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„Wenn Angst aufkommt, bin ich immer dafür, sie zu überwinden“

„Es gibt keine Freiheit, wenn man nicht täglich für sie kämpft“ skandieren Pussy Riot auf ihrer Europa-Tournee Riot Days. Es ist eine Art Punk-Performance, immer wieder wenden sich Pussy Riot darin gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, fordern ein Öl- und Gasembargo, alles untermauert von dokumentarischen Bildern und wummernden Elektrobeats.

Die Tour, die am 9. Juni in Lissabon endet, begann am 12. Mai in Berlin. Erst kurz zuvor war Maria Aljochina eine spektakuläre Flucht aus Russland gelungen. Seit September 2021 war sie unter Hausarrest, der in 21 Tage Haft in einer Strafkolonie umgewandelt werden sollte. Sie habe sich als Essenslieferantin verkleidet, erzählte Aljochina mehreren Medien, so sei sie entkommen trotz Polizeibewachung. Über Belarus sei sie in die EU geflohen, allein um von dort über die Grenze weiter nach Litauen zu kommen, habe sie drei Versuche gebraucht. Als Grund für die Flucht nennt sie in verschiedenen Gesprächen vor allem die Tournee, die sie unbedingt habe machen wollen, um gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu protestieren.

Es sind nicht nur Aktivisten wie Aljochina, sondern auch Journalisten, Menschenrechtler, aber auch IT-Experten, die Russland seit dem 24. Februar 2022 in Scharen verlassen haben. Doch nicht erst seit der russischen Invasion in die Ukraine werden unabhängige Akteure unterdrückt, die ohnehin autoritäre Entwicklung wurde über mehrere Jahre immer repressiver. Erste starke Einschnitte gab es nach den Bolotnaja Protesten 2011/12, massiv verschärfte sich das Vorgehen des Staates außerdem nochmal im vergangenen Jahr nach den Solidaritätsprotesten für Alexej Nawalny: „Wer nicht Freund ist, ist Feind“, konstatierte damals die Politikanalystin Tatjana Stanowaja. Im Zusammenhang mit diesen Protesten war Aljochina im September 2021 zu einem Jahr Hausarrest verurteilt worden, angeblich habe sie gegen „Hygienevorschriften“ verstoßen. Die Menschenrechtsorganisation Memorial erkannte Aljochina daraufhin als politische Gefangene an. 

Drei Monate vor der russischen Invasion in der Ukraine hat Maria Aljochina ein Interview gegeben für die YouTube-Sendung Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa). Mit der Journalistin Katerina Gordejewa, die bekannt ist für ihre tiefen und sehr persönlichen Interviews, sprach sie über ihren Weg als Aktivistin, über Zweifel, Schweigen und Angst – und darüber, wie sie selbst mit diesen Gefühlen umgeht. Das Gespräch ist auch eindrucksvolles Dokument des repressiven Systems in Russland kurz vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Source Skashi Gordejewoi

Über das Zweifeln

Katerina Gordejewa: Stimmt es, dass du bis zu dem Morgen der Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale gezweifelt hast, ob du mitgehen sollst?
Maria Aljochina:
Ja, zweifeln kann ich gut. Ich denke, ich brauchte einfach jemanden, mit dem ich alles durchsprechen konnte, um mir im Laufe des Gesprächs über einige Dinge klar zu werden. Nicht nur, ob es richtig war, sondern insgesamt über die Ausdruckform dessen, was ich tue.

Du hast mit deiner Freundin, der Bassistin, gesprochen, und bist am Ende mitgegangen und sie nicht. Hätte sie mitgehen sollen? 
Ja, das hätte sie, sie hatte mit uns geprobt.

Aber sie ist nicht mitgegangen.
Nein, ist sie nicht.

Und du schon.
Ich schon.

Wenn wir jetzt zurückspulen würden, würdest du wieder mitgehen?
Natürlich würde ich wieder mitgehen! Du meinst wegen …

… wegen der Konsequenzen. War es das wert?
Was ist „es“?

Na, der Auftritt … die vierzig Sekunden Song, das Video. 
Wir hätten uns besser vorbereiten sollen.

Und fast zwei Jahre Gefängnis. War es das wert?
Ja. Ich bereue nichts. Es gibt immer Momente, in denen man etwas hätte besser machen können. Auch beim Absitzen, im Gefängnis und danach, es gibt immer etwas, das man besser machen könnte. Manches hätte man besser bleiben lassen. Aber sicher nicht unsere Aktion.

Hättest du je gedacht, dass du dort im Westen reich und berühmt werden würdest, während du hier im Hausarrest auf einem Balkon mit Blümchen hockst und auf einen schick renovierten Spielplatz starrst?
Ich bin ja nicht nur im Hausarrest … Ich war ja davor noch im Gefängnis. Das alles ist eine Art Zeugnis, ein lebendiges Zeugnis dessen, was hier vor sich geht. 

Wofür hast du den Hausarrest bekommen?
Das war ein Strafverfahren wegen eines Instagram-Posts mit dem Aufruf zu einer Solidaritätsdemo für Politgefangene, einer davon Alexej Nawalny. [Der offizielle Vorwurf lautet, dass Maria Aljochina gegen die Corona-bedingten Hygieneregeln verstoßen habe. Im September 2021 wurde sie deswegen zu einem Jahr Hausarrest verurteilt – dek]

Welchen Status hast du gerade?
Ich bin verurteilt.

Derzeit bist du das einzige bekannte Mitglied von Pussy Riot, das in Russland geblieben ist, und eine der wenigen Angeklagten in den Hygieneprozessen, die nicht ausgereist sind. Warum bleibst du in Russland?
Ich bleibe und ich lebe in Russland, weil es meine Heimat ist. Es ist meins. Eigentlich könnte man diesen tollen kleinen Zeitabschnitt zwischen Urteilsverkündung und Berufungsverfahren dafür nutzen, um abzuhauen. 

Ich bereue nichts. Es gibt immer Momente, in denen man etwas hätte besser machen können

Aber das ist ein One-Way-Ticket. Das brauche ich nicht. Ich mag Tickets wirklich sehr, ich liebe es zu fliegen, ich steh voll auf Reisen, aber bitte in beide Richtungen. 
Ich möchte nicht, dass mir jemand einen Arschtritt gibt und sagt: „Hau ab“. Sollen die doch selbst abhauen. [Im Mai 2022 ist Maria Aljochina aus Russland geflohen, s.o. – dek]
 

Vom Öko-Aktivismus zu Pussy Riot

Wie warst du als Kind?
Schwierig. Ich glaube, ich habe erst jetzt, im Hausarrest, bei dem ich sehr viel mit meiner Familie gesprochen habe, verstanden, wie schwer sie es eigentlich mit mir hatten.

