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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Suleika öffnet die Augen

Der 2015 erschienene Debütroman Sulejcha otkrywajet glasa (Suleika öffnet die Augen) der russisch-tatarischen Schriftstellerin Gusel Jachina war ein durchschlagender Erfolg. Mittlerweile erzielt allein die russische Ausgabe des Buches eine Auflage von einer halben Million Exemplare – eine beachtliche Zahl für eine Geschichte, die sich der sogenannten Entkulakisierung der frühen 1930er Jahre verschrieben hat. Die im April 2020 im staatlichen Fernsehprogramm Rossija 1 ausgestrahlte achtteilige Verfilmung stellte als erfolgreichste TV-Serie der Saison die Breitenwirkung des Romans noch einmal in den Schatten. Gleichzeitig hagelte es Kritik von verschiedenen Seiten und eine Welle der Empörung ging durch die sozialen Medien. Damit wurde ein weiteres Mal deutlich, dass die eigene Geschichte im heutigen Russland ein vermintes Terrain ist.

Der Titel des Romans ist einprägsam und treffend, höchst anschaulich und dabei vielschichtig. Er lässt sich zudem leicht in andere Sprachen übertragen. So folgen beinahe alle der bislang angefertigten 35 Übersetzungen dem Original im Wortlaut: Suleika öffnet die Augen.

Suleika ist eine zu Beginn der Romanhandlung 30-jährige Frau. Sie ist als tatarische Bäuerin und Ehefrau in traditionellen, patriarchalischen Lebensverhältnissen gefangen. Das Öffnen der Augen ist Alltagshandlung und Metapher zugleich, erzählt der Roman doch die Geschichte einer Frau, die aus der fremdbestimmten Knechtschaft heraustritt und im Kontakt mit anderen ihre innere Freiheit erlangt. Der Titel erzählt damit ein ganzes Leben, funktioniert gleichzeitig aber auch wie ein filmisches Close-up. Aus Augenpaaren und Frauengesichtern hatte der sowjetische Dokumentarfilmpionier Dziga Vertov beeindruckende Montagesequenzen gestaltet. Im Film Tri pesni o Lenine (1934, Drei Lieder über Lenin) – genau in jener Zeit entstanden, in der auch die Romanhandlung einsetzt – stehen die Augenpaare für etwas, das auch Suleika erlebt: die ideologisch propagierte und politisch realisierte Befreiung der muslimischen Frau des Ostens.

Ein Roman über die Befreiung der Frau

Mit Suleika öffnet die Augen beginnt der Roman. Dieser kurze Satz kehrt im Buch insgesamt vier Mal wieder. Mit dem Öffnen der Augen beginnt für Suleika ein Tag wie jeder andere: Sie wird ihre alte und herrische Schwiegermutter bedienen und ihren um Jahre älteren Ehemann umsorgen. Ihm hat sie bereits vier Töchter geschenkt, die alle kurz nach der Geburt gestorben sind. Sie wird sich um die kleine Wirtschaft und das Vieh – eine Kuh und ein Pferd mit Fohlen – kümmern.

Doch mit dem ersten sowjetischen Fünfjahrplan – die Romanhandlung setzt im Februar des Jahres 1930 ein – soll jede noch so bescheidene Form der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft eliminiert werden. Die sogenannte „Liquidierung des Kulakentums als Klasse“ bedeutet Enteignung und Vertreibung: Über 4 Millionen Menschen werden im Zuge dieser Kampagne nach Sibirien und in andere entlegene Regionen der Sowjetunion deportiert.

Am darauffolgenden Tag endet für Suleika jene Gefangenschaft, die in der traditionellen Lebensweise begründet ist. Ihr Ehemann wird von einem Rotarmisten erschossen, und für Suleika beginnt der lange Weg von ihrem Dorf in der Nähe der tatarischen Stadt Kasan zu einer neu zu errichtenden Siedlung mitten in der sibirischen Taiga. Dort verbringt sie die kommenden 16 Jahre ihres Lebens. Im Arbeitslager, in einem bunt zusammengewürfelten Kollektiv bestehend aus Kulaken und Leningrader „Ehemaligen“ aus dem Gelehrten- und Künstlermilieu sowie aus Kriminellen und Denunzianten, wird Suleika zu einer Frau, die sich ihrer selbst bewusst ist.

