Die besten russischen Interpreten des Jahres 2018 – ein Ritt durch die Genres. Eine Auswahl der Colta-Redaktion: subjektiv, überraschend, jung.
LEITMOTIV DES JAHRES
Verbotene Lieder
2018 sind in Russland erneut verbotene Musik und schwarze Listen von Musikern aufgetaucht, ganz nach Vorbild der UdSSR 1984. Diverse Machtinstanzen, angefangen bei städtischen Verwaltungen und regionalen Staatsanwaltschaften bis hin zu den Ermittlungsbehörden der Russischen Föderation, haben sich der Analyse populärer Songs auf VKontakte verschrieben, haben nach Propaganda für Suizid, Extremismus, Drogen und sogar Kannibalismus gesucht und als präventive Maßnahme schlicht „per Telefon“ Konzerte abgeblasen.
Unter den Opfern fanden sich Poschlaja Molli (dt. „Gemeine Molli“), Friendzona, Monetotschka (dt. „Kleine Münze”), Allj, Gunwest, Jah Khalib, Matrang, Husky und IC3PEAK – diese völlig unterschiedlichen Künstler waren gezwungen, ihre Auftritte abzusagen oder zu unterbrechen und wurden von der Polizei festgehalten und gefilzt.
Das einzige, was diese Musiker verbindet, ist wohl ihre Beliebtheit bei der Generation VKontakte und die Beunruhigung, die bei der älteren Generation ausgelöst wird durch ihren Einfluss auf die jungen Gemüter; diese ältere Generation fordert nun im Namen aller Eltern in ganz Russland, [die Jugend] „abzuschirmen und zu beschützen“. Dafür bedient sie sich so traditioneller wie ineffektiver Methoden: Denunziation und Druck, die in polizeiliche Willkür münden.
Der Grad an Besorgnis ist dermaßen ausgeartet, dass man sich angesichts der zersetzenden Kraft der neuen russischen Popmusik, die laut den Beschwerdeführern auf den Säulen „Sex, Drogen und Protest“ ruht, mit dem Präsidenten der Russischen Föderation beriet. Der bemerkte weise, es sei zwecklos, Konzerte zu verbieten – wenn man die Bewegung nicht aufhalten könne, müsse man sie organisieren und lenken. Damit ist der Staatsauftrag für korrekte, ideologisch reine, sterilisierte und fettfreie Popmusik bereits formuliert; warten wir also ab, wie die wachsamen Veteranen des Showbiz und die Funktionäre des Kulturministeriums ihn im neuen Jahr umsetzen werden.
KONZERT DES JAHRES
Soli-Konzert für Husky: Ich werde meine Musik singen im GlawClub Green Concert
Die breiteste Medienresonanz in der Reihe der Konzertabsagen und -verbote hat der Fall Husky ausgelöst. Husky alias Dimitri Kusnezow hatte auf die Provokation durch die Polizei reagiert und sich in Krasnodar zwölf Tage Haft wegen „geringfügigen Rowdytums“ eingehandelt – dadurch konnte er die russische Rap-Szene hinter sich vereinigen.
Das Solidaritätskonzert Ich werde meine Musik singen, das [seine Rapper-Kollegen] Oxxxymiron, Noize MC und Basta daraufhin auf die Beine stellten, war schon wenige Stunden nach den ersten Ankündigungen ein historisches Ereignis: Die Tickets waren im Nu ausverkauft, die Kasseneinnahmen in Höhe von sechs Millionen Rubel flossen in die Hilfe für Husky, die Strafe wurde infolge des ganzen Rummels überprüft und der Rapper sogar wieder freigelassen.
Das Soli-Konzert hat gezeigt, dass russische Musiker durchaus in der Lage sind, für sich und das Recht auf Meinungsäußerung einzustehen, wenn sie es schaffen, an einem Strang zu ziehen.
NACHWUCHS DES JAHRES: SONGWRITING
Monetotschka: Raskraski dlja Wsroslych (dt. „Ausmalbilder für Erwachsene“)
Die Jugend (und das Äußere) der aktuellen Interpreten und vor allem Interpretinnen – vor allem das hielt die Beobachter der inländischen Popkultur in diesem Jahr beschäftigt. Das zweite Album von Monetotschka alias Lisa Gyrdymowa ist wohl das bestartikulierte Argument dafür, der Jugend so oft wie möglich das Recht auf ihre Stimme zu geben: Das Album ist zeitkritisch, brandaktuell, witzig, weise, sanft, treffsicher und zu hundert Prozent von heute.
NACHWUCHS DES JAHRES: TEXTE
Lizer: Teenage Love
GONE.Fludd: Supertschuits
Auch die hippe russische Rapszene verjüngte sich in diesem Jahr rasant: Die erdrückende Mehrheit der lautesten und herausragendsten Rap-Platten des Jahres kam von Künstlern um die zwanzig. Am liebsten mögen wir diese zwei Jungs, die beide von ihrer eigenen individuellen Seite ins Rap-Spiel eingestiegen sind. Lizer hat der leicht miefigen machohaften Welt des russischen Rap eine jugendlich-anrüchige, geradlinige Aufrichtigkeit eingehaucht, GONE.Fludd hat ihr die verrückten Farben psychedelischer Fantasien verpasst und dabei eine ganz eigene Sprache erfunden.
