Nawalnys Stiftung FBK soll zur „extremistischen“ Organisation erklärt werden, das Exilmedium Meduza wurde auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt. Journalisten, Menschenrechtler, auch Wissenschaftler, die an den Protesten für Nawalny im Januar und Februar teilgenommen haben, berichten in den vergangenen Tagen über Hausbesuche von Sicherheitskräften. Diese und weitere Nachrichten zeigen, dass sich die innenpolitische Lage in Russland derzeit zuspitzt, der Druck auf die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien wächst.
Die Repressionen, aber auch das Schweigen in breiten Teilen der Gesellschaft, beides fließt ein in den unten stehenden Text von Andrej Loschak. Sein Text auf dem Online-Medium Projekt zeugt von verlorener Hoffnung und großer Verzweiflung, und auch davon, welch existenzieller Nerv derzeit in einem bestimmten Segment der russischen Gesellschaft getroffen ist und blankliegt.
Implizit wirft sein engagiertes Meinungsstück auch die offene Frage auf, wie objektiv Journalismus unter solchen Bedingungen noch sein kann, darf und muss.
Was mit Alexej Nawalny und seinen Anhängern passiert, ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Da werden friedliche, gesetzestreue, unschuldige Menschen geächtet. Sie sind einem regelrechten Staatsterror ausgesetzt, der immer mehr Schwung aufnimmt. Endlose Lügen und Hasstiraden auf staatlichen Sendern und kremltreuen Müllkippen, fabrizierte Anklagen, Hausdurchsuchungen mit Beschlagnahmung (Diebstahl) von technischen Geräten, Geldstrafen, Geldstrafen, Geldstrafen, Festnahmen und Haftstrafen aufgrund völlig irrwitziger Beschuldigungen, strafrechtliche Verfolgung von Verwandten von „Volksfeinden“ (Nawalnys Bruder Oleg, Iwan Shdanows 66-jähriger Vater Juri et cetera), schließlich der Mordanschlag auf Alexej Nawalny, seine anschließende Verhaftung und erst vor Kurzem der Schlussakkord: der Vorwurf des Extremismus gegen seinen Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) und gegen alle, die damit zu tun haben.
Aus rechtlicher Sicht ist das ein klarer Fall von Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (so ähnlich klingt das in Artikel 282 des Strafgesetzbuchs, den die Opritschniki so lieben). Doch der Vorwurf des Extremismus bricht einfach so über den FBK herein, aus heiterem Himmel. Nicht einmal Beweise wurden vorgelegt. Die Leiter des Fonds fragten nach und bekamen zur Antwort: Sagen wir nicht, ist ein Staatsgeheimnis.
Ich spreche über Nawalnys Anhänger immer in der dritten Person, obwohl das natürlich geheuchelt ist – ich muss „wir“ sagen.
In meinem Fall wäre es treffender zu sagen „Anhänger von Nawalnys Freilassung“, aber das sind jetzt unwichtige Details. Natürlich bin ich Anhänger dieses Menschen, der im postsowjetischen Russland als erster eine richtige Heldentat in der öffentlichen Politik vollbracht hat. Ich bin Anhänger dieses Menschen, den der Staat zu töten versucht. Ich bin Anhänger dieses Menschen, der gegen Korruption kämpft und ehrlichen Herzens ein besseres Leben für seine beraubten Mitbürger will. Und der immer noch daran glaubt, dass seine Mitbürger dieses bessere Leben verdienen, auch wenn fast die Hälfte von ihnen die Repressionen gegen ihn unterstützen.
Ich bin Anhänger dieses Menschen, den der Staat zu töten versucht
Ich bin Anhänger dieses Menschen, der mit verzweifeltem Mut, aber ausschließlich legalen Methoden gegen einen um die Macht kämpft, der alles hat: uneingeschränkte Macht, Opritschniki, Gerichte, diensteifrige Oligarchen, ein Milliardenbudget, das er nach Lust und Laune verschleudert, wo er es für nötig hält. Sein Gegner hat alles, Nawalny hat nur uns – 400.000 „Extremisten“. Na, und ein mitfühlendes Ausland, das aber trotzdem nicht helfen kann – und auch nicht helfen soll. Da gebe ich den Propagandisten recht: Das ist eine innere Angelegenheit. Solange die Bevölkerung nicht verstanden hat, wie wichtig die Absetzbarkeit der Staatsmacht und Wahlen sind, wird sich hier sowieso nichts ändern.
