Geschichte ist zu einem der wichtigsten Streitgegenstände geworden in Russland - die Politik spielt dabei eine aktive Rolle. Morgen, zum Tag der Einheit des Volkes in Russland, wird in Moskau eine Statue zu Ehren des Fürsten Wladimir eingeweiht. Das Denkmal ist mit einer Vielzahl historischer Konnotationen aufgeladen (Verhältnis russischer Staatlichkeit und Orthodoxie zur Kiewer Rus, Verhältnis zwischen russischer und ukrainischer Geschichte). Zugleich werden durch Gedenktafeln, Büsten und Diskussionen um die Umbenennung von Straßen oder gleich ganzen Städten Bezüge in die Sowjetzeit und zum Stalinismus hergestellt.
Für das Webmagazin InLiberty hat sich Nikolay Epplée mit dem sensiblen Thema der Erinnerungskultur im gegenwärtigen Russland auseinandergesetzt. Seine zentrale These: Die Interpretation der Geschichte werde derzeit völlig von der herrschenden Politik instrumentalisiert. Mit der Angliederung der Krim und dem Krieg im Donbass sei dies aktiv vorangetrieben worden. Das habe gewaltige Impulse in die russische Gesellschaft hineingegeben – und Raum für eine lange nicht dagewesene Anknüpfung an Stalin freigesetzt. Ein Kurzessay.
Was noch vor wenigen Jahren nur einige besonders feinfühlige Autoren und Forscher konstatierten, ist heute offensichtlich: Russland ist von der Vergangenheit besessen. Der Ausdruck „Kampf der Erinnerung“ war zu Beginn der 2010er Jahre nur Soziologen ein Begriff, die sich mit dem kollektiven Gedächtnis befassten. Heute ist er allgemein bekannt. Keine Woche vergeht ohne einschlägige Nachrichten: Denkmäler für Stalin, Iwan den Schrecklichen, Wladimir den Großen werden eingeweiht (bzw. bestehende Denkmäler geschändet oder demontiert). Entsprechende Museen werden eröffnet oder Gedenktafeln für bestimmte historische Figuren angebracht. Oder es wird wieder einmal eine Initiative zur Umbenennung von Wolgograd gestartet.
Die Massenkultur überschlägt sich: TV-Moderatoren stehen in Stalinscher Feldjacke verkleidet vor der Kamera. Werber und Organisatoren kultureller Massenveranstaltungen versuchen, mit dem Thema Repressionen zu spielen. Und ein Aktionskünstler, der die Tür der Lubjanka anzündet, gilt als der wichtigste zeitgenössische Künstler Russlands. Die Historiker sehen mit ohnmächtiger Verzweiflung zu, wie ihr Forschungsgegenstand zur mächtigen Ressource für den Aufbau einer „Geschichtspolitik“ wird – was nicht heißt, dass ihr Urteil dadurch mehr Gewicht erhielte; es wird paradoxerweise erst gar nicht mehr berücksichtigt. Die Erinnerung an die Vergangenheit führt ein Eigenleben, ganz wie es die klassischen Theorien der Kultursoziologen beschreiben. Sie nährt sich von Traumata, Manien, Phobien und der alltäglichen Erbitterung und zeigt wenig Interesse an Tatsachen. Eine grundlegende Besonderheit der heutigen russischen Realität, auf die schon oft hingewiesen wurde, besteht darin, dass die Geschichte an die Stelle der Politik tritt: Im Fernsehen, in den sozialen Netzwerken, auf der Straße und in den Küchen debattiert man nicht über die Gegenwart, sondern über die Vergangenheit.
