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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Andrej Kontschalowski

Kaum ein anderer russischer Filmemacher ist so schwierig zu entschlüsseln wie Andrej Kontschalowski. Diskussionsstoff liefert er selbst – mit seinen Filmen und Theaterstücken, mit seinen Aussagen, mit seiner gesellschaftlichen Position, die eine eindeutige Kategorisierung schwierig bis unmöglich macht. 

Fest steht, dass Kontschalowski in den verschiedensten Lagern hohes Ansehen genießt — und das schon seit mehreren Jahrzehnten. Ehemals Opfer der Anti-Tauwetter-Zensur, trat er zuletzt immer wieder als Gesellschaftskritiker auf: Am Pranger stand nicht nur die russische Mentalität, sondern vor allem die antirussische Haltung des Westens. 

Diese zwiespältige Wende vom internationalen Liberalen-Kosmopoliten zum nationalen Konservativen deutet sich auch in seinen beiden letzten Filmen an, Belyje Notschi Potschtaljona Alexeja Trjapitsyna (dt. Die Weißen Nächte des Postboten Alexej Trjapizyn, 2014) und Rai (dt. Paradies, 2016), die ihm beim Internationalen Filmfestival in Venedig jeweils den Silbernen Löwen für die Beste Regie einbrachten. 

Foto © Mikhail Katasonov/WikipediaBevor man über den Theater- und Filmemacher Kontschalowski spricht, erfolgt üblicherweise der Hinweis auf den Stammbaum. Immerhin haben wir es mit einem der beiden Söhne der Dynastie Sergej Michalkow (1913-2009) zu tun. Jenem honorierten Schriftsteller, der für den Text gleich beider Hymnen (der alten sowjetischen wie der neuen russischen) verantwortlich zeichnen durfte und Kinderliteratur für Generationen an Sowjetbürgern verfasste. 
Die familiäre „Vorbelastung“ macht Andrej Kontschalowski aber seit Beginn seiner Filmkarriere 1960 – davor studierte er Klavier – in erster Linie zum Bruder: des um acht Jahre jüngeren und berühmteren Nikita Michalkow, dessen patriotisch-imperialistischen Töne (in seinen Filmen ebenso wie den öffentlichen Auftritten) längst seinen einstigen Ruhm als Starschauspieler und -regisseur überdecken. 

Kontschalowski versus Michalkow

Kontschalowski suchte die soziale Distinktion zunächst über seinen Namen, wollte nicht der sein, als der er geboren wurde (Andrej Michalkow), sondern war zunächst Andrej – vielmehr Andron – Kontschalowski-Michalkow und dann nur noch Kontschalowski. Die beiden Hälften des geerbten Doppelhaus-Anwesens waren jahrelang von Brüdern bewohnt, die füreinander nur verächtliches Schweigen übrig hatten. 
Michalkow mischt politisch aktiv mit, unterstützte in den 1990er Jahren öffentlich Boris Jelzin, was er 20 Jahre später als großen Fehler bezeichnete. Er warb von Beginn an offen für Putin, ruinierte den altehrwürdigen sowjetischen Filmverband und forcierte, besonders seit der Ukraine-Krise, die Spaltung der intellektuellen Landschaft. 
Kontschalowski hingegen, der 1980 nach Hollywood gegangen war – eine sehr produktive und halbwegs erfolgreiche Phase seiner Regie-Karriere (mit Filmen wie Maria’s Lovers, 1983 oder Runaway Train, 1985) – hielt sich nach seiner Rückkehr nach Russland Anfang der 1990er Jahre in politisch unbedarfteren Nischen des Kulturlebens auf: Er inszenierte die russischen Klassiker (insbesondere Tschechow) auf den vordersten Bühnen des Landes (wie er sie in den 1970er Jahren verfilmt hatte), entfachte gemeinsam mit seiner fünften Gattin, Julia Wyssozkaja, durch die TV-Sendung Jedim doma (dt. Essen wir zuhause) einen kulinarischen „home food“-Boom und galt weithin als internationaler Repräsentant eines amerikanisch-französisch-russischen Kinos mit mehreren Wohnsitzen und Reisepässen. 

