Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Oksana Nevmerzhitska
In den Treppenaufgang einer Ruine hat jemand die Parole „Die Ukraine über alles“ gesprüht. Eine Explosion hat die Wand des Hauses rechts weggerissen. Die Fotografin gab der Serie den Titel: „Sie werden dort keinen Tee mehr trinken“ / Fotos © Oksana Nevmerzhitska
dekoder: Man traut sich fast nicht, das zu sagen, aber das sind schöne Bilder. Sie zeigen Krieg und Zerstörung. Gleichzeitig sind sie farbenfroh und haben fast eine friedliche Ausstrahlung: Man fühlt sich eingeladen in diese Wohnungen, der Himmel strahlt blau. Wie sind diese Aufnahmen entstanden?
Oksana Nevmerzhitska: Ich hatte eigentlich gar nicht geplant, vom Krieg zerstörte Gebäude zu fotografieren. Ich bin keine Kriegsfotografin und arbeite nicht dokumentarisch. Außerdem sind schon so viele Bilder von Zerstörung und Ruinen aus diesem Krieg um die Welt gegangen. Mir schien, dass zu diesem Thema bereits alles gezeigt wurde und alles gesagt ist. Aber dieses Haus hat mich auf besondere Weise berührt. Es steht etwa 60 Kilometer außerhalb von Kyjiw in Borodjanka. Dort sind in den ersten Wochen des Krieges fürchterliche Dinge geschehen. Der Stadtteil, in dem das Haus steht, wurde völlig zerstört. Ich kenne das Gebäude gut, weil ich seit 20 Jahren immer wieder daran vorbeifahre, wenn ich meine Eltern besuche. Seit das Haus eine Ruine ist, lässt es mir keine Ruhe. Jedes Mal, wenn wir daran vorbeikamen, hat sich mir innerlich alles verkrampft. An einem schönen Sommertag im August 2023 habe ich schließlich meinen Mann gebeten anzuhalten. Meine Familie hat im Auto gewartet und ich bin losgezogen und habe diese Bilder gemacht.
Die Serie trägt den Titel: „Sie werden dort keinen Tee mehr trinken“. Was wollten Sie damit ausdrücken?
Es sind keine dokumentarischen Bilder, eher eine Reflexion. Mein Ziel war es nicht, dem Publikum ein weiteres zerstörtes Haus zu zeigen, sondern etwas von meinen Gefühlen auszudrücken, von der Angst und der Verunsicherung mit der wir in der Ukraine seit fast drei Jahren leben. Das internationale Publikum ist müde von den Bildern der Zerstörung. Wir alle sind müde. Man möchte sich am liebsten abwenden und das alles nicht mehr sehen. Deswegen wollte ich weg von diesen düsteren Bildern und etwas zeigen, wo man sich nicht so schnell abwenden kann. Da sind frohe Farben, ein strahlender Himmel – und erst auf den zweiten Blick erkennt man die Tragödie. Dieser Kontrast zwischen Schönheit und Schrecken zwingt zum Nachdenken.
Sie sprachen davon, dass sie der Anblick dieses Hauses so aufgewühlt hat. Warum?
Dieses Haus ist einerseits groß und gleichzeitig wirkt es wie ein Puppenhaus. Eine Explosion hat die Außenwand weggerissen, man blickt in das Intimste, den privaten Lebensraum der Menschen. Das ist für mich die schlimmste Erfahrung in diesem Krieg:
Ein Haus bedeutet Schutz. Mein Zuhause war immer auch meine Festung, in die ich mich zurückziehen konnte. Unsere Wohnung ist Teil unserer Innenwelt, hier kann ich nackt und verletzlich sein. Der Krieg hat diese Gewissheit zerstört. Wir mussten erleben, dass diese Festung fragil ist, und das macht Angst. Ich kann mich nirgends mehr sicher fühlen. Jederzeit kann jemand in meinen intimsten Rückzugsraum eindringen, mit schmutzigen Fingern in meinen Sachen wühlen. Das hat viele Parallelen zu der sexuellen Gewalt, die die russischen Angreifer ja auch häufig ausüben. Dieses Bild verkörpert für mich all diese Gefühle: Etwas, das mir lange unerschütterlich schien, ist plötzlich ganz zerbrechlich.
Die Möbel stehen noch immer an ihrem Platz. Es wirkt fast so, als könnten die Bewohner jeden Moment nach Hause kommen…
Als ich das Bild aufgenommen habe, stand das Haus bereits seit anderthalb Jahren so da. Und heute, fast drei Jahre nach Kriegsbeginn, sieht es fast noch genauso aus. Die Stühle, die Zeitschriften im Regal. Es hat geregnet, geschneit und gestürmt. Der Krieg dauert an, aber hier wirkt es, als wäre die Zeit angehalten. So habe ich das auch in den ersten anderthalb Jahren nach Kriegsbeginn empfunden: Als wäre das Leben eingefroren, als wäre ich in einem Vakuum gefangen. Du bewältigst deinen Alltag, du lächelst, aber du hast keine Vorstellung davon, wie es weitergehen soll.