Deine Großmutter hat dich „der Geist des Widerstands“ genannt. Ab welchem Zeitpunkt würdest du über dich sagen, dass du alles anders gemacht hast als andere Kinder?
Naja, ich habe nicht „alles anders als andere Kinder“ gemacht. Ich glaube, ich habe einfach viele Fragen gestellt und … mich geweigert, etwas zu tun, solange man mir keinen Grund dafür genannt hat. 

Wie hast du dich damals selbst gesehen?
Ich hatte mich damals verliebt und fuhr mit dem netten Kerl per Anhalter ins Naturschutzgebiet Utrisch. Eine unvergleichliche Gegend im Süden Russlands. Wacholder- und Pistazienwälder, in denen verschiedenste Leute leben, alle möglichen Hippies, aber nicht nur Hippies. Dort haben wir eine Zeitlang gelebt, dann sind wir zurückgekommen, haben gearbeitet, irgendwann habe ich gemerkt, dass ich schwanger bin und [wusste, dass ich] das Kind behalten möchte. Ich habe ja sehr früh ein Kind bekommen, mit 18 beziehungsweise 19. 

Ich habe nicht „alles anders als andere Kinder“ gemacht. Ich glaube, ich habe einfach viele Fragen gestellt

Die ersten Jahre war ich mit Philipp zu Hause, dann wurde es mir zu langweilig. Mit einem Kleinkind konnte ich mich für kein Präsenzstudium einschreiben, und ich habe nur zwei Orte in Moskau gefunden, wo man ein Fernstudium machen konnte. Irgendwann in der Mitte des Studiums habe ich im Internet gelesen, dass der Wald abgeholzt werden soll. Um da irgendeine Villa oder Datscha zu bauen. Ich habe mir zwei Adressen von Umweltschutzverbänden rausgeschrieben, WWF und Greenpeace, meinen Rucksack gepackt und bin losgefahren, um zu fragen, was ich tun kann, um das zu verhindern. 

Bei einer Adresse hat man mich zum Teufel gejagt, bei der anderen habe ich einen tollen Menschen kennengelernt, Mischa Kreindlin, den Zuständigen für Naturschutzgebiete bei Greenpeace. Ich habe ihn gefragt, was ich tun kann. Er sagte: „Geh Unterschriften sammeln. Ich drucke dir die Formulare aus. Wenn du 5000 zusammen hast, kommst du wieder.“ Ich habe mir ein paar Leute als Verstärkung geholt und wir sind los, Unterschriften sammeln.

Als wir damit fertig waren, habe ich gefragt: „Was kann ich noch machen?“ Es hieß: „Du kannst ein Piket machen.“ Damals durfte man noch diese Einzeldemos machen. Heute sperren sie dich wegen einem Einzelpiket für 30 Tage weg, aber damals war das noch ok.

Zwischen „damals“ und „heute“ liegen gerade mal 15 Jahre.
Ja. Und zwischen 2012 und 2021 liegen keine zehn, aber der Unterschied ist gigantisch. 

Vom Öko-Aktivismus zu dem Pussy Riot-Auftritt in der Christ-Erlöser-Kathedrale ist es ein ziemlich weiter Weg.
Wieso? Überhaupt nicht. Eine Freundin hat mich zu Pussy Riot gebracht, was damals noch die Gruppe Woina war. Sie haben mich in eine Garage eingeladen, in der sie zu der Zeit wohnten, das war so eine romantische WG der Leute von der Philosophischen Fakultät. 

Bei Pussy Riot sah ich plötzlich Leute, die Kunst und Politik miteinander verbanden, und das auf eine sehr coole Weise

Weißt du, meine Freunde, also die Leute von der Uni oder aus Lyrikgruppen, hatten so gar nichts mit den Leuten gemeinsam, die zum Beispiel zu den Pikets kamen. Das waren zwei unterschiedliche Welten, ohne jegliche Berührungspunkte. 
Und hier sah ich jetzt plötzlich Leute, die Kunst und Politik miteinander verbanden, und das auf eine sehr coole Weise.

ÜBER DIE REUE

Stimmt es, dass man während der Ermittlungen [nach der Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale 2011] von euch verlangt hat, Namen und Adressen der anderen Pussy Riot-Mitglieder zu nennen und ihr es nicht getan habt?
Sie haben erst Nadja [Tolokonnikowa] und mich verhaftet, Katja [Samuzewitsch] ist später von selbst gekommen. Aus Solidarität. Der Schritt ging von ihr aus. 

Und die anderen sind nicht gekommen.
Nein. Aber jeder entscheidet selbst, ob er ins Gefängnis wandern will …

Hat man von euch verlangt, die Namen der anderen zu nennen?
Irgendwie schon … Was sie natürlich immer verlangen, alle Bullen, immer und überall, seit zig Jahrzehnten, ist ein Schuldeingeständnis. Das ist das Wichtigste.

Man trifft zum ersten Mal auf das System, und das System ist grausam

Erst bringen sie dich in die Petrowka, danach erlassen sie einen Haftbefehl und bringen dich ins Untersuchungsgefängnis. Und wir sind in den Hungerstreik getreten, es war kalt. Von den Bettlaken bekam man dauernd einen kleinen Schlag. Dort gab es zum ersten Mal Handschellen, Gesicht zur Wand, Hände hintern Rücken, dunkle Zelle. Theoretisch gibt es natürlich ein Fenster, aber es ist völlig dicht durch diese Wimpern aus Metall. Tja, also all diese unerfreulichen Dinge. 

Was sind Wimpern?
Wimpern? Wie soll ich dir das erklären? Stell dir ein Fenster vor: Du hast den äußeren und den inneren Teil, außen sind solche … so eine Art Jalousien angebracht, starr sind die, aus Metall und immer geschlossen. Das sind Wimpern. 

Was für eine nette Bezeichnung.
Ja. Da gibt es viele nette Dinge. Dann kommt ein Polizist und fängt davon an, dass du ja ein Kind hast, erzählt von den anderen Beteiligten, von einem Schuldeingeständnis, davon, dass du nur jetzt mit Bewährung davonkommen kannst, ansonsten geht es in U-Haft und dann nie wieder raus, also entscheide dich mal. So läuft das.

