„Es gab einen Mord.“ Der FSB-Beamte im sibirischen Tomsk muss sehr erschrocken sein. Der junge Mann vor ihm ließ nicht locker: „Es gab einen Mord und ich möchte wissen, wer die Verantwortlichen sind.“
Der Mord, zu dem Denis Karagodin seit jenem Tag forscht, liegt viele Jahrzehnte zurück: Es geht um seinen Urgroßvater Stepan Karagodin. Der Kosake war Bauer, hatte neun Kinder und wurde in den Jahren des Großen Terrors unter Stalin vom NKWD verhaftet und als „japanischer Spion“ erschossen.
Stepan Karagodins Schicksal ist kein Einzelfall, genauso wie das seiner Familie: Mehr als eine Million Menschen fielen in den Jahren 1937/38 dem Großen Terror zum Opfer. Mehrere Jahre wusste keiner in der Familie Karagodin, wo der Vater war, ob er überhaupt noch lebte. Irgendwann Mitte der 1950er Jahre erfuhr die Familie dann, dass Stepan Karagodin „rehabilitiert“ sei. Da war er schon fast 20 Jahre tot.
Denis Karagodin gibt sich nicht zufrieden mit der „Entschuldigung“ aus den 1950er Jahren. „Jede Generation meiner Familie hat versucht, sein Schicksal zu rekonstruieren“, sagt er kürzlich im Interview mit Radio Svoboda. Karagodin möchte die Schuldigen zur Verantwortung ziehen. Sammelt seit Jahren Dokumente, die den Mord an seinem Urgroßvater belegen, rekonstruiert den Ablauf der Ereignisse und die Namen der Beteiligten. Alles hat er auf seinem Blog dokumentiert. Denis Karagodin sieht den FSB als Nachfolgeorganisation des NKWD in der Verantwortung, und er lässt nicht locker.
Iwan Kurilla beschreibt auf slon.ru, was Karagodins Nachforschungen für die russische Gesellschaft bedeuten könnten.
Jahrelang wusste keiner in der Familie, wo Stepan Karagodin war – Foto © Denis Karagodin
Dieser Tage ging die Geschichte von Denis Karagodin durch die Medien: Ein Absolvent der Tomsker Universität, der zu den Todesumständen seines Urgroßvaters Stepan forscht, Anfang 1938, in der Zeit des Großen Terrors. Nach der Verurteilung im „Prozess gegen die Spionage- und Sabotagegruppe von Harbinern und Deportierten aus dem Fernen Osten“ sowie als „Gruppenführer des japanischen Militärnachrichtendienstes“ wurde Stepan Karagodin Anfang 1938 vom NKWD erschossen.
Denis ging zum FSB und verlangte, Nachforschungen zum Tod seines Urgroßvaters anzustellen und die Schuldigen an diesem Verbrechen festzustellen. In Russland erscheint ein solcher Schritt naheliegend – und gleichzeitig unmöglich.
Das Gebot „sich ja rauszuhalten“
Millionen von Menschen haben in den Jahren des Staatsterrors in der UdSSR ihre Verwandten verloren, bekamen während des Tauwetters der Ära Chruschtschow lückenhafte Informationen zu deren Rehabilitierung und dann in Gorbatschows Perestroika ein etwas genaueres Bild – diesen Verlust erlebten sie als persönliches Leid. Der Staat hatte ihnen die Angehörigen entrissen und diese posthum (oder im Glücksfall auch noch zu Lebzeiten, nach Jahrzehnten im Gulag) von Schuld freigesprochen – und dafür konnte und musste man ihm „danke“ sagen.
Die Generation, die die Stalinzeit erlebt hat, hatte den Staat fürchten gelernt und ihren Kindern das Gebot mitgegeben, „sich ja rauszuhalten“. Eine besondere, fast abergläubische Angst empfanden die Bürger vor den Organen der Staatssicherheit.
Wahrscheinlich war die politische Ruhe der relativ wenig repressiven Breshnew-Zeit teilweise der Fügsamkeit der Bevölkerung zu verdanken. Die wusste aus der Erfahrung ihrer Eltern, dass der Staat anfangen kann zu töten. Kein Wunder, dass allein der Gedanke, Ansprüche gegen den Staat geltend zu machen, erst dem in der Zeit nach Breshnew geborenen Urenkel eines Hingerichteten in den Sinn kam.
Verbrechen als Verbrechen benennen
Denis Karagodin warf die Frage auf nach der Verantwortung des Staates und der konkreten Terror-Vollstrecker. Und zwar nicht die Frage nach der politischen Verantwortung, über die man schon seit dem XX. KPdSU-Parteitag gesprochen hatte, sondern die ganz banale Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung.
So ist es doch: Die Ermordung eines unschuldigen Menschen, egal durch wen, verlangt nach Ermittlungen und nach Bestrafung der Täter. Falls die Täter einen Befehl ausgeführt haben, dann muss sich die Strafe auf die ganze Befehlskette erstrecken. Ist seither zu viel Zeit vergangen und aus diesem Befehlsgefüge niemand mehr am Leben, dann müssen in strafrechtlichen Ermittlungen die Namen festgestellt und Verbrechen als Verbrechen benannt werden.