Da gebe ich den Propagandisten recht: Das ist eine innere Angelegenheit
Wir, Nawalnys Anhänger, wollen nichts anderes, als dass unsere Kandidaten zu Wahlen zugelassen (und rechtzeitig vorher aus der Haft entlassen) werden. Unsere Kandidatinnen – es sind übrigens viele Frauen dabei – wollen bei Wahlen um die Macht kämpfen, die seit 21 Jahren in denselben Händen liegt. Breshnew hat kürzer regiert. In den Programmen und Reden unserer Kandidaten ist nichts Illegales oder Misanthropes. Sie gefallen Ihnen nicht? Ihr gutes Recht. Aber unser Recht ist es, die zu wählen, die wir wählen wollen, und nicht die, die der amtierende Präsident genehmigt hat. Was genau soll daran extremistisch sein? Eigentlich heißt so etwas einfach „Politik“.
Mein Hauptinteresse gilt nicht den Machthabern und ihren Opritschniki. Was die betrifft, ist alles klar.
Mich interessiert, was diese 146 Millionen denken, die da abwartend rumstehen.
Ich schaue immer genau, welche Prominenten diese endlosen Petitionen für Nawalny unterschreiben. Tschchartischwili, Makarewitsch, Achedshakowa, Chamatowa, Swjaginzew … Gerade mal zehn bis fünfzehn Personen. Bei den jungen Stars sind es auch immer dieselben – Face, Noize MC, Oxxxymiron, Sascha Bortitsch, Semjon Treskunow, und das war’s dann auch schon. Das sind natürlich alles sehr ehrenwerte und für die russische Kultur sehr bedeutende Leute, aber wo ist der Rest? Warum stehen unter den Protestbriefen immer dieselben Namen? Worauf wartet ihr denn, ihr Meister der Kultur? Auf Erschießungen?
An den Protesten 2011 und 2012 waren viel mehr Leute beteiligt – auch aus dem Kulturbetrieb. Die Proteste richteten sich damals gegen Wahlfälschungen und Putins dritte Amtszeit. Seitdem hat Putin so viel Mist gebaut, dass die Gründe für die „Proteste mit weißen Bändchen“ dagegen direkt lächerlich wirken. Dritte Amtszeit? Ha-ha-ha. Jetzt sitzt er lebenslänglich da oben, abgesichert durch die Verfassung. Leben wir besser? Irgendwie nicht wirklich. Niemand hofft mehr auf irgendetwas, viele legen sich nach und nach eine zweite Staatsbürgerschaft zu, die Kinder schickt man ins Ausland, aber trotzdem sitzt man still und wartet ab.
Wo ist der Rest?
Vor der Präsidentschaftswahl 2018 hatten wir eine wenn auch geringe, so doch eine Chance, die Geschichte zu verändern. Erstmals in der Geschichte Russlands gelang es einem oppositionellen Kandidaten abseits des Systems, im ganzen Land ein Netz aufzubauen und eine richtige Wahlkampagne zu starten, an der vor allem die Jugend aktiv teilnahm (worüber ich die Doku-Serie Wosrast nesoglassija gedreht habe). Aber leider hat die absolute Mehrheit der Erwachsenen diese Geschichte ausschließlich aus der Distanz verfolgt.
Chancen zum Zusammenschluss gaben uns Nawalny und sein Team dann auch bei der Wahl zur Moskauer Stadtduma 2019 und erst kürzlich bei Nawalnys Rückkehr nach Russland. Da begibt sich ein Mensch freiwillig in die Höhle des Löwen – um unseretwillen und zu unserer Rettung – und wird am Flughafen von ein paar tausend Fans in Empfang genommen. Ich glaube, der Entschluss, ihn „hardcore“ einzusperren, wurde genau in diesem Moment gefasst. Am 23. Januar gingen in Moskau rund 40.000 Menschen auf die Straße. Das ist weniger als 0,3 Prozent der Bevölkerung der Hauptstadt – hochgerechnet auf das ganze Land sind es etwa 400.000. Bei so einem wahnsinns-staatsbürgerlichen Aktivitätspegel hätten sie Nawalny gleich direkt auf der Gangway des Flugzeugs erschießen können, oder auch zerstückeln, wie die Saudis es vor nicht allzu langer Zeit mit einem Oppositionellen gemacht haben. Kriminelle Macht respektiert nur Gewalt.
0,3 Prozent – ist das euer Ernst?
