Hop und der Übergang von Samples (also Hip-Hop-Musik als Collage) zu eigen gefertigten Beats gewinnt der russischsprachige Rap zunehmend eine eigene musikalische Identität. Auch in Sachen visueller Ästhetik werden neue Akzente gesetzt. So mischt das Video zu Pharaohs Hit Diko, naprimer (dt. Wild, zum Beispiel, 2017) Bling-Bling mit einer Darstellung der Aristokratie aus dem Russland der Zarenzeit.

„Mein bester Freund ist Präsident Putin“

Anders als in den Vereinigten Staaten oder in Frankreich hat sich der Hip-Hop in Russland allerdings kaum als Gegenkultur etabliert, noch wurde er zum Sprachrohr für diskriminierte Minderheiten. Inhaltlich lässt sich der russischsprachige Rap nur schwer in ein politisches und ein unpolitisches Lager einteilen. Überhaupt wird Politik im engeren Sinne von Rappern selten angesprochen. Die Ausnahmen sind selten und sorgen stets für Aufruhr, links wie rechts. Timati steht exemplarisch für einen ausgeprägt regimetreuen Rap und macht aus seiner Nähe zu Präsident Wladimir Putin keinen Hehl: „Mein bester Freund ist Präsident Putin“, tönt gar der Refrain eines seiner Stücke (2015).

 
„Wenn das Land ein Club ist, entscheidet alles DJ“: Timati macht aus seiner Nähe zu Präsident Wladimir Putin keinen Hehl.

Der in den vergangenen zwei Jahren zunehmend aufsehenerregende Rapper Face, Jahrgang 1997, steht hingegen womöglich für eine politisierte jüngere Generation der Jahrtausendwende. Sein jüngstes Album Puti neispowedimy (dt. Die Wege sind unergründlich) bietet einen höchst kritischen Blick auf den Alltag: „Wir leben weiter und fühlen nicht das Land unter uns“, zitiert er in einem Track in Bezug auf die heutige Situation das fast gleichnamige Gedicht von Ossip Mandelstam, das eine harsche Kritik am Stalin-Regime darstellte. 

In der Regel kann man das Verhältnis zwischen Hip-Hop und Regime in Russland hingegen am besten als ein gegenseitiges Ignorieren schildern. So zieht Rap bislang auch nur wenig Aufmerksamkeit der Behörden auf sich und genießt eine relative künstlerische Freiheit.10 Da, wo Rap an die Justiz gerät, ist es den Künstlern teilweise gar dienlich. So erlangte die 2003 von Absolventen der Moskauer Akademischen Kunsthochschule gegründete Gruppe Krowostok (dt. Blutrinne) erst durch das Verbot ihrer Webpräsenz durch ein Gericht 2015 einen weiten Bekanntheitsgrad. Grundlage für das nach einem halben Jahr aufgehobene Urteil war die „Apologie von Gewalt und Drogenkonsum“. Krowostoks Texte zeichnen sich tatsächlich durch eine äußerst ausgeprägte Nutzung von Mat und kriminellem Jargon aus. Sie binden sich damit gekonnt an die Tradition des Blatnoi-Chanson an.

Rentables Geschäft

Die relative Narrenfreiheit von Hip-Hop in Russland hat gewiss auch mit seinen Verbreitungskanälen und Business-Modellen zu tun. Rap verbreitet sich in erster Linie über das Internet und auch die großen Label wie Bastas Gazgolder sind aus dem Hip-Hop heraus entstanden. Im Fernsehen ist Hip-Hop hingegen relativ wenig vertreten. „Fast alle Werbegelder haben sich Stück für Stück vom Fernsehen ins Internet verlagert“, so Basta im Gespräch mit Kommersant.11 Zurzeit werde aktiv in Werbekampagnen und Product-Placement in der Hip-Hop Kultur investiert – so der renommierte Rapper und Hip-Hop-Unternehmer. 

So geht die künstlerische Unabhängigkeit des Hip-Hop mit der wirtschaftlichen Eigenständigkeit einher. Auch die große Battle-Rap-Liga Versus finanziert sich über Klickzahlen und Sponsorenverträge. Nach dem Battle zwischen Oxxxymiron und Gnoiny bemerkte eines der Jurymitglieder: „Ich weiß nicht, wer von euren Kämpfen hier was hat, aber das russische YouTube gewinnt auf jeden Fall“.


