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Kino #12: Brilljantowaja Ruka

Brilljantowaja Ruka (dt. Brillantenarm) aus dem Jahr 1969 war der größte Kassenschlager in der Kinogeschichte der Sowjetunion. Regisseur Leonid Gaidai war ohnehin ein Garant für kommerziellen Erfolg. Bei der kulturpolitischen Elite war er zwar eher gering geschätzt, galt sein Komödienfach doch zuweilen als flach und außerdem wenig geeignet, den neuen Sowjetmenschen zu formen.1 Doch er zog die Massen ins Kino, bei Brilljantowaja Ruka in eine Krimikomödie rund um einen Familienvater, der die Polizei auf die Spuren einer Schmugglerbande bringen soll.

Gaidais Filme, die man heute wohl eher Blockbuster nennen würde, hatten ihren künstlerischen Ursprung in der exzentrischen Komödie der 1920er Jahre und verlieren bis heute nicht an Popularität.

Im Kanon der Filmklassiker, die im heutigen Russland an Feiertagen wie dem Neujahrsfest im Fernsehen gezeigt werden, ist Brilljantowaja Ruka fest verankert. Eine Mehrheit der russischen Fernsehzuschauer wählte ihn bei einer Umfrage des Kanals RTR im Jahr 1995 gar zur besten Komödie, die jemals gedreht wurde.2 Damit hielt er auch gegen Hollywood stand.

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So einiges brachte Leonid Gaidai in Brilljantowaja Ruka wohl nur deshalb durch die sowjetische Zensur, weil die Zuständigen alle Hände voll damit zu tun hatten, eine Atombombenexplosion im Filmfinale zu verbieten. Diese Szene soll der Regisseur nicht ohne Kalkül hinzugefügt haben.3 Gaidais Komödien, ein zartes Amalgam aus Slapstick, grobmotorischem Klamauk und eingeschriebener Gesellschaftssatire, wurden nie ohne Veränderungen freigegeben. So auch diese nicht. Eine Auflage war, die Rolle der Polizei aktiver zu gestalten bei der Lösung des Kriminalfalls. Dieser dreht sich um den Familienvater und Wirtschaftsfachmann Semjon Semjonowitsch, der in einen Schmugglerring verwickelt wird und bis zur Ergreifung der Bande als Lockvogel dienen soll.

Es beginnt schon mit einem Ungeschick: Die Sonne brennt, und Semjonowitsch irrt bei seiner ersten Auslandsreise durch die Straßen von Istanbul, bis er auf einer Melonenschale ausrutscht und deshalb von einer Verbrecherbande für den gesandten Kurier gehalten wird. Ehe er sichs versieht, wird ihm der Arm eingegipst und darin wertvoller Schmuck versteckt. „Ich bin kein Feigling, aber ich habe Angst“, sagt er nach der Rückkehr in die Sowjetunion, als er im Schutz der Dunkelheit neben seinem von nun an wichtigsten Vertrauten sitzt, dem Polizisten Michail Iwanowitsch. Seine Worte verraten bereits früh, dass wir es hier nicht mit einem heldenhaften Sowjetmenschen zu tun haben, sondern mit einem ehrlichen Kleinbürger aus einer Küstenstadt, noch dazu mit einem Tollpatsch, der seine Mission mit mehr Glück als Verstand überstehen wird.

Die exzentrische Komödie

Der Tollpatsch als Protagonist ist charakteristisch für Gaidais Komik – den Slapstick. Dabei greift er mit der exzentrischen Komödie auf ein typisches sowjetisches Genre zurück, das maßgeblich in den 1920er Jahren von der Künstlerwerkstatt FEKS mit ihrem absurd-anekdotischen Stil geprägt wurde. Sowohl diese Anfänge wie auch die Renaissance des Genres waren eng mit politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen verwoben: Waren die 1920er Jahre eine Zeit „großer Veränderungen und Erwartungen […] eine Zeit, die im Vorgenuss der schönen neuen Welt schwelgte“; so herrschte im Tauwetter der 1950er und 1960er Jahre mit seinen inhärenten Freiheiten eine ähnliche Aufbruchstimmung.4

Der Tollpatsch als Protagonist ist charakteristisch für Gaidais Komik / Foto © Mosfilm

Jedoch konnte sich die exzentrische Komödie schon in ihren Anfängen nicht in den strengen Kanon des Sozialistischen Realismus einschreiben, weil sie zu wenig ideologisch war, keine geschliffenen Helden ins Zentrum rückte und sich mit ihren Anleihen beim Zirkus oder der Pantomime5 auf den Pfad zum Unterhaltungsfilm begab. Wie die Begründer dieses Genres Jahrzehnte zuvor, orientierte sich Gaidai schließlich mit Beginn der sogenannten Stagnationszeit stärker an literarischen Vorlagen6. Hatte die Kritik bis dahin nicht viel für ihn übrig, versuchte er, sein Kino auf diese Weise an höher angesehene Kunstformen heranzuführen.7