Die Vergangenheit aufarbeiten
In Russland hat es weder eine Kommission zur nationalen Versöhnung noch ein Tribunal für die Henker gegeben. Wie Alexander Etkind in seinem kürzlich erschienenen Buch Kriwoje gore (Verzerrtes Leid) aufzeigt, hat die russische Gesellschaft daher die Folgen des Gulag bis dato nicht verarbeitet. Sie schwingen noch mit in Kultur und Wissenschaft, in der Beziehung der Menschen untereinander und der Menschen zum Staat.
Oft heißt es, eine völlige Verurteilung des Stalinismus sei in Russland nicht möglich, denn im Unterschied zu Deutschland, wo die Entnazifizierung von den Besatzungsmächten vorgenommen wurde, habe die UdSSR keine militärische Niederlage erlitten und sei daher gezwungen, ihre Vergangenheit selbst aufzuarbeiten. Die politische Kräftebalance erlaube es angeblich nicht, die Frage nach den Verbrechen des Staates unter Führung der Bolschewiken zu stellen.
Verfechter der stalinistischen Sowjetunion reduzieren den Streit oft auf die Opferzahlen: Sind die nicht übertrieben? Waren es wirklich Millionen und nicht eher nur Hunderttausende Getötete? Als würde die Verlagerung der Diskussion in den Bereich der Statistik es obsolet machen, über das tragische und kriminelle Erbe des Staates zu sprechen.
Konkretes Schicksal statt trockene Statistik
Denis Karagodin hat nun sein Modell der Vergangenheitsbewältigung vorgeschlagen: persönliche Ermittlung und eine persönliche Klage wegen Tötung seines Urgroßvaters. Das ist ein konkretes Schicksal, keine trockene Statistik. Die Archive des FSB bergen Geheimnisse von Spitzeln und Henkern – ob sie wohl auf die Forderung eines Bürgers hin geöffnet werden?
Es ist zu erwarten, dass die Geschichte Karagodins Vorbildwirkung hat. Auch Angehörige anderer in den Jahren des Terrors Verurteilter könnten vor Gericht ziehen. Dass der Staat darauf mit Einverständnis reagiert, ist nicht gesagt. Womit aber will er begründen, solche Ermittlungen zu verweigern?
In der Sowjetzeit war Angst das Hauptargument. Heute wird sich die Judikative, um solche Ermittlungen zu umgehen, irgendeine juristisch fachkundige Antwort überlegen müssen, die ihrerseits Anstoß für eine Diskussion innerhalb der Gesellschaft sein kann. Jener Diskussion, die es bei uns weder in den 50er- noch in den 80er-Jahren gab.
„Große Geschichte“ und familiäres Gedächtnis
In den 80er-Jahren fand die Ent-Stalinisierung in den Medien und bei Aktivisten statt. Vielen kam das vor wie eine Art Propaganda: Journalisten schrieben über Repressionen, Memorial sammelte Dokumente von Verfolgten, doch im Grunde blieben die Bürger „Konsumenten“ dieser Informationen und hatten sie irgendwann satt (beteuern jedenfalls jene, die sich gegen eine neuerliche Diskussion zur sowjetischen Vergangenheit aussprechen).
Jetzt aber geht es um die Rekonstruktion von Familiengeschichte, und in diesem Zusammenhang kann die Ent-Stalinisierung zu einer persönliche Angelegenheit von Hunderttausenden Staatsbürgern werden.
Erinnerungsforscher bemerkten vor einiger Zeit, dass das Interesse der Russen an ihren familiären Wurzen rasant ansteigt. Genealogische Forschungen, Familienchroniken, das Durchforsten von Dokumentenarchiven, Geburtsurkunden und Gräbern der Vorfahren verbreiteten sich überall in Russland, in ganz unterschiedlichen sozialen Schichten. Den Platz des „Geschichtslehrbuchs“ nimmt immer öfter die Familiengeschichte ein – als Teil der Landesgeschichte. Und wenn es in diesen Familiengeschichten noch offene, aufgeschlagene Seiten gibt, dann versucht die Enkelgeneration, diese endlich zu schließen.
Vielschichtiger als ein Geschichtslehrbuch
Auf der Website von Memorial finden sich immer mehr Informationen zu Verfolgten, die Sparte wird oft angeklickt. Die Initiative Posledni Adres (dt. Letzte Adresse) montiert auf die Bitte Angehöriger hin Schilder an Häuser, wo Opfer des Staatsterrors abgeholt wurden. Diese wirkungsvolle Bewegung zur Aufarbeitung der Familiengeschichte ist etwas ganz anderes als der Kampf der Intelligenzija in den Medien um das richtige Verständnis der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Das neue Gedenken ist komplexer und vielschichtiger als ein Geschichtslehrbuch.
Es gibt eine deutliche Parallele zwischen dem Fall Karagodin und der Aktion Bessmertny polk (dt. Unsterbliches Regiment). In beiden Fällen wenden sich Nachkommen ihrer Familiengeschichte zu; sie schreiben ihre Großväter in die Geschichte des Landes ein und betrachten die Geschichte des Landes mit den Augen ihrer Großväter. Im Fall des Unsterblichen Regiments entschloss sich der Staat, die Initiative der Bürger zu unterstützen. Wird er bereit sein, auch andere Initiativen zu unterstützen? Können Bürger den Staat dazu bringen, sich zu verändern?
Man würde gern dran glauben, dass es auf diese Fragen eine positive Antwort gibt.