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Nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs und vor der Gründung der zur Sowjetunion gehörenden Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik existierte für kurze Zeit die Belarusische Volksrepublik (BNR), das erste Projekt eines modernen Staates auf dem Territorium der heutigen Republik Belarus. Bis heute feiert die belarusische Opposition dessen Unabhängigkeitserklärung am 25. März 1918 als Tag der Freiheit (belarusisch: Dsen Woli), die weiß-rot-weiße Fahne der Republik ist ihr Protestsymbol. Doch abseits nebulöser Vorstellungen ist wenig über die Belarusische Volksrepublik bekannt1, die nie über den Zustand eines Rumpf-Staates ohne realen politischen Einfluss hinauskam. Geblieben ist ein Mythos, der zwischen deutscher Marionettenregierung und revolutionärer Volksvertretung schwankt. Aufklärung tut not.
Den historischen Hintergrund für die Entstehung der BNR bildeten drei Faktoren: die im September 1915 erfolgte Besetzung belarusischer Gebiete durch das Deutsche Reich, die Machtergreifung der Bolschewiki in der Oktoberrevolution von 1917 und die Friedensverhandlungen beider Parteien in Brest-Litowsk, die sich von Dezember 1917 bis März 1918 erstreckten. Angetrieben vom Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung beriefen die Große Belarusische Rada, die Zentrale Belarusische Militär-Rada und das belarusische Exekutivkomitee der Westfront in der ersten Novemberhälfte einen Ersten Belarusischen Kongress nach Minsk ein. Dieser trat am 18. Dezember (nach julianischem Kalender am 5. Dezember) zusammen, um über die zukünftige Staatsform und das Verhältnis zu Russland zu beraten. Eingeladen waren 1872 Delegierte aus allen Teilen des Landes, die die unterschiedlichsten politischen Interessengruppen vertraten. Um einem potentiellen Separatismus einen Riegel vorzuschieben, lösten Truppen der Bolschewiki die Versammlung am 31. Dezember (nach julianischem Kalender am 18. Dezember) in dem Moment auf, als eine demokratische Republik ausgerufen werden sollte. Aktiv blieb indes deren neu geschaffenes Leitungsorgan, die Rada (dt. Rat).
Vertreter der belarusischen Nation waren in Brest-Litowsk nicht zugegen. Im Gegenteil: Das Territorium der historischen Landschaft Belarus wurde bei den Verhandlungen nicht einmal als eigenständige Größe erachtet. Zu einem Abschluss kamen die Verhandlungen erst, nachdem deutsche Truppen Mitte Februar 1918 die bis dato westlich von Minsk gelegene Frontlinie überschritten hatten und bis zum Dnjepr vorgedrungen waren. In der Folge wurde am 3. März in Ergänzung zu dem sogenannten Brotfrieden mit der Ukrainischen Volksrepublik ein Abkommen mit Sowjetrussland erzielt, das die neu eroberten Gebiete einer vorübergehenden deutschen Okkupation unterstellte. Dadurch stand die belarusische Rada vor einem Problem: Das Land, für das sie sich zuständig fühlte, war nun entlang der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Linie von Daugavpils (damals Dünaburg) bis Brest (zeitgenössisch Brest-Litowsk) in einen deutsch kontrollierten unabhängigen Hoheitsbereich im Westen und in ein deutsch besetztes, aber sowjetrussisches Gebiet im Osten geteilt. Zudem blieb der östliche Teil der sich am Fluss Prypjat erstreckenden Landschaft Polesien inklusive der Stadt Brest-Litowsk der Ukrainischen Volksrepublik überlassen.2
Am Vorabend der deutschen Einnahme von Minsk verabschiedete das Exekutivkomitee der Rada des Allbelarusischen Kongresses am 21. Februar 1918 das erste von drei Basismanifesten (belaruss. Ustaunaja hramata: wörtl. Statuten-Urkunde) der Völker der Belarus. Bereits der Titel implizierte eine multikulturelle Perspektive auf ein gemeinsames Hoheitsgebiet. Das Exekutivkomitee berief sich auf das Selbstbestimmungsrecht des belarusischen Volkes und respektierte die Autonomieansprüche anderer, namentlich nicht genannter Völker oder nationaler Minderheiten. Infrage kamen hierbei vor allem Polen, Russen und Juden. Entscheidend war die eigenmächtige Übertragung der Regierung an ein Volkssekretariat der Belarus. Dieses sollte die demokratischen Ziele fixieren, die nach dem Sturz der zaristischen Herrschaft möglich geworden waren, und eine Allbelarusische Konstituierende Versammlung einberufen.4 Allerdings untersagten die deutschen Besatzer bereits am 25. Februar das Gebaren des Volkssekretariats als Regierungsbehörde, welches in der Inbeschlagnahme des ehemaligen Gouvernementsgebäudes und dem Hissen der weiß-rot-weißen Fahne seinen Ausdruck gefunden hatte.5 Später zeigten sich die Deutschen aus pragmatischen Gründen gewillt, eine Vertretung des Volkes in sozialen und kulturellen Belangen zu tolerieren. Ausgeschlossen blieb eine eigenständige militärische Organisation für das neue Staatsgebilde. Unter diesen Voraussetzungen etablierte sich das Volkssekretariat gegen den anfänglichen Widerstand der deutschen Militärs als eine Art provisorische Regierung.
