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Operation „Spinnennetz“

Ein handelsübliches Drohnen-Schutznetz kostet fünf bis zehn Euro pro Quadratmeter. Die ukrainische Armee braucht aber ständig neue solche Abwehrnetze gegen russische Drohnenangriffe. Überall an der Front, über tausende Quadratkilometer. Freiwillige Helfer der ukrainischen Armee haben darum eine kostengünstige Alternative gefunden und ausprobiert. 

Etwa 500 Tonnen ausgemusterte Fischernetze von niederländischen Fischereibetrieben haben sie schon zu Fronteinheiten gebracht. Die Soldaten schützen damit sich selbst und ihre Technik. Gleichzeitig verändern solche Schutznetze auch den Drohnenkampf an sich.  

Wie genau alte Fischernetze ins Kampfgebiet kommen und dort eingesetzt werden, hat Frontliner-Reporter Artem Derkatschow in einer Fotoreportage dokumentiert.   

Quelle Frontliner

Soldaten und Helfer entladen nachts im Gebiet Charkiw Lkw mit Fischernetzen für die Front. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

In den Lagerhallen europäischer Häfen warten tausende Tonnen ausrangierter Fischernetze auf ihren Einsatz. Ukrainische Soldaten können die gut da gebrauchen, wo im Kampfgebiet Drohnen eingesetzt werden und der Schutz davor eine der größten Herausforderungen ist.  

Ukrainische Armeehelfer starteten darum ihre Logistik-Operation Pawtunnja (Spinnennetz). 

Ein Fischernetz wird auf einem ukrainischen Militär-Lkw befestigt. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

Eine Kolonne aus zehn Lkw rollt in Richtung Kyjiw. In jedem befinden sich etwa 15 Tonnen Fischernetze. Diese Netze sind grob genug, um an der Front FPV-Drohnen abzufangen, mit denen die russische Armee häufig ukrainische Stellungen angreift. 

Eine Kolonne aus zehn Lkw auf ihrem mehr als 2000 Kilometer weiten Weg aus den Niederlanden nach Kyjiw. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner Die ukrainischen Militärhelfer rund um die Stiftung Volonter haben die Netze aus den Niederlanden organisiert, wo in zahlreichen Hafenanlagen noch etwa 4000 Tonnen Netze lagern. Denen jagten aber auch schon russische Händler hinterher, berichten die Freiwilligen bei einem Zwischenstopp zur Transportkontrolle in Kyjiw. 

Grobe Fischernetze aus dem Lager einer Fischfabrik in den Niederlanden, Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

„Dieses Netz hier wollten Chinesen kaufen“, sagt Ihor Bondartschuk von Volonter. „Aber wir konnten unsere Partner in den Niederlanden davon zu überzeugen, sie uns kostenfrei zu geben. Wir müssen also nur Geld für die Logistik ausgeben.“ 

Ausgediente niederländische Fischernetze erreichen die Ukraine. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

Die Netze wurden früher von Fischereibetrieben zum Fischen verwendet. Aber mit der Zeit hat sich das Material abgenutzt. Dann kamen sie ins Lager, um später recycelt oder entsorgt zu werden.  

Bis die Militärhelfer sie entdeckten: Mit ganz ähnlichen Netzen bedecken die Soldaten ihre Schützengräben und Militärtechnik, um die Stellungen zu maskieren und gleichzeitig gegen Einschläge von Lancet-Kampfdrohnen und FPV-Drohnen zu schützen. Dank der festen Struktur fängt das Netz die Drohnen oder abgeworfene Geschosse ab und wirft sie zurück, bevor sie dann in einigermaßen sicherem Abstand vom eigentlichen Ziel explodieren. Der Angreifer muss dann eine neue Attacke starten. 

Ukrainische Soldaten holen die gelieferten Fischernetze aus einem frontnahen Dorf in der Region Charkiw. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

Wenn so beispielsweise eine gegnerische Drohne mit Hohlladungsmunition ihr eigentliches Ziel verfehlt und nicht mehr direkt in Militärtechnik einschlägt, verursacht sie nur geringe Schäden. Oder die Drohne verfängt sich im Netz und explodiert dort. 

Ein Militärtruck mit Anti-Drohnen-Netz, Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

„Am Anfang haben wir eine Testcharge geliefert“, berichtet der Leiter der Hilfsorganisation, Artem Kuljubajew. „Das war gar keine große Menge Netze. Sie erwiesen sich als tatsächlich effektiv und so nahmen die Anfragen verschiedener Einheiten, mit denen wir zusammenarbeiten, beträchtlich zu. Wir wollen unseren Jungs entlang der gesamten Frontlinie helfen: in den Regionen Saporishshja, Cherson, Donezk und Charkiw. Unsere Ressourcen sind unbezahlbar – die menschlichen wie die technischen: Panzer und gepanzerte Fahrzeuge sind, wenn sie mit solchen Netzen abgedeckt sind, kaum mehr erreichbar für russische Angriffe.“ 

Helfer und Soldaten entladen den Fischernetz-Transport nachts in einem frontnahen Dorf in der Region Charkiw. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

Nach einem Zwischencheck in Kyjiw macht sich ein Teil der neuen Lieferung auf den Weg in die Oblast Charkiw. Dort kommt sie spät in der Nacht an. Das Ausladen muss schnell gehen, denn hier in Grenznähe greifen die Russen praktisch täglich auch mit Gleitbomben an. Und sicher beobachten ihre Aufklärungsdrohnen Orlan alles, was hier passiert.  

