Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Sitara Ambrosio
Die Veranstaltung CMYK in Kyjiw bringt traditionelle ukrainische Musik und Rave-Kultur zusammen / Foto © Sitara Ambrosio
Beim Pride Hub in Charkiw im September 2024 zeigen Masha Kovaliova, 28, und Darka Batinska, 25, offen ihre Liebe zueinander / Foto © Sitara Ambrosio
dekoder: Sie haben gerade zwei Monate in Kyjiw verbracht, was ist der Fokus Ihrer Arbeit in der Ukraine?
Sitara Ambrosio: Zusammen mit meiner ukrainischen Kollegin Yana Radchenko arbeite ich an einer großen Recherche über Kriegsverbrechen an queeren Menschen in der Ukraine. Das Projekt wird vom Journalisten-Netzwerk N-Ost unterstützt. Gleichzeitig interessiere ich mich auch grundsätzlich für queeres Leben in der Ukraine und dafür, was sich durch den Krieg verändert hat.
Sind queere Menschen denn besonderes Ziel von Kriegsverbrechen?
Aktuell gibt es keine eindeutigen Belege dafür, dass die russischen Truppen eine Anordnung oder einen Befehl haben, nach LGBT*Q-Personen zu suchen. Aber man muss wohl davon ausgehen, dass man als queere Person einer besonderen Gefahr ausgesetzt ist, Opfer von Folter zu werden, wenn russische Truppen eine Stadt besetzt halten. Beispiele dafür kennen wir etwas aus Cherson. Dort dokumentieren wir aktuell Fälle, bei denen Betroffene aufgrund ihrer Sexualität Misshandlungen erlebt haben. Daran sollte man auch denken, wenn man davon spricht, Teile der Ukraine an Russland abzutreten um des Friedens willen: Menschen, die schwul, lesbisch oder transsexuell sind, könnten dort dann nicht mehr leben.
Eines Ihrer Bilder zeigt einen Rave in Kyjiw. Was ist die Geschichte dazu?
Seit anderthalb Jahren gibt es in Kyjiw eine spannende Veranstaltungsreihe: Sie verbindet traditionelle ukrainische Musik und elektronische Musik. Bei diesem Rave gab es ein DJ-Pult, aber es wurde auch auf traditionellen Instrumenten gespielt. Es ist spannend zu sehen, wie die junge Generation, die so sehr darum kämpft, den Fortschritt in der Ukraine voranzubringen, gleichzeitig an Traditionen anknüpft und sich auf die Suche nach ihren Wurzeln macht. An diesem Abend waren auch viele queere Menschen da. Sie feiern und halten dabei ihre Traditionen hoch. Traditionen aufleben zu lassen und ein fortschrittliches Verständnis von Geschlechterrollen zu leben, muss kein Widerspruch sein.
Kann man das denn auf die ganze Ukraine übertragen?
Man muss schon ehrlich sagen, dass es in der ukrainischen Gesellschaft noch sehr festgeschriebene Geschlechterrollen gibt. Es kann für queere Menschen in der Ukraine auch durchaus gefährlich sein. Sie sind immer wieder Angriffen ausgesetzt. Die Ehe für alle ist in der Ukraine auch noch nicht legal. Das hat im Krieg gravierende Auswirkungen: Einerseits kämpfen ja auch queere Personen an der Front. Aber wenn eine von ihnen fällt, dann hat der Partner oder die Partnerin nicht dieselben Rechte wie Verheiratete. Etwa wenn es darum geht, über den Körper zu verfügen und eine Beerdigung zu organisieren.
Auf dem zweiten Bild sehen wir Teilnehmerinnen eine Pride-Veranstaltung in Charkiw. Die Fassade im Hintergrund trägt Spuren von Geschossen. Ein Pride mitten im Krieg, wie passt das zusammen?
Charkiw ist seit Beginn des Krieges unter Beschuss. Diese Spuren sind Einschlagstellen von Schrapnells. Also wenn irgendwo in der Nähe eine Rakete oder eine Drohne niedergeht, dann werden diese Trümmerteile von der Wucht der Explosion durch die Straßen geschleudert. Tatsächlich sehen die meisten Häuser in der Stadt inzwischen so aus. In diesem Gebäude ist das Büro von Charkiw Pride untergebracht. Es bietet einen doppelten Schutz: Einmal ist ein hinterer Raum als Luftschutzkeller ausgewiesen, bei dem die Menschen bei Alarm Zuflucht finden können. Und zum anderen lassen sich die zwei Türen des Büros doppelt verriegeln, um Schutz vor einem queerfeindlichen Angriff zu bieten.
Eine Loslösung von Russland, wo der Staat offen homophob auftritt, bedeutet also noch nicht automatisch eine liberalere Gesellschaft?
Dieses Land steht gerade auf dem Prüfstand. Eine junge Demokratie wird angegriffen und soll unter den Bedingungen eines Krieges beweisen, wie es weiter geht mit demokratischen Werten und Menschenrechten. Immerhin werden queere Veranstaltungen in der Regel sehr gut von den Behörden geschützt. Dieses Foto ist während des Pride Wochenendes entstanden. Da haben hintereinander drei unterschiedliche Veranstaltungen stattgefunden. Alle mussten von der Polizei geschützt werden. Ohne geht es nicht, weil es immer wieder zu Angriffen durch homophobe rechte Gruppen kommt. Auch die Kyjiw Pride wurde angegriffen. Soweit ich das mitbekommen habe, sind die Behörden aber mittlerweile sehr zugänglich. Die Kommunikation mit der Polizei und mit den Sicherheitskräften ist sehr gut. Das war nicht immer so. Unter den Bedingungen eines Krieges für eine offenere Gesellschaft zu kämpfen, ist extrem schwierig.
Fotografie: Sitara Thalia Ambrosio
Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
Interview: Julian Hans
Veröffentlicht am: 14.10.2024