An einer sehr ergreifenden Stelle in deinem Buch heißt es: „Am Morgen schaute Philipp Wilde Schwäne im Fernsehen. ‚Ich bin bald wieder da‘, sagte ich und packte meinen Rucksack. Er war damals vier, es waren noch drei Monate bis zu seinem fünften Geburtstag. Ich sagte ‚Ich bin bald wieder da‘, zog die Tür hinter mir zu. Und kam nach zwei Jahren wieder.“ 
Ich habe diese Stelle wieder und wieder gelesen und musste jedes Mal fast weinen. Ich verstehe nicht, was für ein Ziel du wohl hast, um diesem Ziel zwei Jahre vom Leben deines Sohnes, von vier bis sechs, zu opfern. 

Du stellst die Frage falsch. Du stellst sie so, als hätten wir alle gewusst, dass es diese zwei Jahre werden, dass es Gefängnis wird, dass es ein Verfahren geben wird. Das wusste keine von uns. 

Würdest du es nochmal machen, wenn du wüsstest, was dich erwartet?
Ja. Erstens mag ich den Konjunktiv nicht besonders. Und zweitens: Entweder du bereust etwas aufrichtig oder eben nicht.

Und du bereust es nicht?
Nein. Tu ich nicht. Aber das ist nicht leicht.

In den sieben Monaten U-Haft habe ich sehr viele Memoiren von sowjetischen Dissidenten gelesen, weil ich mir gedacht habe: Von wem, wenn nicht von ihnen, soll ich lernen? 

Man trifft zum ersten Mal auf das System, und das System ist grausam. Ich wollte gern nachlesen, was andere Menschen unter diesen Umständen gemacht haben, die vor uns dort waren. Denn das sind ja  Erfahrungen, man darf da ja nicht völlig unvorbereitet reingehen. 

Wen hast du gelesen?
Ehrlich gesagt habe ich Schalamow zum ersten Mal im Untersuchungsgefängnis gelesen. Es war eines der ersten Bücher, die man mir mitgebracht hatte. Damals haben wir erst angefangen zu verstehen, was Bücherübergaben sind. Ein Buch in die U-Haft zu bekommen, ist nicht so einfach, wie man meinen könnte. Denn sie lassen nichts durch, was irgendwas im Titel hat, das sie irritiert. Beispielsweise Hannah Arendts Abhandlung ging lange Zeit nicht, bloß weil darin das Wort „Revolution“ vorkam. Das konnte ich sehr lange nicht bekommen, weil sie dachten, es wäre eine Anleitung zur Revolution und keine historische Abhandlung. Sie sehen also irgendwo, vorn oder hinten drauf ein verdächtiges Wort und kassieren das Buch ein.

 

KAMPF FÜR DIE RECHTE

Hattest du die Idee, für deine Rechte in der Haft zu kämpfen schon in der U-Haft oder erst in der Strafkolonie?
Heute, 2021 [das Interview wurde im November 2021 geführt – dek], leben wir verglichen mit 2012 in einer super anderen Zeit. Damals gehörten wir zu den ersten, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll …

Menschen aus der soften Realität, die plötzlich im Gefängnis gelandet sind?
Ja, wir waren Politgefangene, deren Prozess die Leute wirklich schockiert hat. Heute, wenn Tausende hinter Gittern sind, ist so eine Aufmerksamkeit rein physisch gar nicht möglich, im Vergleich zu Zeiten, in denen nur ein paar Leute in Haft sind. 

Sie beginnen einen Krieg gegen dich, und du beginnst einfach nur, dich zu verteidigen. Versuchst in dem Ganzen dich selbst nicht zu verlieren. Das ist alles

Die Kommission für Menschenrechte kam zum ersten Mal in der U-Haft zu mir, als ich in der Quarantäne-Zelle war. Du kannst es dir ungefähr vorstellen: Ein Mensch ist zum ersten Mal hinter Gittern, tritt zum ersten Mal in Hungerstreik, das ganze Paket zum allerersten Mal. Man bringt dich in die Quarantäne-Zelle, um deinen Gesundheitszustand zu überprüfen. Pro forma, versteht sich. Die Polizisten wissen schon Bescheid. Was mit dir los ist. Danach wird entschieden: Entweder gehts in die allgemeine oder in die Extrazelle. 

Mir ist aus deinem Buch in Erinnerung geblieben, der erste Hungerstreik wäre wie die erste Liebe.
Ja, so etwas habe ich geschrieben. Die Menschenrechtler kamen zu mir, als ich das Gefängnis noch gar nicht wirklich gesehen hatte. Da haben mich bestimmte Dinge rein menschlich gewundert, wie wahrscheinlich jeden. Ich habe gezeigt, dass wir die Fenster mit Brotkügelchen abdichten, weil es so kalt ist. Da war nichts von wegen: „Ich erkläre dem System den Kampf und bin die neue Dissidentin des 21. Jahrhunderts.“ Es war einfach nur eine rein menschliche Aussage. Aber sie … das ist der große Unterschied bei den Leuten des Systems, sie fassen banale Ehrlichkeit als Kriegserklärung auf. Sie beginnen einen Krieg gegen dich, und du beginnst einfach nur, dich zu verteidigen. Versuchst in dem Ganzen dich selbst nicht zu verlieren. Das ist alles. Damit fängt es an. 

Wenn du dann in die Strafkolonie kommst, begreifst du das Ausmaß der Rechtlosigkeit der Menschen dort, und wie viele Möglichkeiten du im Vergleich zu ihnen hast, um dich zu wehren. 

Weißt du, wie wenige Frauen dort Anwälte haben? Höchstens fünf Prozent. 

Oxana Darowa, deine Anwältin, wie bist du an sie gekommen?
Oxana ist eine super Anwältin. Und ein Mensch, ohne den ich in der ersten Strafkolonie gar nichts geschafft hätte. Ich habe sie durch die Menschenrechtler gefunden, an die sich meine Mutter gewandt hatte. Ein Zufall. Sie ist klasse. Sie hatte die Idee, gegen die Kolonie vor Gericht zu ziehen.

Du bist der erste Mensch in Russland, der einen Prozess gegen eine Strafkolonie gewonnen hat. 
Ja. Oxana hat die den Maßnahmen angefochten, die mir auferlegt wurden, denn sie haben mir wirklich ständig Maßnahmen wegen gar nichts aufgebrummt. Wie sie es mit Millionen von Frauen machen. Mit Millionen. Und fast keine wehrt sich. Sie wollen oder können nicht. 