 Mit Rotlicht versucht man in Frontnähe möglichst nicht die Aufmerksamkeit der feindlichen Truppen auf sich zu ziehen. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

Am nächsten Morgen befestigt einer der Soldaten, Rufname Wilhelm, direkt ein frisch geliefertes Netz an seinem Militärtruck. „Heute ist das Gras noch grün, morgen schon gelb. Welche Farbe die Netze haben, ist also nicht so wichtig“, erklärt der Soldat „Wilhelm“. „Das Wichtigste ist, dass uns diese verdammten Drohnen nicht gleich beim ersten Anflug treffen. Das ist jetzt ein Krieg der Artillerie und der Drohnen. Unsere Technik können wir jetzt gleich mit den Netzen schützen, aber unsere vordersten Stellungen leider nicht. Die Russen machen gerade viel Druck in Richtung Charkiw – haufenweise Bomben und Drohnen und Raketen. Da schaffst du es kaum, dich einzugraben, geschweige denn, Netze drüber zu ziehen.“ 

Soldat „Wilhelm“ schützt seinen Militärtruck mit einem Fischernetz aus den Niederlanden. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

Die Verteidigungsstellungen abzusichern, ist unter den aktuellen Kampfbedingungen keine leichte Aufgabe. Das braucht nicht nur Material, sondern auch Zeit. Jeder zusätzliche Schutz bedarf gründlicher Planung. Die Soldaten erklären, dass man während des Anbringens von Fischer- oder speziellen Anti-Drohnen-Netzen mehrere Faktoren beachten muss: So darf das Netz nicht die Bewegungsfreiheit der Soldaten in den Schützengräben beeinträchtigen. Es darf auch nicht beim Schießen und Granatenwerfen stören.

Ein Drohnenschutznetz wird befestigt, Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

Auch die Russen nutzen ähnliche Schutzvorrichtungen, erzählt ein Soldat mit Rufnamen „Dessjaty“ (dt.: der Zehnte). Bei einem der letzten Kampfflüge entdeckte der Drohnenpilot bei seinem Monitoring per Drohne ganze „Volleyballfelder“, wie er es nennt, Felder voller Netze. 

„Da sind wir mal ziemlich weit geflogen, haben den Feind bei der Rotation der Truppen und nachrückenden Technik angegriffen“, so „Dessjaty“. „Eine Weile nach ein paar erfolgreichen Attacken haben wir entdeckt, dass sie dort Netze über ein ganzes Wäldchen ziehen. Wir nennen das jetzt Volleyballfeld. Ohne Witz – das ist über zehn Kilometer lang. Und ich sage euch, das ist kein Quatsch, das stört uns jetzt wirklich bei der Arbeit.“ 

Ein Soldat bereitet eine Drohne für den Fronteinsatz vor. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

Verteidigungsanlagen wie Anti-Drohnen-Netze zu beschädigen, ist indes schon ein eigener Teil des taktischen Drohneneinsatzes geworden. Der Pilot muss immer häufiger einen doppelten Angriff planen. Erst wenn die Verteidigung durchbrochen ist, können die eigentlichen Ziele ungehindert angegriffen werden.  

Darum setzen sowohl die ukrainischen als auch die russischen Drohnenpiloten mittlerweile spezielle Drohnen mit Brandvorrichtungen, so genannte „Feuerzeugdrohnen“, ein. Ihre Aufgabe ist es, Netze oder andere Schutzvorkehrungen in Brand zu setzen. 

„Wir hängen dann einen Brandsatz dran und brennen das Netz ab“, erklärt Drohnenpilot „Dessjaty“. „Ich kann auch versuchen, es zu umfliegen, oder ich zerstöre erst durch einen Einschlag das Netz und mache dann erst den eigentlichen Angriff.“ 

Grobe Fischernetze aus dem Lager eines Fischereibetriebs in den Niederlanden, Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

Bislang haben die Helfer nach eigenen Angaben etwa 500 Tonnen Fischernetze in die Ukraine gebracht. Aber das soll erst der Anfang sein: Geplant würden schon die nächsten noch größeren Transporte von noch mindestens 1000 Tonnen. 

„Pro Tag gibt es mittlerweile bis zu zehn Angriffe hintereinander, den Russen gehen die Drohnen nicht aus. Und die Störsender funktionieren nicht immer. Wer solche Netze hat, aber nicht braucht – bringt die bitte her!“, bittet der Soldat Serhii Plotnyzky. „Was unsere Stellungen schützen kann, ist nie überflüssig. Mag es auch kein Allheilmittel gegen russische Drohnen sein, aber so manche FPV-Drohne hat sich schon in solchen Netzen verheddert.“

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Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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Donezker Volksrepublik

Die Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee.

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Grüne Männchen

Als kleine grüne Männchen, manchmal auch höfliche Menschen, werden euphemistisch die militärischen Spezialkräfte in grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen bezeichnet, die Ende Februar 2014 strategisch wichtige Standorte auf der Krim besetzt haben. Bestritt Moskau zunächst jegliche direkte Beteiligung und verwies auf „lokale Selbstverteidungskräfte“, so gab Präsident Putin später zu, dass es sich dabei um russische Soldaten gehandelt hat. Die grünen Männchen sind inzwischen zu einem kulturellen Symbol geworden.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)