COMEBACK DES JAHRES
Yury Chernavsky: Woswraschtschenije na Bananowyje Ostrowa (dt. „Rückkehr auf die Bananeninseln“)
Ohne Yury Chernavsky – den ersten Produzenten der UdSSR – wäre die auch so nicht gerade farben- und stilfrohe russische Popszene noch weitaus ärmer. Wie großartig und symbolisch, dass sich der Maestro, der längst in den USA lebt, zum 35. Geburtstag seines Kultalbums Bananowyje Ostrowa erstmals wieder der russischen Öffentlichkeit präsentierte.
ROOTS DES JAHRES
Abstraktor: Abstraktor
Konservatorium umarmt Kornfeld (oder umgekehrt). Im Bandnamen des Woronesher Trios Abstraktor trifft „Abstraktion“ auf „Traktor“, während in ihrer Musik kompositorischer Post-Jazz auf Folk trifft – und was dabei herauskommt, ist unfassbar ansteckend und lebendig. Nein, echt, das ist, als würdest du selbst übers Feld laufen, deine Hände fahren durch die Ähren, und der vom Wald herüberwehende Wind lässt Haar und Hemd aufwirbeln.
KAMPF DES JAHRES
Posory: Dewitschje gore (dt. „Schande“: „Das Leid der Mädchen“)
Die Girls schlagen zurück – zornig, laut, kompromisslos, hinreißend. Das Debüt-Minialbum des Trios aus Tomsk betritt das (leider brandaktuelle) Schlachtfeld der Geschlechter erhobenen Hauptes, mit geballten Fäusten und der Bereitschaft, sofort und mehrfach jedem eine reinzuhauen, der ihnen Steine in den Weg legt – und das klingt so gerecht und hammermäßig, dass man unmöglich nicht aufstehen und mitlaufen kann.
BEGEGNUNG VON VERSTAND UND TANZ DES JAHRES
Kate NV: Dlja/For
GSch: Polsa (dt. „Nutzen“)
Diese zwei Alben klingen vielleicht nicht unbedingt ähnlich – auf dem einen spielt impressionistischer Ambient mit Klängen, auf dem anderen donnert architektonisch ausgefeilter Indie-Rock mit Gitarren. Und doch haben diese beiden Projekte, vereint in der Person von Katja Schilonossowaja, etwas gemeinsam – allem voran das Vermögen, sich bei aller formellen intellektuellen Strenge der Musik dem Leben und der Freude, der Sonne und dem Tanz zu öffnen. Blendend.
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DIE HOFFNUNGEN DES JAHRES
Die „Neue russische Welle“ im Ausland
2018 verlässt uns mit dem Gefühl, dass die russischen Musiker keine Angst vor dem neuen Eisernen Vorhang haben, der zwischen Russland und dem Rest der Welt durch die Außenpolitik des Landes und die Wirtschaftssanktionen errichtet wird.
Trotz der unvorteilhaften Medienumgebung und den unvermeidbaren Übersetzungsproblemen nimmt der Westen unser Produkt mit großem Interesse auf. Die ausländische Musikpresse schreibt plötzlich begeistert von einer „Neuen russischen Welle“ – zum ersten Mal seit dem Roten Rock der Perestroika-Zeit. Und sie haben allen Anlass dazu: Die internationalen Erfolge von Kate NV, GSch, Shortparis, Kedr Livanskiy und selbst der Meme-Hit Skibidi von Little Big lassen hoffen, dass der Prozess der kulturellen Integration gerade erst an Fahrt aufnimmt.
RITT DES JAHRES
Pognali: Ty w porjadke (dt. „Auf gehts!“: „Du bist in Ordnung“)
Pognali machen Rockmusik, die so erschütternd klar ist, als käme sie geradewegs aus den 1968ern zu uns – noch bevor die Gigantomanie des Progressive Rock mit ihren lauten E-Gitarren die Musik überwuchert hat und wir uns wie mit einer Elektroschockbehandlung mit dem Primitivismus des Punk davon reinwaschen mussten.
Das ist wahrscheinlich der größte Triumph des Albums – hier erklingt Musik, die man vom Aufbau her instinktiv dem Classic Rock zuschreiben will, doch dabei hat sie nichts von all dem unangenehmen Gepäck, das sich über fünfzig Jahre darin angesammelt hat: dem Konservatismus, dem Macho- und Posergehabe. Nur ausgelassene Virtuosität und reine, glückselige Energie.
MUSICAL DES JAHRES
Leto
Kirill Serebrennikow hat mal wieder ins Schwarze getroffen: Der auf wahren Begebenheiten basierende Musikstreifen Leto hat unglaubliche Resonanz bekommen und das Publikum maximal polarisiert. Dabei ist das Skandalpotential der Geschichte strenggenommen minimal – ein platonisches Techtelmechtel aus einem Sommer im fernen Jahr 1981. Aber weil in das Liebesdreieck zwei Helden des russischen Rock verstrickt sind – der Heilige (Viktor Zoi) und der Kultstar (Mike Naumenko) – hat der Film niemanden kaltgelassen.
INFERNO DES JAHRES
Jars: Dshrs II
„Sabotiert alles!“, schreit sich die Moskauer Band Jars die Lunge aus dem Hals, während dazu der Bass ohrenbetäubend dröhnt, die Gitarre heult und kreischt und das Schlagzeug scheppert wie ein Metro-Waggon, der über deinen Kopf rast. Der blindwütige Noise-Rock von Jars wirkt so ähnlich wie ein Molotowcocktail, der in deinem Gesicht landet – schlag zu, renn, brüll, schüttel dich in Krämpfen, tu, was du willst, aber vergiss keine Sekunde, dass du immer noch kategorisch und voller Wut am Leben bist.
Übersetzung (gekürzt): Jennie Seitz
Veröffentlicht am 08.01.2019