Maßnahmen anzufechten ist eigentlich ziemlich simpler Bullshit, der in zwanzig Minuten geprüft wird. Bei uns hat es jeweils acht Stunden gedauert. Drei von vier Maßnahmen haben wir erfolgreich angefochten. Das Gericht hat sie als rechtswidrig eingestuft. 

Sie haben mir wirklich ständig Maßnahmen wegen gar nichts aufgebrummt. Wie sie es mit Millionen von Frauen machen. Mit Millionen. Und fast keine wehrt sich. Sie wollen oder können nicht

Und weil ich in Zusammenhang mit den rechtswidrig auferlegten Maßnahmen schon das Kreisgericht in Beresniki als Plattform hatte, habe ich auch über andere rechtswidrige Dinge gesprochen, die in der Kolonie passieren. Und weil Menschen diese Informationen verbreitet haben, gab es irgendwann Kontrollen. Erst auf regionaler Ebene und später offenbar auch aus Moskau. Danach haben sie mich verlegt. Und eine kleine süße Hölle für mich veranstaltet, eine Reihe höllischer Durchsuchungen.

Und da haben sie wegen dir die anderen bestraft …
Genau. Sie haben Schlösser an die Türen der Gruppe gehängt, in der ich war. Dadurch konnten die Frauen beispielsweise nicht mehr in die Krankenabteilung, um Medikamente zu holen. Oder sonstwohin.

 

ÜBER DIE FRAGE: WAR ES DAS WERT?

Hattest du den Gedanken, dass du für etwas Abstraktes kämpfst? Während reale Menschen unmittelbar in deiner Nähe deswegen leiden? Nur weil du keine Ruhe geben kannst?
Klar. Solche Gedanken lassen sich nicht vermeiden, und falls du es versuchst, erinnern sie dich schnell daran.
Ja. Das ist schwer. Weil manche deswegen nicht auf Bewährung rauskommen und noch ein paar Jahre sitzen müssen.

Und ihre Kinder nicht sehen.
Und ihre Kinder nicht sehen. Einfach nur, weil ich in ihrer Gruppe bin.

Fragst du dich an dieser Stelle, ob es das wert war?
Natürlich.

Und was sagen die Frauen, die es betrifft?
Die Frage ist falsch gestellt. Eine Frau darf ihre vorzeitige Entlassung nicht verlieren, nur weil sie mit mir in einer Gruppe ist. 

In Beresniki hast du erreicht, dass es für jedes Stockwerk ein Telefon gibt und nicht nur eins im Straflager, wo man nur einmal im Monat telefonieren darf, richtig? Du hast erreicht, dass es Fernseher gibt.
Naja … Ich mag nicht, wenn du sagst, ich hätte es erreicht. Es war nicht ich, wir waren es. Allein hätte ich das nie geschafft.

Es reicht nicht, wenn du kurz was änderst und denkst: Jetzt läuft alles super. Veränderung braucht, wie im Grunde jeder Kampf für die Freiheit, täglichen Einsatz

Meine Anwältin, die Leute, die aus Moskau kamen, um mich zu unterstützen und über die Prozesse zu berichten. Ein bisschen auch die regionalen Menschenrechtler, die teils mit der lokalen Verwaltung zusammenarbeiten, aber in dem Fall hatten auch sie sich eingeschaltet. 

Und die Frauen, die keine Angst hatten, mit dir wenigstens eine zu rauchen …
In Beresniki war das leider nur eine Person. Lena, eine junge Frau, sie hat einfach nur bestätigt, dass ich nicht lüge. In Nishni [Nowgorod] waren es schon fünf, die zu den Menschenrechtlern gegangen sind. Aber da sind die Menschenrechtler auch sehr cool. An anderen Orten weißt du, dass jemand zu dir kommt, mit dir redet und danach mit den Bullen saufen geht. Du lieferst dich nur ans Messer, du weißt, dass du etwas tust, womit du dir dein Leben sehr schwer machst, und der Pseudo-Menschenrechtler unternimmt nichts dagegen. 

Gut, ihr habt also zusammen erreicht, dass es Fernseher, Telefone, Besuchsmöglichkeiten, Kopftücher und Lohn gab.
Wir haben durchgesetzt, dass es Klokabinen gibt, bei denen man die Tür zumachen kann. Wir haben durchgesetzt, dass es in jeder Gruppe ein Telefon gibt, nicht nur zwei Stück im Klub mit einem Monat Wartezeit. Und es gab eine Reihe von Entlassungen.

Und warme Kopftücher.
Ja, die auch, ganz am Schluss. Die Kopftücher waren eigentlich das, womit alles anfing. Aber auch da hatte ich nicht vor, die Verwaltung irgendwie anzugreifen, ich hab den Menschenrechtlern einfach nur gesagt, dass wir minus 35 Grad haben und die uns irgendwelche Gazetüchlein geben. Und die Frauen bekommen keine Wolltücher, weil sie niemanden haben, der sie ihnen schicken würde. Und dass es vermutlich falsch ist, in den Ural Tücher aus Gaze zu liefern, weil wir bei minus 40 Grad draußen im Schnee zum Appell antreten müssen. Dafür musste ich in Einzelhaft. 

Später wurdest du in eine andere Kolonie verlegt und bist dann per Amnestie freigekommen. Was ist aus den Tüchern, Telefonen und dem Lohn geworden?
Nun ja … die Telefone kann man nicht so einfach abmontieren und wegschmeißen. Das haben sie also nicht getan. Aber ansonsten ist natürlich alles schlechter geworden. Es reicht nicht, wenn du kurz was änderst und denkst: Jetzt läuft alles super. Veränderung braucht, wie im Grunde jeder Kampf für die Freiheit, täglichen Einsatz. Ansonsten löst sie sich in Luft auf. 

 

ÜBER DAS STRAFSYSTEM

Warum hat es dich so aufgeregt, dass du amnestiert wurdest?
Es hat mich nicht aufgeregt, aber … Amnestie, das ist … Was ist Amnestie streng genommen?

