Sowjetischer Sturm und Drang: Regisseur Marlen Chuzijew verewigte in Mne dwadzat Let (dt. Ich bin zwanzig Jahre alt, 1965) das Lebensgefühl jener Generation, die beim Anbruch der 1960er Jahre ihr Erwachsenenleben begann1, voller Hoffnung und Sehnsucht – in Auseinandersetzung mit der Kriegsgeneration ihrer Eltern jedoch nicht unbeschwert.
Erstmals seit zwei Jahrzehnten stand im Kino nicht mehr das große, patriotische Wir im Mittelpunkt des Ausdrucks, sondern das lyrische Ich mit seiner Alltäglichkeit der Empfindung. Schon das Kriegsdrama Letjat Shurawli (dt. Die Kraniche ziehen) von 1957 hatte das Tor dahingehend aufgestoßen.
Der Meilenstein Mne dwadzat Let und seine Genese verdeutlichten nur wenige Jahre später eindrucksvoll, dass sich eine sowjetische nouvelle vague hätte herausbilden können – wären die konservativen Kräfte aus dem Zentralkomitee der KPdSU seinerzeit nicht eingeschritten.
https://www.youtube.com/watch?v=AG7YqF3WjFE
Hier finden Sie den Film „Mne dwadzat Let“ mit englischen Untertiteln
„Ich habe den Winter satt, mit unermesslicher Kraft habe ich ihn satt“, erklärt der erkältete Sergej mit festem Blick in die Kamera. Aus einer Ecke seiner Wohnung tropft es laut und stetig. Er bittet seine Schwester, die im nächtlichen Korridor telefoniert, den Wasserhahn zuzudrehen. Doch weiterhin tropft es. Als er schließlich selbst aufsteht und am Waschbecken ist, versteht er erst, woher das Geräusch kommt: „Hör nur, wie alles tropft! Öffne das Fenster. Ja doch, es tropft!“ flüstert seine Schwester ihrem Liebsten in den Hörer.
Und plötzlich – es ist Tag, es ist Frühling! – schlagen kleine Jungen mit Ästen gegen die Regenrinnen der Häuser, und die Laute erfüllen die ganze Straße im Herzen Moskaus. Von oben herab tropft und rinnt es, das Wasser sammelt sich zu einem fließenden, das Sonnenlicht reflektierenden Teppich, die Menschen tummeln sich auf ihm und vereinigen sich in der Ferne in einen Menschenstrom, der zur 1. Mai-Parade zieht, auf der auch Sergej wieder auftaucht, der zusammen mit seinen zwei Freunden Kolja und Slawa am wichtigsten Fest der Sowjetrepublik marschiert.
Diese Szenen in Mne dwadzat Let vermögen wohl am stärksten auszudrücken, welches Versprechen die kurzen Jahre der Tauwetter-Periode bargen: als Symbole der befreienden Wirkung auf Gesellschaft und (Film-)Kunst. Mit dem Tod Stalins im März 1953 und sodann dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 19562 endete der lange „Winter“ des Stalinismus. Und dieser Film wird zum Schlüsselwerk seiner Zeit.
Porträt einer vaterlosen Nachkriegs-Generation
Marlen Chuzijew, der als Kind seinen Vater in den Stalinschen Säuberungen3 verlor, ließ bereits 1956 die Protagonisten in Wesna na Saretschnoi ulize (gedreht mit Felix Mironer, dt. Frühling4 in der Saretschnaja Straße) nach ihrem Platz in der sowjetischen Gesellschaft suchen, und sie alle litten unter der Kindheit ohne Vater. Dieser Verlust stellt in Mne dwadzat Let gleichsam zentrales Trauma und Dilemma der Hauptfigur Sergej Shurawljew5 dar.
Mit 21 Jahren aus dem zweijährigen Militärdienst zurückgekommen, schlendert Serjosha mal alleine und grübelnd, mal in Begleitung seiner zwei besten Freunde durch Moskau, betritt Hinterhöfe, in denen Jugendliche zu ausländischer Musik tanzen und sich verlieben. Bei besagter 1. Mai-Parade trifft er Anja wieder, der er Monate zuvor das erste Mal begegnet und verzaubert durch die halbe Stadt gefolgt war.