Am 9. März 1918 wurde schließlich in einem zweiten Basismanifest der Völker der Belarus die Belarusische Volksrepublik ausgerufen. Dem Exekutivkomitee der Rada kam es diesmal darauf an, die staatliche Wiedergeburt der Belarus zu verkünden, die über drei Jahrhunderte zuvor angeblich ein Goldenes Zeitalter erlebt hatte. Nicht von ungefähr wählte die BNR neben der weiß-rot-weißen Fahne auch den Wappenreiter des Großfürstentums Litauen (Pahonja) als staatliches Symbol. Gleichzeitig wurde in Anlehnung an die ersten Dekrete der Sowjetmacht im Interesse einer Massenbasis unter Punkt 7 der Großgrundbesitz aufgehoben („Das Land wird ohne Kauf denjenigen übergeben, die es bearbeiten.“) und unter Punkt 8 der achtstündige Arbeitstag versprochen. Eine Provokation an die deutsche Besatzungsmacht wie an die Regierungsvertreter der benachbarten Länder stellte die Tatsache dar, dass neben der Unabhängigkeit auch das gesamte Siedlungsgebiet des belarusischen Volkes als Territorium beansprucht wurde.
Die entscheidende Passage des wegen seiner Unabhängigkeitserklärung berühmt gewordenen dritten Basismanifests vom 25. März 1918 lautet:
Von dieser Stunde an erklärt sich die Belarusische Volksrepublik zu einem unabhängigen und freien Staat. Die Völker der Belarus selbst werden durch ihre Konstituierende Versammlung über die künftigen nationalen Bindungen der Belarus entscheiden.
Damit widersetzte sich die Rada der in Brest-Litowsk beschlossenen Teilung ihres Landes. Stattdessen vertrat die Rada den Standpunkt des Ethnographen Efim Karski, der in seiner 1917 wiederveröffentlichten Karte aus dem Jahr 1903 ein über die damaligen Verwaltungsgrenzen hinausreichendes Territorium markiert hatte. Es umfasste nicht nur die Gebiete von Minsk, Wizebsk (russ. Witebsk) und Mahiljou (russ. Mogiljow), sondern auch Hrodna (russ. Grodno) mit Belastok (poln. Białystok), Wilnja (lit. Vilnius), Smalensk (russ. Smolensk) und Tscharnihau (ukr. Tschernihiw). Abstriche wurden lediglich in der vermeintlich mehrheitlich von Ukrainern bewohnten Region bei Brest gemacht.
Einig waren sich die selbsternannte belarusische Regierung und die politischen Interessenvertreter des Landes aber keinesfalls. Nach dem 25. März verließen mehrere Rada-Mitglieder die Regierung wegen ihres eigenmächtigen Schritts. Die 1917 gewählte, mehrheitlich von sozialistischen Parteien jenseits der Bolschewiki besetzte Stadtduma (d. h. Stadtrat) von Minsk distanzierte sich sogar ganz von der BNR. Ihrer Ansicht nach sollte die Sache eines belarusischen Nationalstaats einer Konstituierenden Versammlung vorbehalten bleiben. Dadurch sah sich die belarusische Regierung vor das Dilemma gestellt, weder bei den politisch aktiven Belarusen, noch bei den sogenannten nationalen Minderheiten über einen uneingeschränkten Rückhalt zu verfügen.