Ein Akt der Barmherzigkeit durch den Staat.
Eben. Ein Akt der Barmherzigkeit Putins. Also: Weil es totale Heuchelei ist, weil von einem großen „Akt der Barmherzigkeit und Begnadigung“ gesprochen wird, zwei Monate vor Ablauf unserer Haftstrafe und die sich groß auf die Fahnen schreiben, sie würde alle Frauen mit minderjährigen Kindern begnadigen, die unter Paragrafen einsitzen, die eine gewisse Schwere nicht übersteigen. Schlussendlich werden dann nur ein paar begnadigt. Außerdem weil ich diese Begnadigung nicht gebraucht hätte, ich hätte die zwei Monate schon noch irgendwie absitzen können. Weil völlig klar ist warum: Ich höre doch, was sie im Fernsehen sagen und weiß, warum sie das kurz vor den Olympischen Spielen tun. 

Das Land, in das wir entlassen wurden, war ein völlig anderes als das, in dem man uns zuvor eingesperrt hatte – das war klar. Aber wir haben es nicht sofort verstanden. Sondern wahrscheinlich erst mit den ersten Überfällen.

Was ist die wichtigste Erfahrung aus der Kolonie?
Russland ist sehr unterschiedlich. Erstens. Und zweitens: Das lässt sich nicht in einem Satz sagen … Es gab einfach Dinge, mit denen ich in diesem Ausmaß vorher nie zu tun gehabt hatte: Verrat zum Beispiel.

Verrat unter den Häftlingsfrauen?
Ja. Natürlich. Das schockiert. Dass es kein Einzelfall ist, sondern dass es System hat, von beiden Seiten. Das System bringt dir bei, mit einer Frau von einem Teller zu essen, danach aufzustehen und sie zu denunzieren, sie zu verraten, ihr eine Rasierklinge in die Schublade zu schmuggeln, sie um ihre vorzeitige Entlassung zu bringen. Das alles bringen sie dir bei und es funktioniert.

Das System bringt dir bei, mit einer Frau von einem Teller zu essen, danach aufzustehen und sie zu denunzieren

Das ist ein System, das irreversible Folgen hat. Ich bin absolut überzeugt, dass ein Mensch, insbesondere im heutigen Russland, nach vier oder fünf Jahren überhaupt keine Chance mehr hat, ein neues Leben zu beginnen. Man gewöhnt sich daran, so zu leben. Er landet wieder im Gefängnis. Das gilt für 70 Prozent. Warum? Weil das System dir nur beibringt, dort zu bleiben. Man gilt als vorbestraft, findet keine Arbeit, kann nicht mehr anders leben, ist es gewohnt, dass andere für einen entscheiden, dass es ein klares Koordinatensystem gibt, in dem man, um zu überleben, bestimmte Dinge tun muss. Und ich rede gar nicht von irgendeiner Wiedereingliederung, einem normalen Job oder sonst noch was, nicht mal vom schlichten Erhalt deiner Gesundheit ist die Rede. Dieses System tötet den Menschen und alles Menschliche im Menschen.

Ich freu mich sehr, wenn ich Ausnahmen sehe! Das ist wirklich ein super Fest! Wow! Ich bin tatsächlich nicht als einzige zu den Menschenrechtlern gegangen, sondern noch vier andere. Aber diese vier kassieren dann solche Repressionen und niemand kriegt es mit. Sie verlieren alles. Besuchszeiten, Telefonanrufe, sie kommen in Isolationshaft, in diesen Strafbunker …

Du gehst zum Menschenrechtler, zeigst die Quittung von deinem Lohn über 300 Rubel – und dein Leben wird für den Rest der Strafzeit zur Hölle. 

Das russische Gefängnis ist nicht auf dem Mars, es ist ein Spiegel dessen, was wir in unserer Gesellschaft haben. Und unsere Gesellschaft ist patriarchal, natürlich ist das politischer Wille, unsere die sogenannte „Regierung“. Und zwar immer mehr, das wird finanziell gefördert, über das Bildungssystem vermittelt, über die Propaganda, den staatlichen Kulturbetrieb und so weiter. Dementsprechend begreift sich die Frau nicht als handelndes Subjekt. 

Das russische Gefängnis ist nicht auf dem Mars, es ist ein Spiegel dessen, was wir in unserer Gesellschaft haben

Und im Gefängnis setzt die Verdrängung ein: Das alles passiert nicht mit mir; das bin nicht ich hier im Gefängnis, es muss ein furchtbarer Irrtum sein; ich habe falsch gelebt, einen Fehler gemacht, aber die Strafe ist schnell abgesessen, egal, was ich da für einen Mist erzähle, wie oft ich die anderen Frauen denunziere, mit denen ich von einem Teller esse, wie viel Lohn ich bekomme, egal, wie weit ich hier drin gehe, ich komme sehr bald raus und dann fange ich ein neues Leben an. 

Dieses System tötet den Menschen und alles Menschliche im Menschen

Und was macht die Knastverwaltung? Sie setzt auf eine weitere klassisch patriarchale Methode: Du bist doch eine Frau, du hast Kinder, willst du zu deinen Kindern? Was spielst du dich dann so auf? Wenn du so weitermachst, streichen wir dir die Telefonanrufe und Besuchszeiten. Dann siehst du deine Kinder gar nicht mehr.

 

STIMME FÜR DIE ANGEKLAGTEN: ÜBER DIE PLATTFORM MEDIAZONA UND ÜBER DIE ZENSUR

Du bist Mitbegründerin einer der wichtigsten russischen journalistischen Plattformen: Mediazona. Wie ist sie entstanden? Ihr habt sie ja zu dritt gegründet, du, [Nadja] Tolokonnikowa und [Pjotr] Wersilow
Wir haben erst die Sona Prawa (dt. Zone des Rechts) gegründet, aber nach wenigen Monaten wurde uns klar, dass man nicht als Menschenrechtler aktiv sein kann, ohne zu sagen, was das ist..

Aber hattet ihr die Idee in Haft oder erst draußen?
Teils, teils, glaube ich. Die ganze Geschichte mit den Menschenrechten begann, als Nadja [Tolokonnikowa] und ich in die Strafkolonie kamen. Und gesehen haben, was da passiert. Denn keine von uns hätte sich das je vorstellen können. Es ist sehr leicht, im Stillen Böses zu tun, wenn es keiner mitbekommt. In einem abgeriegelten, dunklen Büro. Aber jede Öffentlichmachung der Willkür in den Gefängnissen bremst einges. Es hört nicht auf, aber wird gebremst. Sie werden vorsichtiger. 