„Diskussionen dieser Art (über den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die Kriege in Afghanistan oder Tschetschenien, die Repressionen und den Zusammenbruch der UdSSR) kommen ganz von selbst zustande, im Taxi, im Zug, im Wartezimmer beim Arzt – überall, wo sich die Gelegenheit zum Gespräch ergibt“, schreibt Maria Stepanowa in einem der wichtigsten journalistischen Texte des Jahres 2015. „Das Ganze erinnert ein wenig an einen Familienkrach. Nur, dass das ganze, riesige Land als Küche dient. Und dass dabei auch Tote mitwirken, die, wie sich zeigt, ‚lebendiger als alle Lebenden‘ sind.“
Auf jemanden, der das Geschehen aus der Distanz betrachten kann, macht es einen äußerst merkwürdigen Eindruck. Ein Land, das sich mit all seinen Nachbarn überworfen hat, befindet sich in einer langwierigen Wirtschaftskrise mit unsicherem Ausgang, die Regierung kürzt die Ausgaben auf das Allernotwendigste, außer die für den Krieg – und die Gesellschaft debattiert mit paranoidem Eifer über die Vergangenheit. Die Umbenennung der Metrostation Woikowskaja in Moskau oder das Anbringen bzw. Entfernen einer Gedenktafel für Carl Gustaf Mannerheim in St. Petersburg beschäftigt die Einwohner der beiden Hauptstädte mindestens genauso, wenn nicht sogar mehr als die Erhöhung der Lebensmittelpreise und die anhaltenden Kampfhandlungen auf dem Territorium des benachbarten Bruderstaates.
Es lohnt sich, den Gründen für dieses Phänomen nachzugehen. Die Vergangenheit hält uns in Bann, weil sie nicht abgeschlossen ist – weil es nicht möglich war, die Toten gebührend zu begraben und zu betrauern, ihr Erbe anzutreten, Erkenntnisse aus der Geschichte zu ziehen und nach Vollendung eines Zyklus den nächsten zu beginnen. Um sich diesem Problemkomplex anzunähern, sollte man sie genau beobachten, diese Entzündung unseres Erinnerungsapparates.
Reaktivierung des Stalinkomplexes
Die Denkmäler für Stalin und seinesgleichen sind nicht auf einmal aus dem Boden geschossen. Sie sind seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer wieder aufgetaucht – mal hier, mal dort. Aber während man in den 2000er und den frühen 2010er Jahren versuchte, sie in den Gedenkräumen von Schulen, in Vorgärten oder auf geschlossenen Betriebsgeländen vor den Blicken Außenstehender zu verbergen, sind sie seit Anfang 2014 auf öffentliche Plätze vorgedrungen. Im Februar 2015 wurde in Jalta in Anwesenheit des Vorsitzenden der Staatsduma, Sergej Naryschkin, das Monument Die großen Drei eingeweiht – das erste offizielle Denkmal seit der von Chruschtschow eingeleiteten Ent-Stalinisierung, das auch Stalin gewidmet ist.
Die russische Staatsmacht, die die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan als ernsthafte Gefahr für sich selbst empfand, begann, nach einer möglichst universellen Sprache zu suchen, welche die innerlich zutiefst gespaltene (oder vielmehr absichtlich und systematisch aufgespaltene) Nation zusammenführen konnte. Der universalistische Tonfall, der bei der Eröffnungs- und Abschlussfeier der Olympischen Spiele in Sotschi angeschlagen wurde, erwies sich als schlecht geeignet für die Mobilmachung. Es bedurfte einer patriotischen und isolationistischen Sprache, die an die Erfahrung des Sieges über äußere und innere Feinde appellierte.
In Russland ist die einzige derartige Sprache traditionell die der Beschwörung des Sieges im Zweiten Weltkrieg. Ein Problem ist dabei, dass sich die Vertreter aus der offiziellen Sphäre diese Sprache zu sehr aneignen und die innere Bereitschaft, ihr zu folgen, auf persönlicher Ebene an Kraft verliert. Zudem eignet sie sich zwar zur Abarbeitung einer „positiven Agenda“, etwa wenn es um das Zusammenstehen gegen einen äußeren Feind geht. Aber für eine negative Mobilisierung, bei der an Gefahr und nicht an Größe gemahnt werden muss, ist sie kaum brauchbar.
Die gleichzeitige Berufung auf Stalin und die Repressionen öffnet dem aufgestauten Negativen hingegen die Tür. Sie bietet einen kritischen, ja sogar einen Protest-Diskurs an und fügt sich in eine Auseinandersetzung mit inneren Feinden ein. Die staatliche Propaganda benutzte diese Sprache nicht gerade heraus; sie begann einfach nur, von äußerer und innerer Bedrohung, von Strafkommandos und Aufständischen, Bandera-Anhängern und Verrätern der Nation zu sprechen. Die Macht gab ihrer Stimme einen metallischen Beiklang, sie drohte und demonstrierte Stärke. Das genügte, um den Komplex zu aktivieren, der im Bewusstsein der russischen Bürger schlummerte.