„Wie heißt du?“, fragt er sie. „Anja“, rufen von weiter vorn ihre Begleiter. „Hurra“, gibt sie zurück. Und „Hurra“ schallt es von den fremden Marschierenden hinter ihnen, kein anonymer Marschkörper, sondern freudige Gesichter, weil sich in dieser Film-Utopie Individuum und Masse nicht – wie sonst häufig – antagonistisch, sondern ergänzend gegenüberstehen.
Um das Denken und die Sprache dieser Generation der sogenannten Schestidesjatniki glaubwürdiger und unmittelbarer zeichnen zu können, wählte sich Chuzijew den jungen Studenten Gennadi Schpalikow von der Staatlichen Moskauer Filmhochschule zum Drehbuchpartner.6
Kühne Anlehnung ans französische Kino
Ihre szenische und dialogische Meisterschaft, unterstützt vom visuellen Genie der Kamerafrau Margarita Pilichina, gipfelte in einem kühnen Entwurf, der glorreicher Ausgangspunkt einer sowjetischen nouvelle vague hätte werden können.
Erst wenige Jahre zuvor waren es François Truffaut, Jean-Luc Godard und Jacques Rivette, die Paris neu für das Kino entdeckt hatten: keine Studiobauten und Statisten mehr, sondern reale Plätze, reale Menschen bevölkerten die Szenen. Gerade Kameramann Raoul Coutard hielt sich weit ab vom Geschehen, machte die zuvor vom „professionellen“ Kino geächtete Handkamera zu seinem Hauptstilmittel und erfasste so gleichsam dokumentarisch die ganze Lebendigkeit und zugleich auch den Charme von Paris.
Beeinflusst von diesem bahnbrechenden jungen französischen Kino – Chuzijew war damals ein leidenschaftlicher Kinogänger, der bestens über alle aktuellen stilistischen Entwicklungen des Weltkinos Bescheid wusste – wählten Chuzijew und Pilichina ein ähnliches visuelles Konzept. Eine bewegliche Kamera folgt in fließenden Bewegungen den Protagonisten auf ihrem Weg durch die Straßen Moskaus, die man nicht nur einmal mit denen von Paris zu verwechseln geneigt ist.
Dank einer speziellen Weitwinkeloptik, wie sie schon von Michail Kalatosow und Kameramann Sergej Urussewski in Letjat Shurawli eingesetzt wurde, um den Bildern eine avantgardistische Wucht zu verleihen, kann Pilichina sehr oft nah an den Gesichtern verweilen und trotzdem noch viel von ihrer Umgebung einfangen.
Moskau war immer ein wichtiger Bezugspunkt im sowjetischen Filmschaffen, schon in den 1920er Jahren, dort aber zumeist als pulsierende, moderne, den Fortschritt symbolisierende Stadt. Über allen Stadtszenen in Mne dwadzat Let weht dagegen der Atem der Freiheit und Unbeschwertheit. Moskau wirkt hier wie die Hauptstadt eines wahrlich glückversprechenden Kommunismus, der den Menschen nicht beengt und ihn unbeobachtet jeden Winkel der Stadt erkunden lässt.
Doch bevor Chuzijews Entwurf hätte Schule machen können, sorgten die konservativen Kräfte im Zentralkomitee für ein sofortiges Verbot. Überhöhung der Nichtigkeit des Alltäglichen (Bytowschtschina) warfen sie den Filmemachern vor. Kurz darauf geißelte der damalige KP-Chef Nikita Chruschtschow bei einer gleichsam stalinistischen Intellektuellenschelte im Kreml am 8. März 1963 Chuzijews Film.7 Die Protagonisten hätten nichts gemein mit „unserer herausragenden Jugend. […] Diese Figuren sind nicht die Art von Menschen, auf die unsere Gesellschaft sich verlassen kann. Sie sind keine Kämpfer, gestalten die Welt nicht um. Sie sind moralisch kranke Menschen“.8
Früher zensiert, später neu entdeckt
So kam der 1962 unter dem Titel Sastawa Iljitscha (dt. Die Pforte des Iljitsch9) vollendete Film jahrelang nicht zur Aufführung; Chuzijew erklärte sich schließlich bereit, Kernszenen neu zu drehen und ihrem Gehalt nach zu verändern. Andere Sequenzen waren fast komplett gestrichen, als Mne dwadzat Let 1965 ins Kino kam. Auch ein 20-minütiger Dichterabend der lyrischen Avantgarde um Jewgeni Jewtuschenko, Andrej Wosnessenski und Bella Achmadulina fiel der Zensur zum Opfer.