Aber Mediazona wurde zum ausländischen Agenten erklärt [seit 6. März 2022 ist die Seite in Russland außerdem blockiert, zuvor forderte die Medienaufsichtsbehörde die Liquidation des Mediums wegen „Falschinformation“ über den Krieg in der Ukraine – dek]. Heute ist es das einzige Medium, das detailliert und fundiert über alle Gerichtsprozesse berichtet … Vermutlich wird es diese Möglichkeit mit dem neuen Status nicht geben oder wird sie merklich eingeschränkt werden?

Die Möglichkeit über Gerichtsprozesse zu berichten, wurde grundsätzlich eingeschränkt, durch Manipulation, weil der Staat wegen Covid verfügt hat, dass die Verhandlungen nicht mehr öffentlich sind. Einfach so. Das ist ein gewaltiger Sprung in die Vergangenheit. Nicht-öffentliche Prozesse sind ein superkrasser Marker eines totalitären Staates.

Jede Öffentlichmachung der Willkür in den Gefängnissen bremst einges. Es hört nicht auf, aber wird gebremst. Sie werden vorsichtiger

Ich kann gar nicht beschreiben, wie schlimm das ist. Deswegen sind die Probleme bei der Berichterstattung über die Prozesse sowieso schon da. Und dass sie Mediazona als ausländischen Agenten einstufen würden, war abzusehen. Für alle. 

Ich würde lügen, würde ich sagen, dass es mich schockiert hat. Hat es nicht. Das war die logische Fortsetzung dessen, was der Staat gegenwärtig tut, leider. Ich bin zweifellos glücklich, dass wir Mediazona gegründet haben. Und dass sich in ein paar anderen Medien eine gewisse Tradition herausgebildet hat, über Häftlinge und Polizeigewalt zu berichten.

Mit welcher Reaktion der Regierung würdest du dich wohlfühlen?
Angenehm wäre mir, diese Regierung würde … sich schlicht verpissen. Und in den Knast wandern.
 

ÜBER DIE ANGST

Ich zitiere dich mal: „Angst ist eine Sache, die nicht objektgebunden ist. Wenn Angst aufkommt, bin ich immer dafür, sie zu überwinden.“ Wie übst du, deine Angst zu überwinden? 
Eigentlich wachsen wir nur durch Überwindung. Wie sonst? Wenn du in einem Raum mit gepolsterten Wänden sitzt, wirst du wohl kaum Erfahrungen sammeln und daran wachsen. Im Prinzip hinterlässt jede Erfahrung Spuren.

Aber die Angst ist ein grundlegender Selbsterhaltungstrieb. Wenn du leben willst, musst du ihm folgen.
Aber … bist du es noch du selbst, wenn die Angst dein Handeln bestimmt?

Schau mal, Mascha, du bist so klein, zierlich, jung. Glaubst du wirklich, dass es in deiner Kraft steht und in deiner Macht liegt, dieses ziemlich mächtige System zu besiegen?
Nun, hängt davon ab, was du unter „besiegen“ verstehst. Natürlich habe ich keine Panzer und Granatwerfer, und der Fernsehturm von Ostankino gehört mir auch nicht. Das nicht. Aber ich habe ein Gewissen und den Wunsch, ich selbst zu bleiben. Mich selbst in meinem Handeln nicht zu belügen.

Reicht das aus, um keine Angst zu haben? 
Wie soll ich denn wissen, was ausreicht, um keine Angst zu haben. Das kann ich dir echt nicht sagen. Angst funktioniert ja nicht so, dass du plötzlich Angst vor meinetwegen Putin oder dem Gefängnis hast. Ein Mensch hat meistens Angst, weil er Angst hat, weil die Angst in seiner Seele auftaucht und beginnt an ihr zu nagen. Es ist ja nicht so, dass ich nie Angst hätte, klar hab ich manchmal Angst. Manchmal heule ich, manchmal schmeiße ich Sachen durch die Gegend, fühle mich bescheuert, aber wichtig ist, was du tust.

Klar hab ich manchmal Angst. Manchmal heule ich, manchmal schmeiße ich Sachen durch die Gegend

Nachdem ich den Text herausgeschmuggelt hatte, den ich meiner Anwältin gegeben hatte, den Text über die Strafkolonie, musste ich vor jedem weiteren Termin zu einer gynäkologische Untersuchung. Du weißt, was gynäkologische Untersuchung heißt? Du musst auf einen gynäkologischen Stuhl und jemand wühlt in deiner Vagina herum. Das ist demütigend und unangenehm. 

Und du hast keine Angst, da noch einmal durch zu müssen?
Nein, habe ich nicht. Ich habe keine Angst. Aber diese Situation macht mich wütend. Und natürlich, wenn du dann noch deine Tage hast und die dich schon wieder auf diesen verfickten Stuhl zwingen, die Situation insgesamt, deswegen habe ich geweint.

Und du bist bereit, für das alles dein Leben herzugeben?
Wir sind hier ja nicht auf dem Markt.

Dennoch.
Wir sind nicht auf dem Markt.

Gib mir eine klare Antwort. Glaubst du wirklich, dass du dieses System besiegen kannst, zu deinen Lebzeiten …
Ich glaube nicht, dass ich es allein kann. Aber wenn jeder ein bisschen was tut, dann ist es schon machbar.

Und glaubst du daran, dass es viele solche Leute gibt?
Ich denke, dass Menschen sich gegenseitig inspirieren können, etwas zu tun. Und dann ist alles möglich.

 

ÜBER RUSSLANDS ZUKUNFT

Kann Russland eine Frau als Präsidentin haben?
O, ich glaube, das wäre supercool … Zum einen, weil wir dann faire Wahlen hätten, und zum anderen, weil das wirklich großartig wäre. Ich denke, das würde uns als Land sehr guttun. Wir hatten ja bisher nicht nur keine Präsidentinnen, wir hatten nicht einmal richtige First Ladies. Außer vielleicht Raissa Maximowna [Gorbatschowa]. Wir kennen nicht mal die Kategorie. 

Wir hatten ja bisher nicht nur keine Präsidentinnen, wir hatten nicht einmal richtige First Ladies

Sieh dir westliche Länder an. Jedes Land hat eine First Lady. Sie ist meistens eine politische Figur, aber auch eine öffentliche Person, die sich oft der Wohltätigkeit widmet. Also auch eine Art Role Model. Wir haben nicht einmal das. Wir haben ein Verbot, ein regelrechtes Tabu über, wie heißt es so schön, das „Privatleben“ des Präsidenten zu sprechen, das für keinen denkenden Menschen je ein Role Model sein könnte. 