„Die abrupte Änderung der nationalen Politik hat bei vielen Leuten zu einer Veränderung der historischen Wahrnehmung geführt. Das Geschehen ließ sich für sie am folgerichtigsten in der Sprache der Sowjetunion unter Stalin beschreiben“, sagt der Historiker Ivan Kurilla. „In dieser Ära hat die Sowjetunion ihr Territorium erweitert, und das wurde damals als positiver Prozess gesehen. Nach Stalin hatte es das nicht mehr gegeben. Die Expansion des Landes, die Annexion der Krim, erwies sich also für einen Großteil der Mitbürger als Anstoß, zu einem Weltbild zurückzukehren, das wir aus der Sowjetunion aus der Mitte des 20. Jahrhunderts kennen.“
Die Staatsmacht hat dieses Bild nicht absichtlich evoziert. Es entwickelte jedoch eine Eigendynamik, und bereits im Frühjahr 2014 bekannten sich mehr Russen als zuvor zu einer sympathisierenden Haltung Stalin gegenüber. Wie in der alten Geschichte vom Zauberlehrling waren die entfesselten Kräfte unkontrollierbar für diejenigen, die sie aus Nützlichkeitserwägungen heraus freigesetzt hatten. Und ihre Wucht und Bedeutung ging weit über den ursprünglichen Anlass hinaus. Aus dem Abgrund stieg ein Problem empor, das weit größer war als Krim und Maidan. Die Staatsmacht war beim Tasten nach einer einenden Sprache auf einen allumfassenden Schmerz gestoßen. Sie hatte auf sensible Stellen im Körper abgezielt, aber den traumatischen Punkt getroffen.
Sowjetische Ideologie-Versatzstücke
Gerade das Trauma ist das wichtigste einigungsstiftende Moment dieses wieder zum Leben erweckten Gebildes. Was auf den ersten Blick aussieht wie die Wiedergeburt eines Kolosses, wie die Rückkehr des Staatsmodells der UdSSR unter Stalin, erweist sich bei näherer Betrachtung als eine Reihe heterogener Elemente, denen die innere Einheit fehlt.
Besonders deutlich wird dies in der Außenpolitik – zum Beispiel in der Wiederbelebung von Ideen und Reaktionsweisen, die mit dem Kalten Krieg zusammenhängen. Anders als die UdSSR kann das heutige Russland – das den wirtschaftlichen Wettbewerb und den Rüstungswettlauf verloren hat und der Welt kein alternatives politisches System, keine alternativen Werte und Ideale mehr zu unterbreiten hat – den eigenen Bürgern nur die Sehnsucht nach einer solchen Alternative und solchen Werten bieten und dem Rest der Welt nur ein Imitat der sowjetischen Bedrohung. Da der Staat den Status als Weltmacht nicht auf natürliche Weise wiedererlangen kann, nutzt er eine Art Analogiezauber. Er legt Kostüme der Vergangenheit an, um in eine Zeit zurückzukehren, in der das Gras grüner war – und er selbst stärker und erbarmungsloser. Interessanterweise spielt die Bevölkerung dabei gerne mit. Die Erinnerung an das Leben im Kalten Krieg ist ja noch recht frisch und leicht wiederzubeleben. Und dass wir anstelle einer Ideologie und eines starken Staates etwas äußerst Amorphes haben, entgleitet der Aufmerksamkeit der meisten Leute, scheint gleichsam irrelevant zu sein.