Niemand hofft mehr auf irgendetwas, viele legen sich nach und nach eine zweite Staatsbürgerschaft zu, die Kinder schickt man ins Ausland, aber trotzdem sitzt man still und wartet ab
Diesen Dezember sind die Proteste mit weißen Bändchen zehn Jahre her. Schon damals schrien wir „Putin ist ein Dieb!“ und „Weg mit Putin!“, wohlwissend, dass uns in den nächsten zwölf Jahren mit diesem Mann nichts Gutes bevorstand. Im darauffolgenden Jahr wurden die Proteste niedergeschlagen und die Menschen verkrochen sich in den Schlupfwinkeln ihres Privatlebens. Lang genug war der Widerstand tot, bis es Nawalny und seinem Team gelang, ihm neues Leben einzuhauchen. Putin beschloss, Nawalny und seine Anhänger zu vernichten. Die Folge ist, dass die Situation heute so aussieht: Wenn Sie Nawalny nicht unterstützen oder sich raushalten (was ein und dasselbe ist), unterstützen Sie nicht nur die Tötung eines unschuldigen Menschen und die Diskriminierung von Hunderttausenden. Sie unterstützen auch den Status quo des herrschenden Regimes. Somit unterstützen Sie Korruption, die Unabsetzbarkeit des Präsidenten, fehlende Rechtsprechung, Verarmung der Bevölkerung, politische Morde, die übelsten Regime der Welt – von Belarus bis Myanmar, Monatsgehälter von 150 bis 200 Dollar, Inflation, Braindrain, Investitionsflucht, Kapitalflucht, häusliche Gewalt, Homophobie, Verschuldung der Bevölkerung, schrumpfende demografische Entwicklung, Krieg gegen die Ukraine, internationale Isolierung, die Rehabilitierung des Stalinismus, Ramsan Kadyrows Terror, den durchgedrehten Duma-Drucker, Lüge und Hate Speech der Propaganda, Militarisierung, das stetig wachsende Budget für die heimische Polizei, die schrittweise Abschaltung des Internets, Zensur nicht nur in den Medien, sondern auch in Kultur und Wissenschaft und so weiter und so fort.
Vor allem aber unterstützen Sie Perspektivlosigkeit.
Davon sprechen jetzt alle. Wir leben in der trübsinnigen Matrix eines alternden KGB-Offiziers, der für immer im 20. Jahrhundert feststeckt und das ganze Land mit hineinzieht. Mit ideologischen Einstellungen aus den 1970er Jahren und einer Moral aus den Neunzigern. Das habe ich ganz deutlich gespürt, als ich den Film Fuck this Job über die Geschichte des TVSenders Doshd sah. Da gibt es am Anfang eine Szene aus dem Jahr 2011, in der Präsident Medwedew den Sender besucht. Ich war beeindruckt, wie fähig und modern er wirkt, in die Zukunft gerichtet und sogar leise Hoffnungen weckend. Alles zeigt sich im Kontrast, wie es so schön heißt. In was für einen Abgrund der Verzweiflung müssen wir da in den letzten zehn Jahren gestürzt sein, um in Medwedew einen zukunftsweisenden Politiker zu sehen!
Meine tiefe Überzeugung ist: Wenn die Leute, die diese Hoffnungslosigkeit satthaben – und das sind nicht 400.000, sondern zig Millionen –, lernen würden sich zusammenzuschließen, dann würden wir in einem anderen Land leben.
Bis vor Kurzem hätten Nawalny und der FBK uns diese Gelegenheit gegeben, aber anscheinend haben wir versch… Alexej wird im Gefängnis erledigt, der FBK steht am Rande der Zerstörung, und mit hoher Wahrscheinlichkeit beginnt demnächst die größte Hexenjagd seit der McCarthy-Ära. Ich weiß, dass Täter-Opfer-Umkehr ein schlechter Motivator ist, aber ich kann's mir nicht verkneifen: Dass wir an diesen Punkt gelangt sind, ist nicht allein Putins Schuld. Wissen Sie, wie viele Menschen einen Dauerauftrag für monatliche Spenden an den FBK haben? 19.700 Personen – bei so viel Unterstützung wird meine Generation die glänzende Zukunft Russlands definitiv nicht mehr erleben. In U-Haft landen könnten diese 19.700 Leute dafür umso schneller.
Wenn die Leute, die diese Hoffnungslosigkeit satthaben, lernen würden sich zusammenzuschließen, dann würden wir in einem anderen Land leben
Um nicht endgültig Grabesstimmung zu verbreiten, schließe ich mit einem Zitat aus der letzten Rede des unermüdlichen Optimisten Nawalny – denn im Unterschied zu mir und Putin weiß Alexej wie man Hoffnung sät: „Es ist sehr wichtig – einfach keine Angst vor Leuten zu haben, die die Wahrheit suchen, und sie vielleicht sogar irgendwie zu unterstützen: direkt oder indirekt. Oder vielleicht nicht einmal zu unterstützen, aber wenigstens diese Lügerei nicht auch noch zu fördern, zu diesen Märchen nicht auch noch beizutragen, die Welt rundherum nicht zu verschlimmern. Das birgt natürlich ein kleines Risiko, aber erstens ist es klein, und zweitens, wie ein ausgezeichneter Philosoph der Gegenwart namens Rick Sanchez sagte: ‚Leben ist Risiko. Und wenn du nichts riskierst, dann bist du wohl einfach ein schwammiger Haufen zufällig angeordneter Moleküle, die mit dem Strom des Universums mitschwimmen‘.“