Mal ernsthaft. Die ehemalige First Lady [Ljudmila Putina, von der Wladimir Putin inzwischen geschieden ist – dek] wurde wie Rapunzel vor allen versteckt. Und wirklich das gesamte Land wusste von mindestens einer Geliebten. Ist das eigentlich ok für einen Typen, der sich selbst bei unzähligen Interviews als echter Mann präsentiert?

Er ist „mit Russland verheiratet“. Wärst du gern Präsidentin von Russland?
Ich glaube, so groß bin ich noch nicht.

Also, wenn du dann groß bist …
Na, wenn ich groß bin, wäre es vielleicht ganz interessant, sich auch mit der klassischen Politik zu beschäftigen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das könnte.

Such bitte was aus: Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit?
Widersprechen die sich denn? Warum? Ich finde …

Du kannst einen Schuldigen begnadigen oder bestrafen.
Ich war immer der festen Überzeugung, dass ich für Gerechtigkeit kämpfe, dabei würde ich nicht sagen, dass ich kein barmherziger Mensch bin. Ich bin nicht böse.

Wahrheit oder Sicherheit?
Wahrheit.

Freiheit oder Stabilität?
Das fragst du noch? Freiheit, natürlich. Aber die sollte der Stabilität eigentlich nicht widersprechen.

Russland oder Familie?
Warum muss ich zwischen meinem Land und meiner Familie wählen? Wo sind wir denn? Wir haben 2021, es ist das 21. Jahrhundert, warum sollen wir zwischen unserem Land und unserer Familie wählen müssen? Was ist das für ein Scheiß? Das darf nicht sein. Die Frage ist falsch gestellt. Falsch, mag ich nicht.

Wenn sich die Frage irgendwann stellen sollte. Wenn du wählen müsstest, ob deine Liebsten bei dir sind sind und alles gut ist, oder …
Oder was?

Oder du bist für Russland.
Warum kann ich denn nicht mit meinen Liebsten für Russland sein? Die sind ja auch für Russland.

Weil ihnen was passieren könnte.
Das ist doch Erpressung.


Mitte Mai 2022 ist Maria Aljochina aus Russland geflohen – dek.
 

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Pussy Riot

Internationales Aufsehen erregte am 21. Februar 2012 ihr Punkgebet in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale – und vor allem der anschließende Prozess, bei dem zwei Mitglieder zur Haft im Straflager verurteilt worden waren. Auch wenn sich die Ursprungsgruppe inzwischen aufgelöst hat, traten sie beim Finalspiel der Fußball-WM 2018 erneut in Erscheinung. Matthias Meindl über die Kunstaktivistinnen von Pussy Riot.

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Am 6. Mai 2012 wurden beim Marsch der Millionen nach Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und Polizei etwa 650 Menschen verhaftet. Mischa Gabowitsch über den Bolotnaja-Prozess und die vorangegangenen Proteste 2011/12.

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Absichtlich die Regeln des Straflagers zu überschreiten? Manche Frauen trauen sich dies, um wenigstens einige Tage in einer Straf-Einzelzelle für sich sein zu können. Beate Fieseler über fehlende Privatsphäre, harte Arbeit und andere Widrigkeiten, die den Alltag in Frauenstraflagern prägen. 

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Pussy Riot

Pussy Riot ist eine Gruppe von Kunstaktivistinnen. Ab Herbst 2011 traten Frauen in Sturmhauben und bunten Kleidern moskauweit an öffentlichen Orten mit feministisch motivierten Punkperformances auf. Den Höhepunkt bildete im Frühjahr 2012 der Auftritt mit dem Punkgebet in der Christ-Erlöser-Kathedrale. Für zwei der Mitglieder endete der anschließende Prozess mit Haft im Straflager. 

Am 7. November 2011 kam es an öffentlichen Orten in Moskau zu wilden Spektakeln. Auf einmal standen da drei Frauen mit grellbunten Kleidern und Sturmmasken auf einer Arbeitsbühne in einer Metrostation und später auf dem Dach eines Trolleybusses. Zu Punk-Klängen aus einem portablen Abspielgerät brüllte die eine in ein Mikrophon, die andere krachte auf einer E-Gitarre, alle drei sprangen wild herum. Die Schaulustigen dürften den vorgetragenen Text wohl kaum verstanden haben. Auf dem Blog von Pussy Riot war jedoch bald das Musikvideo zu sehen, zu dessen Produktion die Konzerte gedient hatten – Leg das Pflaster frei!  war der erste Hit von Pussy Riot, gesungen über das geloopte Riff eines Oi-Punk-Klassikers.

Als nur vier Monate später dieselben drei Frauen für ihren Auftritt in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale verhaftet worden waren, bezeichnete man sie in den Medien häufig als Punkband. Zwar waren die jungen Frauen sicherlich begeistert von der rohen, negativen Energie des Punk, sie ließen jedoch auch keinen Zweifel daran, dass sie ihn in den Dienst einer Kunstaktion stellten. Kenner der Aktionskunst wie der Veteran des Moskauer Aktionismus der 1990er Jahre Anatoli Osmolowski, erkannten daher auch intuitiv: Die eigentlichen Vorläufer von Pussy Riot waren weniger im Riot Grrrl Movement, der weiblichen Aneignung des Hardcore in den 1990er Jahren zu suchen, als in Künstlerinnen-Gruppen wie den Guerilla Girls. Deren Gorillamasken erfüllen eine ähnliche Funktion wie die Sturmhauben von Pussy Riot: Sie anonymisieren den weiblichen Protest. Der Blog von Pussy Riot listete etwa ein Dutzend Pseudonyme von Aktivistinnen auf.

 

 

Wie die Künstlergruppe Woina, in der zwei der später verhafteten Aktivistinnen, Nadeshda Tolokonnikowa und Jekaterina Samuzewitsch, tätig gewesen waren, war Pussy Riot exzentrische Weggefährtin der russischen Oppositionsbewegung, deren Demonstrationstätigkeit um den Jahreswechsel 2011/2012 ihren Höhepunkt erreichte. Im Dezember traten sie mit dem Song Tod dem Gefängnis, Freiheit dem Protest! auf. Sie sangen auf einem Schuppen vor einem Moskauer Untersuchungsgefängnis, in dem verhaftete Demonstranten festgehalten wurden, im gleichen Monat sangen sie auf dem Roten Platz Revolte in Russland – Putin hat sich eingepisst. Auch dies war noch nicht strafwürdig, erst die Aktion in der Kathedrale führte zur Anklage von Tolokonnikowa, Samuzewitsch und Maria Aljochina.