Die damalige Kulturministerin Jekaterina Furzewa selbst hatte Chuzijew ermöglicht, eine solche Lesung eigens für den Film im Polytechnischen Museum zu inszenieren, und war später eine der wenigen UnterstützerInnen des Films in seiner ursprünglichen Fassung.10
Mne dwadzat Let, aber auch die Ursprungsfassung, werden in jüngerer Zeit bei Festivals und Aufführungen von Basel bis Paris als Meilenstein der sowjetischen wie internationalen Kinematographie wiederentdeckt11, während der Film und seine Entstehung rückblickend gleichermaßen Blüte und hereinbrechendes Ende des Tauwetters zu markieren scheint.
Dafür stehen besonders die beiden am Ende aufeinanderfolgenden Kulminationspunkte im Film: Die Geburtstagsfeier von Sergejs Freundin Anja und die Begegnung mit dem Geist seines im Krieg gefallenen Vaters. Diese Schlüsselszenen sorgten in ihrer Ursprungsversion für harsche Kritik aus dem Parteiapparat, sodass vor allem letztere durch Chuzijew radikal geändert werden musste.
Die Frage, wie zu leben sei
Die Stimmung bei Anjas Geburtstag in der Wohnung ihres Apparatschik-Vaters ist gelöst, es wird getrunken und getanzt. Diese privilegierten Moskauer Twens sind ironisch, unernst, verspielt, trotzig. Chuzijew holte hier ebenfalls Studenten der Filmhochschule vor die Kamera, eine Gruppe, die sich heute wie ein kleines Who-is-who der sowjetischen Filmszene liest, waren doch unter anderem die späteren Regie-Größen Andrej Kontschalowski und Andrej Tarkowski dabei.12
Sergej ist an diesem Abend in anderer, nachdenklicher Stimmung, kreist um moralische Fragen. Über einen vermeintlich harmlosen Trinkspruch auf „die Kartoffel“ (als Symbol für einstige Not) entbrennt unter ihnen ein Streit, in dem Sergej sich letztlich zu seinen Idealen bekennt: „Ich nehme die Revolution ernst, das Lied Die Internationale. Das Jahr 1937. Den Krieg und die Soldaten und die Tatsache, dass praktisch niemand von uns noch einen Vater hat … Und die Kartoffel, die uns während der Hungerzeit gerettet hat.“
Wieder zu Hause, ist Sergej sehr aufgewühlt. Er entzündet in einem Aschenbecher ein kleines „Lagerfeuer“. Sein toter Vater, Leutnant Alexander Shurawljew, erscheint ihm in Rotarmisten-Uniform als Geist. Es entspinnt sich ein Gespräch, in dessen Verlauf sich das Setting verändert: Plötzlich ist da nicht mehr das Moskau des Jahres 1961, sondern der Große Vaterländische Krieg, eine Holzbaracke, in der sich weitere Soldaten befinden. In Sastawa Iljitscha endet der Dialog ursprünglich folgendermaßen:
Sergej: „Ich wünschte, ich hätte an deiner Seite laufen können.“
Vater: „Das musst Du nicht.“
Sergej: „Und was muss ich?“
Vater: „Leben.“
Sergej: „Und Wie? Wie?“ (Es entsteht eine Pause.)
Vater: „Wie alt bist Du?“
Sergej. „23“
Vater: „Ich bin 21. Was kann ich dir schon raten?“
Dieser letzte Satz des Vaters durfte in Mne dwadzat Let nicht so stehenbleiben. Der schlaksige Laiendarsteller Jewgeni Majorow (dessen Interpretation der Szene etwas Verzweifeltes und Unheimliches gab) wird gegen den Schauspieler Lew Prigunow ausgetauscht, einer Personifikation des adrett-heroischen Kämpfers. Seinem Sohn gibt Leutnant Shurawljew sodann mit auf den Weg, sich glücklich schätzen zu können, in einer so großartigen Stadt wie Moskau zu leben und fordert ihn auf, das vaterländische Erbe anzutreten.