In Filmkreisen aber steht Kontschalowski für den nonkonformistischen Denker, der die zentralen historischen Krisen Russlands in filmischen Meisterwerken reflektiert hat: die Revolutions-Krise, die Sozialismus-Krise, die Ökologie-Krise sowie den Tschetschenien-Krieg

Naturalistisches Sezieren der Alltagsmomente

Den Anfang machte 1965 sein kritisch-poetischer Blick auf die Oktoberrevolution: Perwy Utschitel (dt. Der erste Lehrer, 1965) setzt (und deutet) Tschingis Aitmatows gleichnamige Erzählung in Schwarz-Weiß und mit semidokumentarischen Mitteln kreativ um. Der Film wurde damit zu einem zentralen Vertreter der Schestidesjatnik-Kultur, der Aufbruchsstimmung eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ der frühen 1960er Jahre. Anders als sein fünf Jahre älterer Kollege Andrej Tarkowski, der wie er die Filmhochschule WGIK in der Regie-Klasse Michail Romms absolvierte und mit dem er das Drehbuch zu dessen Filmen Iwanowo Detstwo (dt. Ivans Kindheit) und Andrej Rubljow verfasste, ist Kontschalowski an einem fast naturalistischen Sezieren konkreter historischer Alltagsmomente interessiert. 

Den ästhetischen Höhepunkt dieses beobachtenden, scheinbar amateurhaften Kinos stellt dabei zweifellos der 1966 gedrehte Skandalfilm Istorija Asi Kljatschinoi, kotoraja ljubila, da ne wyschla samush (dt. Die Geschichte Asja Kljatschinas, die liebte, aber nicht heiratete, 1966) dar. Hier stehen nicht mehr die Ideale der Revolution, sondern die Realismen des Sozialismus im Zentrum, genauer: das Leben einer einfachen Frau in einer Kolchose. 
Mit dieser Art direct cinema, von Laien dargestellt, im Dialekt gesprochen und mit unverfälschten Außenaufnahmen, war beim sowjetischen Filmsystem nichts zu holen: Der Film wurde einer der berühmten Regalfilme, Kontschalowski ungefragt zum Dissidenten und in den Perestroika-Jahren, als der Film hervorgeholt wurde, zum Star. 

Das vierteilige Erdöl-Katastrophen-Epos Sibiriada, realisiert 1978 – als der Regisseur mit der Sowjetmacht endgültig auf Kriegsfuß stand – brachte ihm den Grand Prix in Cannes ein, während das vom medizinischen Personal verlassene, tschetschenisch-inguschetische Dom Durakow (dt. Das Irrenhaus, 2002) zu einer paradoxen Metapher für das postsowjetische Russland wurde.

Liberalismus versus Konservatismus

„Patriotismus fängt mit der Möglichkeit an, das Land zu verlassen“1, sagte Kontschalowski immer wieder in Interviews und betont damit, dass man sein Land besonders dann lieben lerne, wenn man auch andere gesehen hat. Er selbst nutzte diese Möglichkeit großzügig: Noch nach seiner Rückkehr aus den USA Anfang der 1990er Jahre drehte er den Fernsehfilm Odyssee, der 1997 auf NBC lief und zwei Emmys gewann. Viele seiner Filme, wie auch der letzte Film Rai, sind internationale Co-Produktionen, an denen neben Russland auch die USA, Deutschland, Frankreich und weitere Länder beteiligt sind. 

So gibt sich Kontschalowski als Grenzgänger – und zwar nicht nur zwischen verschiedenen Ländern und Kulturen, sondern auch zwischen politisch-philosophischen Strömungen, zwischen Konservatismus und Liberalismus. Daneben scheint er aber auch darauf bedacht, sich jenseits dieses bipolaren Schemas zu zeigen. 

2012 unterschrieb Kontschalowski einen offenen Brief oppositioneller Kulturschaffender zur Unterstützung der Gruppe Pussy Riot, 2013 warb er bei der Bürgermeisterwahl in Moskau für Sergej Sobjanin, Kandidat der Regierungspartei Einiges Russland. Für viele passt das nicht zusammen.
Es scheint, als hätte er sich zum Ombudsmann der historischen und aktuellen politischen Ambivalenzen gemacht: Der Regisseur, für den die Freiheit die höchste Priorität besitzt, vertritt heute offen eine kulturkonservative Position, die ihren Ursprung in der russischen religiösen Philosophie hat. Kontschalowski bezieht sich in vielen Interviews auf die Slawophilen des 19. Jahrhunderts und auf Philosophen wie Berdjajew oder verweist auf das Buch seines Großonkels Dimitri Kontschalowski (1878–1952) Puti Rossii (dt. Die Wege Russlands)2, in dem dieser ein russisches Volk skizziert, das für die Demokratie ungeeignet ist, gleichzeitig den Bolschewismus brandmarkt.

Es sind scheinbar unvereinbare gesellschaftliche Positionen, die im Stammbaum der Kontschalowskis vertreten sind. Andrej Kontschalowski versucht sich in ihrer Synthese.


1.Pozner, Wladimir (2014): Pozner o „Poznere“, Moskva
2.Končalovskij, Dmitrij (1969): Puti Rossii, Paris
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)