Obwohl die Anklage im Prozess das erste Mal den 2007 verschärften Chuliganstwo-Artikel (Störung der öffentlichen Ordnung)1 bemühte, gehört der Prozess aufgrund des zugeschriebenen Motivs der „Verletzung religiöser Gefühle“ in eine Reihe mit den Kunstgerichtsprozessen gegen die Ausstellungen Achtung, Religion! und Verbotene Kunst. Zwar hatten sich die Frauen in ihrem Punkgebet ja gerade an die Gottesmutter gewandt, sie möge doch Putin verjagen, doch wurden die Frauen nicht wie politische Aktivistinnen, sondern wie diabolische Junghexen behandelt. Jede politische, künstlerische oder auch nur kulturelle Facette ihrer angeblich blasphemischen Handlungen sollte ausgeblendet werden. Ihr aus der Punk-Szene übernommener Pogo-Tanz wurde so zum Veitstanz umgedeutet. Zeugen der Verteidigung wie die Theologieprofessorin Jelena Wolkowa oder der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wurden nicht zugelassen, kirchliche Kodizes durchziehen die Urteilsbegründung – für Tolokonnikowa und Aljochina endete der Prozess mit Straflager, Samuzewitsch erhielt eine Bewährungsstrafe.

Während das Urteil im Ausland mit großer Empörung aufgenommen wurde, ging das innenpolitische Kalkül der Kampagne gegen Pussy Riot durchaus auf. Insbesondere die vom Lewada-Zentrum für Meinungsforschung regelmäßig durchgeführten Umfragen zum Prozess dokumentieren, dass die massenmediale Inszenierung der Ereignisse um Pussy Riot in den kunst- und oppositionsfernen Schichten der russischen Bevölkerung der Regierung Putin merkliche Unterstützung brachte. Und das  in einer Zeit, in der sie durch Vorwürfe der Korruption und Wahlfälschung unter Druck geraten war.

Seit Tolokonnikowa und Aljochina wieder auf freiem Fuß sind, leihen sie ihren politischen Zielen ihre von der Staatsmacht gewaltsam entblößten, medienwirksamen Gesichter. Neben der Gründung einer NGO, die sich für Gefangenenrechte in Russland einsetzt, kam es zu diversen Interaktionen mit big Politics, Musik- und Showbusiness. So traten Pussy Riot in einer Folge der Netflix-Serie House of Cards auf und produzierten für den Abspann mit Johanna Fateman der Riot-Grrrl-Band Le Tigre ein Musikvideo für den Abspann. Auf dem alten Blog von Pussy Riot kritisierten anonym gebliebene Aktivistinnen den „Ausverkauf“ von Pussy Riot scharf. Im Sommer 2015 beging die Frau mit der Sturmmaske virtuellen Selbstmord auf dem ursprünglichen Blog von Pussy Riot. Bemerkt hat diese Auflösung der Ursprungs-Gruppe jedoch kaum jemand.

Zur Fußball-WM 2018 in Russland traten Mitglieder der Gruppe erneut in Erscheinung, als sie zum Endspiel in Polizei-Kostümen auf das Spielfeld rannten, um so auf eingeschränkte Meinungsfreiheit im Gastgeberland aufmerksam zu machen. Sie forderten unter anderem die Freilassung aller politischen Gefangenen im Land. Für ihre Aktion wurden vier Mitglieder von Pussy Riot zu 15 Tagen Haft verurteilt. Einer von ihnen, Pjotr Wersilow, kam am 11. September mit plötzlichen Sehstörungen und anderen Symptomen ins Krankenhaus. Als er schließlich in der Berliner Charité behandelt wurde, sprachen die Berliner Ärzte von einer „hohen Plausibilität“ dafür, dass Wersilow vergiftet wurde. Nach seiner Entlassung sprach er mit dem russischen Exil-Medium Meduza und sagte, dass er den Grund für die Vergiftung nicht in der Aktion beim WM-Endspiel, sondern bei seinen Recherchen in der Zentralafrikanischen Republik sehe. Dort waren Ende Juli drei russische Journalisten unter ungeklärten Umständen ermordet worden.
Nur zwei Tage nach dem  WM-Finale kam Pussy Riot erneut in die Schlagzeilen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte fest, dass die Russische Föderation mit ihrem Urteil über das Punk-Gebet in der Christ-Erlöser-Kathedrale die Menschenrechte der Aktivistinnen verletzt hatte. Russland muss nun Schmerzensgeld und Schadensersatz an die Verurteilten zahlen. Da der Oberste Gerichtshof Russlands schon im April 2018 eine Entscheidung des EGMR mit Schulterzucken quittierte, bleibt es fraglich, ob Russland tatsächlich die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzung gegenüber Pussy Riot-Mitgliedern übernehmen wird.


1.In der Form, in der er zur Anwendung kam, besteht der Artikel seit 2007. Damals hatte eine Gesetzesänderung auch nichtgewaltsame Handlungen unter strafrechtliche Verfolgung gestellt, wenn sie die „öffentliche Ordnung grob verletzen“, indem sie z. B. durch „politischen, ideologischen [...] religiösen“ Hass eine „tiefe Verachtung der Gesellschaft“ deutlich machen. Für einen Überblick über die Gesetzesänderungen siehe Livejournal Rimma Poljak: Kakie izmenenija preterpela pri Putine statʼja 213 UK RF «Chuliganstvo» 
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Pjotr Pawlenski ist nach Vorwürfen sexueller Gewalt aus Russland geflohen und sucht Asyl in Frankreich. Sandra Frimmel beschreibt die Arbeiten des Performancekünstlers aus St. Petersburg, der in seinen politischen Aktionen plakative Bilder für staatliche Repressionen und die Apathie der Bevölkerung schafft.

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Die Gruppe Woina führte in Russland in den Jahren 2007 bis 2010 spektakuläre Aktionen durch, die auch auf Internetforen rege diskutiert wurden. Woina griff aktuelle Themen der russischen Gesellschaft auf (zunehmend autoritäre Regierung, Fremdenhass, Homophobie)  und inszenierte sie als politische Konzeptkunst.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)