Trotz all dieser zensurbedingten Änderungen atmet auch Mne dwadzat Let den Geist der Freiheit und der Hoffnung, die die Menschen und Straßen Moskaus zu Beginn der 1960er Jahre erfüllten. Mit dem pragmatisch-optimistischen Schlusssatz und einer Panoramaansicht der Hauptstadt versöhnt der Film schließlich mit einem Leben voller offener Fragen:
„Es war Montag – der erste Werktag der Woche.“
Text: Gaby Babić und Gary Vanisian
Veröffentlicht am 10.07.2017
https://www.youtube.com/watch?v=QDzQbgkZRzQ&feature=youtu.be
Hier finden Sie die Urfassung des Films („Stastawa Iljitscha“) mit russischen Untertiteln
1.Godet, Martine (2010): La pellicule et les ciseaux, Paris, S.21
2.Godet,Martine (2010): La pellicule et les ciseaux, Paris, S.24
3.Miller, Gregory Blake (2010): Reentry Shock: Historical Transition And Temporal Longing In The Cinema Of The Soviet Thaw, Oregon, S. 128
4.In dem Jahr war er einer von drei Filmen, der dieses Wort im Titel führte. Vgl. Nelepo, Boris, in: Marlen Khutsiev: Unsung Master of the Modern Cinema
5.Man könnte in seinem Nachnamen eine Verbeugung vor Michail Kalatozovs epochalem Film Letjat žuravli vermuten.
6.Wobei Chuziev später schrieb, Špalikov habe gar nicht so viel zum fertigen Film beigetragen wie man gemeinhin glaubt, da der größte Teil des Drehbuches bereits zuvor mit Feliks Mironer entworfen worden sei (Chuziev, Marlen (1996): Ja nikogda ne delal polemičiskich filmov, in: Kinematograf ottepeli, Moskau, S.192.)
7.Die anderen Opfer dieses Tages waren Ilja Ehrenburg und der Bildhauer Ernst Neizvestnyj, vgl. Godet, Martine (2010): La pellicule et les ciseaux, Paris, S.32
8.Zitiert nach: Woll, Josephine (2000): Real Images: Soviet Cinema and the Thaw, London, S. 146-47
9.Einer der ersten Arbeitstitel war „Erinnerst du dich, Genosse?“, vgl. Miller, Gregory Blake (2010): Reentry Shock: Historical Transition And Temporal Longing In The Cinema Of The Soviet Thaw, Oregon, S. 252. Der Titel „Die Pforte des Il'jič“ verweist auf einen Moskauer Stadtteil, ist aber auch symbolisch zu verstehen; er spielt auf das Verhältnis der Nachkriegsjugend zum leninistischen Erbe an. So ist denn auch am Ende des Films eine Wachablösung am Lenin-Mausoleum am Roten Platz zu sehen.
10.Woll, Josephine (2000): Real Images: Soviet Cinema and the Thaw, London, S. 145
11.Die Originalfassung Sastava Il'jiča wurde am 29. Januar 1988 im Zuge der Perestroika in seiner ursprünglichen Gestalt wiederaufgeführt; in dieser Form sahen wir, die AutorInnen, diesen Film erstmals im Jahre 2013 beim Festival Bildrausch in Basel, wohin wir eigens für diese 35mm-Projektion gereist waren. Unseres Wissens nach stellte die Aufführung dieses Films in der damals von Tatjana Simeunović betreuten Hommage an Marlen Chuziev auch die erste seit vielen Jahren dar, bevor er kurz darauf als einer der größten sowjetischen Regisseure von Festivals wie goEast, Locarno sowie, unter anderem, dem Harvard Film Archive und zuletzt – im Mai 2017 – der Cinémathèque française in Paris endgültig im Westen wiederentdeckt wurde.
12.Außerdem die Schauspielerinnen Svetlana Svetličnaja (Brilliantovaja Ruka, dt. Der Brilliantenarm, 1969), Ol'ga Gobzeva (Kryl'ja, dt. Flügel, 1966) und die Drehbuchautoren Pavel Finn (Padarok Stalinu, dt. Geschenk an Stalin, 2008) und Natalja Rjazanceva (Portret Ženy Chudožnika, dt. Porträt der Ehefrau eines Künstlers, 1982)