Das Schweigen einer ganzen Generation

Gusel Jachina ließ sich durch die Geschichte ihrer Großmutter inspirieren, wie die Autorin in einem Interview kurz nach Erscheinen des Romans erläutert: „Sie war sieben Jahre alt, als ihre Familie entkulakisiert und an die Angara deportiert wurde, wo sie sechzehneinhalb Jahre verbrachte. Dieser zeitliche Rahmen – von 1930 bis 1946 – wiederholt sich im Roman. Meine Heldin im Roman ist freilich nicht meiner Großmutter nachempfunden, sondern eine ganz andere Frau.“1

Suleika öffnet die Augen ist ein Roman, der die jüngere Vergangenheit und damit die Erschütterungen, Verwerfungen und Traumatisierungen, die Millionen von Menschen im Europa des 20. Jahrhundert erfahren mussten, in den Blick nimmt. Im Unterschied zum historischen Masternarrativ um eine heroische Vergangenheit, das von vielen geschichtspolitischen Akteuren gepflegt wird, sind es in Russland gerade literarisch-künstlerische Texte, die von der Mehrheitsgesellschaft vergessene Stimmen hörbar und aus dem kollektiven Gedächtnis Ausgeblendetes sichtbar machen können. Ein bewährtes erzähltechnisches Verfahren für die Weitergabe des Erlebten im Sinne der Oral History stellt die Kommunikation zwischen Großeltern und Enkelkindern dar.

Im literarischen Erinnerungsdiskurs nimmt daher die Figur der Großmutter oder Urgroßmutter eine prominente Rolle ein. Das zeigen überaus erfolgreiche europäische Romane mit Russland- bzw. Sowjetbezug beginnend mit Le Testament Français (1995) des in Frankreich lebenden Andreï Makanine über Vielleicht Esther (2014) der in Deutschland lebenden Katja Petrowskaja bis hin zum Roman Menschen im August (Originaltitel: Ljudi avgusta, 2015) des russischen Autors Sergej Lebedew. Der Schreibprozess selbst wird häufig durch die willentlichen und unwillentlichen Lücken im Familiengedächtnis motiviert, die das Ergebnis des Schweigens einer ganzen sowjetischen Generation sind. Wie Lebedew dies in Menschen im August formuliert: „In den dreißiger und vierziger Jahren sorgte ein Maulkorb für das Schweigen; Anfang der achtziger Jahre war der Maulkorb weg, doch man war an ihn gewöhnt, er war bereits mit der Persönlichkeit verwachsen.“2

Die Entkulakisierung als TV-Melodrama

Nicht einmal ein Jahr nach Erscheinen des Buches machte der Fernsehsender Rossija 1 der Autorin das Angebot, ihren Roman als TV-Serie zu verfilmen. Regie führte der auf TV-Serien spezialisierte Jegor Anaschkin und die Hauptrollen wurden prominent besetzt: mit Tschulpan Chamatowa in der Rolle der Suleika, dem charismatischen Jewgeni Morosow in der Rolle des Iwan Ignatow und mit Sergej Makowezki in der Rolle des verrückten Kasaner Professors Lejbe. Obwohl die Serie bereits im Herbst 2019 fertiggestellt war, ließ sich der TV-Sender Zeit und strahlte sie schließlich zwischen 13. und 22. April 2020 aus.

Dass in der TV-Serie die Liebesgeschichte zwischen Suleika und Ignatow mehr Gewicht erhält als im Roman, wurde ihr am wenigsten zum Vorwurf gemacht. Ähnlich wie die Serie aus dem melodramatischen Stoff wesentliche Spannungsmomente bezieht – bis zur vorletzten siebten Folge muss man auf die Liebesszene warten –, kommen auch andere effektvolle, filmische Mittel zum Einsatz, wie Panorama-Aufnahmen über endlose Wälder oder ein einprägsamer Soundtrack, der auf die Ethnomusikerin Dina Garipowa zurückgeht.3 Durch die Melodramatisierung geht jedoch die dreigliedrige Figurenkonstellation des Romans verloren, die diesem eine bestimmte kulturelle, um nicht zu sagen kulturideologische Prägung verleiht. Mit den drei Figuren rückt Jachina nämlich gleichzeitig drei Kulturen und Sprachen in den Vordergrund, die die kulturelle Diversität der Stadt Kasan und der Wolgaregion insgesamt repräsentieren und die gleichzeitig auch autobiographisch motiviert sind: Suleika steht für die tatarische, Ignatow für die russische und der verrückte Professor Lejbe für die deutsche Kultur – konkret für die zahlreichen Professoren deutscher Provenienz an der 1804 gegründeten Kasaner Universität.

Kritik und Empörung

Die lauteste Kritik an der TV-Serie kam aus dem nationalistischen und nationalpatriotischen Lager und wurde von einer Welle an Beleidigungen, Beschuldigungen und Beschimpfungen begleitet. Sie treffen am heftigsten die beiden Frauen tatarischer Herkunft – die Schauspielerin Tschulpan Chamatowa und die Autorin Gusel Jachina. Von tatarischer Seite wurde Kritik an der Darstellung der Tataren geübt und das Fehlen positiver ethnokultureller Momente beklagt – eine Kritik, die auch schon in Bezug auf den Roman geäußert wurde. So lernt der heranwachsende Jusuf im Arbeitslager bekanntlich Französisch, Tatarisch aber scheint er nicht zu sprechen. Anstoß erregten aber auch die kurze Sexszene in der Moschee, die sich zwischen Ignatow und einer Rotarmistin abspielt, die vermeintlichen Fehler bei der Wiedergabe traditioneller tatarischer Kleidung und Einrichtung sowie das Verlesen tatarischer Familiennamen beim Abtransport nach Sibirien, die historischen und zeitgenössischen tatarischen Muftis zugeordnet werden konnten. Bei der Namensliste dürfte den Filmemachern tatsächlich ein Missgeschick passiert sein.