Playlist



 
Tschas PikRap (1984): Der Urrap Rap, erstmals in Samara vorgetragen, bewegt sich noch an der Grenze von Elektro- und Hip-Hop und ist voller Zitate der Sugar Hill Gang oder von Grandmaster Flash.


 
Bad Balance Gorodskaja Toska (1996): Städtische Sehnsucht, einer der ersten russischen Rap-Videoclips, ist eines von zahlreichen der Stadt gewidmeten russischen Rap Stücke und repräsentativ für den russischen Old-School. Bad Balance ist eines der Urgesteine des russischen Rap. 


 
Zentr (feat. Basta) – Gorod Dorog (2008): Zwölf Jahre später nach Gorodskaja Toska von Bad Balance, ein anderer Beat, ein anderer Flow und es geht weiter um die Stadt. Für dieses Stück über die Hauptstadt erhielten die Moskauer Gruppe Zentr und der Rostower MC Basta den russischen MTV Music Award für das beste Hip-Hop Projekt.


 
KastaNa Poryadok vysche (2002): “Vergiss nicht deine Wurzeln/ Erinner’ dich / Es gibt höhere Dinge/ Hörst Du!”, wenden sich die Rapper von Kasta an die, die Russland verlassen wollen. Das Album Gromtsche WodyNishe Trawy (dt. Lauter als Wasser, niedriger als Gras) war einer der ersten kommerziellen Erfolge des russischen Rap. 


 
OxxxymironGorod pod Podoschwoj (2015): Oxxxymiron, Oxford-Absolvent, aufgewachsen in Essen und in London, steht an sich schon für die Fülle an Einflüssen des russischen Hip-Hop. In dem bekannten Stück reflektiert er über seinen fast nomadischen Werdegang, stets mit der „Stadt unter der Fußsohle“.  


 
SkriptonitVBVVCTND (2014): Skriptonit kommt aus einem Vorort von Pawlodar, Nodkasachstan und rappt überwiegend über die dortigen Lebensumstände. So auch in seinem ersten Clip, der ihm einen Vertrag mit einem der größten russischen Labels einbrachte. Drei Alben später ist auch er ohne Zweifel zu einer der einflussreichsten Figuren des russischsprachigen Rap geworden. 


 
PharaohDiko, naprimer (2017): Pharaoh (geb. 1996) gehört schon zur jüngeren Generation des russischen Rap. Diko Naprimer wurde 2017 zum Sommerhit und zeichnet sich neben seinem trägen Beat vor allem durch die besondere Ästhetik des dazugehörigen Videoclips aus.

1.Kommersant.ru: Is andegraunda v pop-kulturu 
2.Die Ausstrahlung eines Auftritts auf dem Fernsehsender ORT (heute Perwy Kanal) löste eine weite Polemik aus und führte zur Entlassung des Programmredakteurs. 
3.Gontchar, Alexandre (2017): Violence as Existential Punctuation. Russian Hip Hop in the Age of Late Capitalism, in Miszczynski, Milosz und Helbig, Adriana: Hip Hop at Europe’s Edge. Music, Agency and Social Change, Indiana, S.184 
4. Ogonjok: Poesija is trjoch bukw 
5.Gontchar, Alexandre (2017): Violence as Existential Punctuation: Russian Hip Hop in the Age of Late Capitalism, in Milosz Miszcynski und Adriana Helbig, Hip Hop at Europe's Edge, S.182 
6. TASS: Poprobujte otlitschit’ stichi Majakowskogo ot russkogo repa 
7. http://piatigorskyprize.ru/long-list 
8. Meduza: Neljubow i bednost’: Repper Skriptonit vypustil, vosmoschno, lutschschij russkojazytschnyj al’bom goda. Rasskasywaem, chem on chorosch 
9. Novastan.org: Skriptonit – zeitlose Beats 
10. Ein Tabu bleibt vor allem die unmittelbare Kritik an wichtigen politischen Persönlichkeiten. So wurde beim Versus-Battle zwischen Gnoiny und Ernesto Zatknites’ 2016 Erwähnungen von Ramsan Kadyrow und dem Patriarch Kyrill herausgebeept. 
11. Kommersant: Is andergraunda v pop-kul’turu 
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