Das zweite Bild zeigt das Treppenhaus eines zerstörten Gebäudes in der Nähe. Jemand hat „Ukrajina ponad use!“ an die Wand gesprüht – „Die Ukraine über alles!“ – und daneben das Kürzel der ukrainischen Streitkräfte „WSU“. Ist diese Parole in einer Ruine ironisch zu verstehen?
Für mich überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses Graffito erst nach der Zerstörung des Gebäudes entstanden ist. Für mich ist diese Parole wie ein Aufschrei: Ihr werdet uns nicht brechen! Ihr könnt unsere Häuser zerstören, ihr könnt unseren Alltag zur Hölle machen. Aber unseren Selbstbehauptungswillen und unsere Identität werdet ihr uns nicht nehmen. „Die Ukraine über alles“, das heißt, es gibt etwas, das wichtiger ist als materielle Dinge.
Wie reagieren Ihre Landsleute auf diese Bilder?
Sie wecken auch bei Ihnen widersprüchliche Gefühle. Das war ja auch meine Absicht. Meine Absicht war nicht, den Krieg zu ästhetisieren. Ich wollte ihn so zeigen, dass die Leute hinsehen. Dieses Nebeneinander von Schrecken und Schönem ist Teil unseres Alltags. In unseren Familien erleben wir schreckliche Tragödien, aber wir feiern auch Kindergeburtstage. Nachts fallen die Bomben, aber am nächsten Morgen um 7 habe ich Yoga. Manchmal komme ich aus dem Luftschutzkeller und gehe erstmal auf die Matte, bevor ich mich nochmal hinlege. Das ist unser täglicher Surrealismus: Heute früh um 6 mussten wir in den Luftschutzkeller, weil Raketen im Anflug waren. Ich habe die Kinder geweckt und wir sind losgelaufen. Es war dunkel, es war kalt, auf der Straße lag Schneematsch, und meine Tochter lachte und rief: „Schnee, Schnee!“. Wir laufen in den Luftschutzraum, und meine Tochter freut sich über den ersten Schnee.
Die Ruinen, die Sonne und auf der Wiese blühen Blumen. Bomben fallen und Kinder freuen sich über den ersten Schnee – das passt alles nicht zusammen.
Aber so sieht unsere Realität aus. Du bekommst eine Warnung: Es sind wieder Flugzeuge aufgestiegen, in 20 Minuten werden ihre Raketen in Kyjiw sein. Und während du mit der einen Hand Kaffee kochst, lädst du mit der anderen noch schnell einen Film bei Netflix runter, damit ihr euch die Zeit im Luftschutzraum vertreiben könnt, denn 20 Minuten hast du ja noch. Du hast Angst, und gleichzeitig handelst du routiniert. Zu den Eigenschaften, die ich am meisten an meinen Landsleuten schätze, gehört der Humor. Wir Ukrainer lachen viel, selbst wenn wir Angst haben müssen. Es kommt vor, dass der Luftalarm versagt. Neulich wurden wir von einer Explosion aus dem Schlaf gerissen. Es war keine Zeit mehr, sich anzuziehen, alle sind wie sie waren in den Luftschutzraum gerannt: im Nachthemd, im Schlafanzug, mit zwei unterschiedlichen Hausschuhen. Und als wir da einer nach dem anderen in diesem Aufzug eintrafen, meinte jemand, ob wir denn zu einer Pyjama-Party verabredet waren, und alle lachten. Die emotionale Belastung ist enorm, aber der Humor hilft manchmal, den Druck rauszunehmen und mental zu überleben.
Wie kann man das jemandem vermitteln, der das nicht selbst erlebt hat?
Das ist sehr schwer. Einerseits verstehe ich, dass die Menschen in Europa den Krieg in der Ukraine verdrängen. Das ist eine normale Reaktion. Es gibt so viele gewaltsame Konflikte auf der Welt, wir können uns nicht alles zu Herzen nehmen. Deswegen will ich den Betrachter einfangen, bevor er sich wieder abgewandt hat von so einem schrecklichen Bild. Weil er das schon kennt, weil er es nicht sehen will, weil er nichts tun will und auch nicht will, dass das an ihm nagt. Ich hoffe, dass er schon in dieses einladende Gebäude eingetreten ist, bevor er merkt, dass es hier um Krieg geht. Dass er nicht mehr weglaufen kann.
Arbeiten der Fotografin Oksana Nevmerzhytska (geb. 1984) wurden unter anderem auf Ausstellungen in Frankreich, Schweden, Israel und den USA gezeigt und bei internationalen Wettbewerben ausgezeichnet. Ihre Bilder erschienen unter anderem im renommierten British Journal of Photography. Sie lebt mir ihrer Familie in Kyjiw.
Foto © Oksana Nevmerzhitska
Fotos: Oksana Nevmerzhitska, aus der Serie "They will no longer drink tea there"
Bildredaktion: Andy Heller
Interview: Julian Hans
Veröffentlicht am: 17.12.2024