Der Vorwurf der Beleidigung und Verleumdung kam aber nicht nur von der tatarischen, sondern mindestens genauso so heftig von der russischen Seite. Dabei fühlte sich das nationalpatriotische Lager durch die Geschichtsdarstellung im Nationalstolz gekränkt, während kommunistische Gesinnungsgenossen den Film als antisowjetisch verdammten.4 Bei den Vorwürfen mag eine nicht zu unterschätzende Rolle die Darstellung des Geheimdienstes – der sowjetischen Geheimpolizei GPU, später NKVD und schließlich KGB – gespielt haben. Die Figur des Sinowi Kusnez, seines Zeichens „Verantwortliche[r] für Sonderaufgaben der Krasnojarsker Abteilung der GPU“,5 ist bereits im Roman eine der wenigen nicht ambivalent gezeichneten Figuren. Erst in der TV-Serie aber wird die Figur durch die brillante Darstellung des Schauspielers Roman Madjanow plastisch und in ihrer ganzen moralischen Verkommenheit greifbar.

Das Urteil über Roman und Serie hängt eng damit zusammen, wie man zu den stalinistischen Verbrechen steht. So wurde bereits der Roman für seine zu positive, ja geradezu beschönigende Darstellung des Arbeitslagers kritisiert. Christiane Pöhlmann bezeichnete den Roman in ihrer Buchbesprechung für die FAZ als „engagiert vom Ansatz her, aber verharmlosend in der Ausführung“.6 Auch diesbezüglich war jedoch die Angriffsfläche, die die TV-Serie bot, ungleich größer. So mokierten sich die Radiomoderatorinnen Xenia Larina und Irina Petrowskaja in ihrer Sendung auf Radio Echo Moskwy über die frisch gezimmerten Holzhäuschen der herausgeputzten Siedlung und die perfekt manikürten und ins Bild gesetzten Fingernägel von Tschulpan Chamatowa.7

„Suleika, öffne ihnen die Augen!“

Die äußerst widersprüchliche Kritik an Roman und Serie macht deutlich, dass es in der heutigen russischen Gesellschaft keinen Konsens über die stalinistischen Verbrechen gibt. Für den Korrespondenten der Novaya gazeta Alexej Tarassow ist dies in einem engen Zusammenhang mit der Verlagerung der öffentlichen Aufmerksamkeit weg vom unheroischen Lagerthema und hin zum heroischen Sieg im Zweiten Weltkrieg zu sehen. In seiner Geschichtsreportage zur Serie8 macht er diesen Wandel beispielhaft an der Familiengeschichte der Rimma Galejewa fest, die in den 2000er Jahren eine schulische Arbeit über ihre Großmutter verfasst hatte, die als Kleinkind nach Sibirien deportiert worden war. Heute schreibt ihr zehnjähriger Sohn bei derselben Lehrerin ebenfalls eine historische Arbeit, allerdings stünde jetzt der in der Schlacht um Stalingrad vermisste Urgroßvater väterlicherseits im Zentrum. Die Lagererzählungen der Großmütter aber würden nun gegen die TV-Serie ins Treffen geführt – „ne bylo takogo“ – „so etwas gab es nicht“. Dagegen lässt sich mit Tarassow in der Tat nur noch einwenden: „Suleika, öffne ihnen die Augen!“


1.business-gazeta.ru: Gusel Jachina: „U menja est' četkoe otnošenie k figure Stalina i periodu ego pravlenija“ 
2. Lebedew, Sergej (2015): Menschen im August. Frankfurt am Main: S. Fischer 2015, S. 9 
3.Die vollständige Version des tatarischen Volksliedes „Aj, bylbylym“ in der Bearbeitung von Dina Garipowa findet sich unter business-gazeta.ru: Dina Garipova vypustila polnuju versiju pesni, stavšej saundtrekom seriala «Zulejcha otkryvaet glaza» 
4.Eine Zusammenstellung der Kritik findet sich in der Novayagazeta.ru: Čulpan Chamatova: «Nevežestvo vsegda peremešano s varvarstvom i agressiej» 
5.Jachina, Gusel (2017): Suleika öffnet die Augen. Berlin: Aufbau Verlag 2017, S. 223 
6.Christiane Pöhlmann (2017): Willkommen in Bad GULag, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.03.2017. S. auf buecher.de 
7.Vgl. die Sendung der Radio Echo Moskwy vom 25.04.2020 auf echo.msk.ru: Čelovek iz televizora 
8.Novayagazeta.ru: Zulejcha, otkroj im glaza 
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