Das Gleiche geschieht in der Innenpolitik. Die staatlichen Repressionsorgane sind desintegriert und schwach. Ihnen fehlen die ideologische Motive und der Glaube an die Gerechtigkeit der eigenen Sache, sie sind allein von Gier und Angst angetrieben. Der Staat spielt die starke Hand nur – und seine Bürger spielen bereitwillig das Leben unter der starken Hand. Innerhalb dieser Logik erklärt sich, weshalb der abrupte Anstieg der Verfahren wegen „Extremismus“ und „Staatsverrat“ sowie die Kampagnen gegen „ausländische Agenten“ und die Fünfte Kolonne funktionieren und von der Mehrheit akzeptiert werden (fast die Hälfte derer, die über das ziemlich schnell eingestellte Verfahren gegen die mehrfache Mutter und „Staatsverräterin“ Swetlana Dawydowa informiert waren, gaben den Daten des Meinungsforschungsunternehmens WZIOM zufolge an, dass sie eine Gefängnisstrafe verdient habe). Selbst rein technische Maßnahmen wie die Einführung gebührenpflichtiger Parkplätze, der Abriss von Verkaufsbuden oder Straßenbaumaßnahmen im Zentrum von Moskau werden nach dem Muster stalinscher Mobilisierungskampagnen durchgeführt.
Für die mangelnde Zukunftsfähigkeit und die Gebrechlichkeit der Konstrukte, mit denen wir es heute zu tun haben, spricht auch ihr hoffnungslos eklektischer Charakter. Sowjetische Ideologie-Versatzstücke verbinden sich mit monarchistischen, Orthodoxie mit Faschismus, Kommunismus mit Kapitalismus und Erscheinungen der Moderne mit offenkundigem Postmodernismus. Der „weltanschaulichen Rahmen“ beherbergt ein Konstrukt aus äußerst heterogenen Erscheinungen, die je nach Situation aus Ängsten und Traumata zusammenmontiert wurden.
Aber wenn das so entstandene Bündel künstlich, unvollständig und nicht lebensfähig ist, wenn es keine Ressourcen für eine echte Renaissance des stalinistischen Modells gibt – woher kommt dann die offensichtliche und augenfällige Energie, mit der dieses Gebilde Lebenszeichen von sich gibt?
Erstens liegt der schmerzhaft aufbrechenden Erinnerung an die Sowjetunion, wie schon gesagt, ein Trauma zugrunde, das die Zeit nicht heilen kann, wenn es nicht verarbeitet wird. Zweitens erinnert das Phänomen mit seiner Intensität und seinem verkrampften Bemühen stark an eine Agonie. Agonie im medizinischen Sinn bedeutet ja immer eine Aktivierung der Lebenskräfte – Atmung, Herzrhythmus und Durchblutung des Sterbenden funktionieren plötzlich wieder. Verantwortlich dafür sind jedoch nicht das Gehirn und der obere Bereich des Nervensystems, sondern Hirnstamm und Rückenmark. Es handelt sich um eine von Krämpfen begleitete Verbrennung der letzten Ressourcen im Vorgriff auf das unvermeidliche Ende. Das, was heute zu beobachten ist, erinnert bei aller scheinbaren Lebendigkeit und Frische genau daran.
Der schlafende Koloss erwacht nicht, sondern liegt im Todeskampf. Das heißt jedoch keineswegs, dass das Geschehen harmlos ist. Diese Agonie von historischem Maßstab kann Jahre andauern, und der Drache kann in den letzten Zuckungen viele mit ins Verderben reißen – sowohl die tapferen Ritter als auch die Anhänger, die sich an ihn geklammert haben, sei es aus Angst, aus Dummheit oder weil sie den Todeskampf mit der Rückkehr zum Thron verwechselten.
Er hat schon jetzt einige tausend Menschen mit sich gerissen, die – freiwillig oder auf Befehl – in den ukrainischen Krieg zogen und dort getötet haben und gefallen sind. Und einige Dutzend (anderen Angaben zufolge Hunderte) in Syrien. Dazu kommen die Opfer der Verurteilungen wegen Extremismus und anderer parapolitischer Anklagen, die infolge der Aktivierung des repressiven Systems stark zugenommen haben.