Deutsche Diplomaten und Militärs vertraten die Auffassung, dass die BNR nur durch den Segen der Sowjetregierung Legitimität erlangen könne,7 nach Erich Ludendorff war „die ganze Angelegenheit eine innere Frage des großrussischen Staates“8. Die deutsche Seite setzte auf Vertragstreue gegenüber Sowjetrussland, um eine Gefährdung des Brester Friedens zu vermeiden, in dem von einer Annexion belarusischer Gebiete nicht die Rede war. Damit war das Scheitern der BNR vorprogrammiert. Sie bemühte sich zwar, den Radius ihres Einflusses abzustecken, verfügte als Projekt einer elitären Minderheit aber weder über ein Territorium, noch über eine Massenbasis. In Betracht zu ziehen ist dabei aber auch die Flucht von über zwei Millionen Menschen beim Vorrücken der Deutschen im Kriegsjahr 1915. Angeheizt durch die russische Propaganda über Gräueltaten verlief diese in Richtung Osten, wobei die größtenteils orthodoxen Flüchtenden in Russland alles andere als einen Feind erblickten und sich dann auch von Lenins Versprechen von Frieden, Land und Brot angesprochen fühlten. Letzten Endes nahm im Laufe des Jahres 1918 nur die Ukrainische Volksrepublik eine de facto Anerkennung der BNR vor.
Um eine belarusische Identität zu kreieren hatte sich die BNR neben der Propagierung eines geographischen Bewusstseins auch um die Kodifizierung der „einfachen Sprache“ (prosta mova) des Volkes bemüht. Stützen konnte sie sich dabei auf eine von Branislau Taraschkewitsch in kyrillischer und lateinischer Schrift herausgegebene Belarusische Grammatik für die Schulen.9 Außerdem verfasste der Literat Wazlau Lastouski unter dem Titel Was jeder Belaruse wissen muss eine Art nationalen Katechismus. Dieser beinhaltet in rhetorisch-didaktischer Absicht ein Frage-Antwort-Spiel, das die Bauern motivieren sollte, in ihrem Selbstverständnis als „Hiesige“ (tuteischyja) über den Horizont des eigenen Dorfes hinauszuschauen.
Neben dem Aufbau einer Lokalverwaltung und der Reevakuierung der beim Vormarsch der Deutschen 1915 geflohenen Menschen, gehörten der Import von Lebensmitteln aus der Ukraine und die Einrichtung von Schulen zu den wichtigsten innenpolitischen Aufgaben des Volkssekretariats der BNR. Im Spätsommer 1918 rückte zudem die Frage der Aufstellung militärischer Verbände auf die Tagesordnung. Denn die Deutschen zeigten sich am 27. August 1918 in einem Ergänzungsvertrag zum Brester Frieden im Interesse einer Verlegung ihrer Truppen an die Westfront gewillt, den Sowjets einen Teil der okkupierten Gebiete zu überlassen.
In der Tat begann sich das deutsche Heer nach der Novemberrevolution in Deutschland gänzlich aus dem Osten zurückzuziehen. Am 1. Januar 1919 riefen die Bolschewiki eine belarusische Sowjetrepublik aus. Neun Tage später traf die Rote Armee in Minsk ein. Die Rada floh zunächst nach Litauen, wo sie noch 1919 von Estland und Finnland und 1920 von Litauen als legitime Regierung anerkannt wurde, und ging dann dauerhaft ins Ausland, wo sie bis heute als älteste Exilregierung der Welt existiert. Unter diesen Voraussetzungen kann die BNR als ein im Ansatz steckengebliebenes Projekt der belarusischen Nationalbewegung betrachtet werden. Es handelte sich um einen illegitimen Staat ohne festumrissenes Territorium und ohne Verfassung.
Doch die Symbole der BNR blieben. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden sie im Lande selbst noch zweimal wieder aufgegriffen. Als die deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkrieges im Dezember 1943 zu Propagandazwecken einen Weißruthenischen Zentralrat in Dienst stellten, wurde die weiß-rot-weiße Fahne missbraucht. Einem logischen Schluss hingegen entsprach es, dass sich die 1988 entstandene Belarusische Volksfront (BNF) auf die BNR von 1918 bezog. Auch die 1991 gegründete Republik Belarus bediente sich der Symbole der BNR selbstverständlich als Ausdruck ihrer Unabhängigkeit. Nach Lukaschenkos Machtantritt wurden sie 1995 jedoch durch ein umstrittenes Referendum abgeschafft. Nachdem ab den späten 1980er Jahren zuerst die Nationaldemokraten den 25. März nach dem Vorbild der Patrioten in der Diaspora als Tag der Freiheit (Dsen Woli) begingen, ist das Datum heute ein Bezugspunkt der gesamten belarusischen Opposition.
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.