Befreiung vom Despoten, zarte Protestkultur und Poeten als Volkshelden: Die Zeit des Tauwetters in den Jahren nach Stalins Tod brachte eine Neudefinition des sowjetischen Lebens. Kultur und Politik erlebten eine euphorische Phase der Liberalisierung. Doch schon mit der Entmachtung Nikita Chruschtschows setzte eine politische Restaurationsphase ein, die bis zur Perestroika andauern sollte. Heutzutage wird das Tauwetter oft nostalgisch verklärt, unter Historikern ist seine Deutung weiterhin umstritten.
Der Begriff des Tauwetters (russ. ottepel) wird oft mit der Regierungszeit Nikita Chruschtschows (1953–64) gleichgesetzt. Doch entstand das griffige Bild zunächst aus einem literarischen Schlüsselwerk: Ilja Erenburgs Roman Tauwetter von 1954 schilderte die individuellen Zweifel der jüngeren sowjetischen Generation an den herrschenden Normen und verstand den Protest gegen die alte politische Ordnung als Prozess der Erwärmung, als ein symbolisches Aufschmelzen des stalinistischen Systems. Der Romantitel wurde bald zum Namensgeber einer ganzen Epoche.
Zentrales Moment der Tauwetter-Ära war die Ent-Stalinisierung der sowjetischen Gesellschaft. Deren Anfang lässt sich mit der sogenannten Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 assoziieren, in der dieser den Personenkult um Stalin anpragerte und – bis zu einem gewissen Maße – mit dem stalinistischen Terror abrechnete. Dieser Kurs wurde einige Jahre später mit der Entfernung des Leichnams Stalins aus dem Mausoleum sowie der Verbannung seines Namens aus der Öffentlichkeit fortgeführt. Entscheidend waren in diesem Prozess ebenso die Freilassung von Millionen politischer Häftlinge aus den Lagern und erste Ansätze ihrer Rehabilitation.
Insgesamt veränderte sich im Tauwetter unverkennbar die Beziehung der Bevölkerung zum Regime, sodass nun eine Revitalisierung des öffentlichen Lebens und der Kultur einsetzte. Deutliche Lockerungen im Umgang mit Rede- und Publikationsfreiheit erweiterten nicht nur die künstlerischen Möglichkeiten und führten zu einem neuen, aufrichtigen Ton in der Literatur, sondern erlaubten auch die literarische Enttabuisierung des Gulag und des stalinistischen Terrorregimes. Neben den Texten von Alexander Solschenizyn, dessen Lager-Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ 1962 zum ersten Mal erscheinen konnte, waren es besonders Lyriker wie Jewgeni Jewtuschenko oder Bella Achmadulina, in deren Gedichten soziales Engagement artikuliert und transportiert wurde. Öffentliche Literaturlesungen wie etwa beim 1958 errichteten Majakowski-Denkmal zogen oftmals Tausende von zumeist jungen Besuchern an und schufen ein Forum für die aufkommende Gegenöffentlichkeit.
Die Entstehung einer unangepassten, urban geprägten Jugendkultur zu dieser Zeit hatte zudem mit der zarten Tendenz einer „Verwestlichung“ der sowjetischen Kultur der 50er und 60er Jahre zu tun. Sie äußerte sich in einem neuartigen Interesse für Mode, Jazz oder westlich geprägte Identitätsentwürfe – wie der aufkommenden Hooligan-Kultur oder den sogenannten Stiljagi. War die Sowjetunion unter Stalin streng von der westlichen Hemisphäre isoliert, so ergaben sich nun neue Kontaktmöglichkeiten mit dem Ausland: So gelangten, etwa durch heimkehrende Soldaten oder über das Baltikum, westliche Konsumgüter in die Sowjetunion. Aber vor allem waren es Ausstellungen und Festivals, die in Moskau organisiert wurden und dem kulturellen Austausch dienten. Dazu gehörten z. B. die Weltjugendspiele 1957, zu denen weit über 30.000 Menschen aus aller Welt strömten, oder die amerikanische Nationalausstellung 1959.
Allerdings wäre es irreführend, die Tauwetterzeit historisch einseitig als Phase einheitlicher und umfassender Liberalisierung zu romantisieren. Restriktive und liberale Tendenzen wechselten sich – auch aufgrund von Chruschtschows oft sprunghaften Entscheidungen – ständig miteinander ab, sodass es sich vielmehr um eine Reformationsphase des sozialistischen Experiments handelte. Zudem kannten und nutzten den Begriff Tauwetter nur die besser gebildeten, urbanen Schichten. Die Verhaftung des Dichters Joseph Brodsky und der Prozess gegen die Autoren Daniel und Sinjawski bildeten ab Mitte der 60er Jahre den Auftakt für eine Phase der Restauration unter Breshnew, die später als Epoche der Stagnation bis in die 80er Jahre dauerte.