Unheimlicher und Schmerzlicher Diskurs
So paradox es klingt: Man kann in dieser krampfhaften Aktivierung des „Stalinkomplexes“ auch ein wichtiges Zeichen der Hoffnung sehen. Denn die Verarbeitung der traumatischen Vergangenheit, die durch zahlreiche politische, soziale und psychologische Faktoren erschwert wird, könnte sich dadurch endlich das ganze Land packen und Russland faktisch zu einem ernsthaften Umdenken zu nötigen. Die Erinnerung an den Großen Terror ist bis heute entweder weitgehend privat, in den Tiefen verborgen, aus denen heraus sie unsichtbar die Gegenwart und die Beziehung zu ihr gefärbt hat (siehe das Buch Krivoe gore – dt. Der entstellte Kummer von Alexander Etkind), oder sie wurde „extern“ bearbeitet. Jetzt kann sie mit voller Kraft erwachen. Die gemeinsame Verarbeitung des gemeinsamen Schmerzes ist eine unumgängliche Voraussetzung für die Heilung.
Staatliche Anstrengungen allein reichen in solchen Fällen nicht aus – davon zeugt die äußerst oberflächliche offizielle Ent-Stalinisierung in den 1950er und 1960er Jahren, die als solche schon ein schmerzhaftes Ressentiment provoziert hat, und später dann die Umwertung der Werte in den 1990er Jahren. Auch die Bemühungen lediglich eines aktiven Teils der Zivilgesellschaft sind nicht ausreichend. Die Bedeutung der Tätigkeit von Organisationen wie Memorial ist nicht hoch genug einzuschätzen. Die Mitglieder von Memorial sagen jedoch selbst, dass sie ihre Aufgabe darin sehen, der Öffentlichkeit die Materialien und Fakten für die Aufarbeitung an die Hand zu geben. Sie können diese Aufarbeitung nicht anstelle der Gesellschaft und ohne Mitwirkung des Staates durchführen.
In den beiden letzten Jahren ist zu beobachten, dass in der ganzen Gesellschaft ein Diskurs über die Repressionen und das Erbe des Stalinismus beginnt. Dieser Diskurs ist oft unheimlich und schmerzlich, er entgleitet zuweilen in unnötige und emotionale Verallgemeinerungen – aber wenn ein Geschwür aufbricht, ist das unvermeidlich. Oleg Chlewnjuks Buch über Stalin gehört zu den verlegerischen Höhepunkten des Jahres 2015, und einiges deutet darauf hin, dass es im Kreml aufmerksam gelesen wird. Posts in sozialen Netzwerken, die dem Gedenken an die Repressionen gewidmet sind, werden zu Zehntausenden geteilt (nur zwei Beispiele: Andrej Mowtschans Antwort auf einen Kommentator und Sergej Parchomenkos Erzählung über Kolpaschewski Jar); Bürgerinitiativen wie Woswraschtschenie imjon (Rückgabe der Namen) und Posledni adres (Die letzte Adresse) vermehren sich exponentiell. Ein wichtiges Detail: In diesem Jahr wird die Aktion Woswraschtschenie imjon am Solowezki-Stein in Moskau erstmals nicht aus Fördertöpfen, sondern durch Spenden von Bürgern finanziert. Früher war so etwas nicht möglich – jetzt ist es auf einmal ganz selbstverständlich geworden.
Man kann sogar noch etwas weiter gehen. Russland braucht nicht einfach nur einen Diskurs über die Erinnerung. Ein solcher Diskurs ist vielmehr der einzige Weg, um eine weit schwierigere Aufgabe anzugehen: den Versuch, im ganzen Land eine gemeinsame Sprache zu finden.
Neben vielen anderen Dingen hat die Krim-Krise deutlich gezeigt, dass in der russischen Gesellschaft ein kalter Bürgerkrieg herrscht, der in einer Krisensituation ein heißer werden kann. Der Schmerz, der deutlich mit der Stalinära in Zusammenhang steht, ist wohl die einzige wirklich gemeinsame Erfahrung, die nicht nur die Russen vereint oder vereinen könnte, sondern alle Menschen im postsowjetischen Raum.
Eine solche Vereinigung wäre von gänzlich anderer Art als das, was die Urheber der Post-Krim-Mobilisierung wachrufen wollten. Aber gerade sie könnte ein Gespräch darüber in Gang setzen, wie wichtig und notwendig eine Koexistenz in diesem Raum ist – ein Gespräch über gemeinsame Ziele und über Gemeinsamkeiten, für die es sich lohnt, Kompromisse einzugehen.