Slapstick-Gags eines begnadeten Clowns

Für Viktor Schklowski, einen Formalisten mit Nähe zur FEKS, diente das Sujet in der exzentrischen Komödie lediglich als Aufhänger für „Gags, künstlerische Verfahren und Attraktionen“. Dies gilt insofern auch für Brilljantowaja Ruka, als dass die Diamanteneinfuhr in die Sowjetunion gar nicht illegal war. Das hatte sich zwar erst während der Dreharbeiten richtig herausgestellt, dennoch wurde die Story deswegen nicht abgeändert. Die absurde Triebfeder für die Handlung entsprach vielmehr dem filmischen Prinzip, das US-Kollege Alfred Hitchcock auch fürs Thriller-Fach gern praktizierte: über eine herbeigeraunte Finte zu suggerieren, es ginge um etwas ganz Großes. Das ermöglicht, die Handlung zu entfalten, ohne dass es einer weiteren Erklärung bedarf.8

Selbst die Bösen erscheinen hier beinahe liebenswert / Foto © Mosfilm

Bei den Gags und Attraktionen bediente sich Gaidai aus dem klassischen, manchmal beinahe „abgedroschenen“ Repertoire des Slapstick: Jedes Mal charmant, wenn Publikumsliebling Juri Nikulin, von Hause aus ein begnadeter Zirkusclown, in der Rolle des Semjon Semjonowitsch vor seinem eigenen Schatten erschrickt, Eiscreme ins Gesicht bekommt oder beim Fotografieren vergisst, die Klappe vom Objektiv zu entfernen. 

Die Gegenspieler reihen sich nahtlos ein: Schurke Ljolik, der mit unglücklichem Händchen als Mittelsmann und Helfer fungiert, sowie Schönling Goscha, der ursprünglich angedachte Kurier für die Istanbuler Schmuggelaktion, der zum Sparringspartner aller Beteiligten avanciert, so sehr leidet er unter querschlagenden Armen, Angeln und Auspuffanlagen. So scheinen selbst die Bösen hier beinahe liebenswert und Semjon Semjonowitsch ist so wenig Held, dass selbst die Polizei es vorzieht, ihm keine echte Waffe zu überlassen.

Satire mit Cowboylook und 007

Als der Film 1969 seine Premiere hatte, war der Prager Frühling bereits Geschichte und das Tauwetter abgeklungen. Unter Leonid Breshnew machte sich Stillstand breit. Hinter dem scheinbar harmlosen Brilljantowaja Ruka steckte nichtsdestotrotz eine Satire auf die kleinbürgerliche sowjetische Gesellschaft. Im echten Leben zog es viele Menschen vom Land in die Stadt, zudem trat bescheidener Wohlstand ein.9 Vor diesem Hintergrund persiflierte Gaidai liebevoll die Konsumwünsche und Sehnsüchte der Menschen inmitten des sowjetischen Alltags. Da ist die Hausbesorgerin, die sich als treue Kommunistin inszeniert, Fehlverhalten an den Pranger stellt und doch zu gern auf mitgebrachte Souvenirs aus dem Ausland schielt. Immerhin hat Semjon Semjonowitsch, Inbegriff des Durchschnittsbürgers, geschafft, wovon andere insgeheim oder offen nur träumen konnten: Er war im Ausland, es durfte gleich eine Kreuzfahrt sein. 

Geschafft, wovon andere nur träumen konnten – Semjon Semjonowitsch war im Ausland / Foto © Mosfilm

Stolz geht die Familie nach seiner Rückkehr an der Uferpromenade spazieren, mit dem Sohn im Cowboy-Kostüm und der Tochter im Minikleid mit Eiffelturm-Aufdruck. Ein Hauch von Coca Cola und New York schwingt ebenfalls mit, auch wenn Semjon Semjonowitsch nur in Istanbul war. Die Träume und Ziele der Sowjetbürger sind hier also nicht ideologischer, sondern materieller Natur, oder wie Semjon Semjonowitschs Frau anmerkt: „Der Pelz kann warten“ (russ. „Schuba podoshdjot“), wichtiger sei es, die Welt zu sehen. 

Gaidai balanciert seine überzeichneten Figuren durch Gesangseinlagen, Traumsequenzen und Verfolgungsjagden, die das Tempo der Narration dirigieren und genügend Raum für ausdrucksstarke Mimik und Gestik lassen. Nicht zuletzt erfährt der Agententhriller aus dem Westen seine Referenz, wenn der Bösewicht, ganz im Stil der James-Bond-Reihe, mit (hier schwarzer) Katze auftritt, als Zigarettenschachteln getarnte Funkgeräte platziert werden und eine verführerische Blondine ins Spiel kommt, die es überraschend mit dem ersten Striptease auf sowjetischer Kinoleinwand an der Zensur vorbei geschafft hat10

Champagner nur für Aristokraten und Degenerierte

Vielleicht gerade weil dieser Film durch seine künstlerischen Verfahren die Grotesken des Alltags freilegt, verzeichnete Brilljantowaja Ruka nicht nur mit 76,7 Millionen Zuschauern11 die höchste Besucherzahl der Sowjetgeschichte – schon mit den beiden Vorläufer-Komödien Operazija Y i drugije Prikljutschenija Schurika (dt. Operation Y und andere Abenteuer Schuriks, 1965) und Kawkaskaja Plenniza (dt. Die Gefangene aus dem Kaukasus, 1967) brach Gaidai Rekorde – sondern prägte auch in hohem Maße die Alltagssprache. Der tadelnde Seitenhieb der Hausbesorgerin etwa, als sie Verdacht schöpft, Semjonowitsch müsse ein zusätzliches, illegales Einkommen beziehen, fällt auch heute manchmal, wenn etwas seltsam erscheint: „Die Unseren fahren nicht mit dem Taxi zum Bäcker.“ Mit der Phrase „Haben Sie diese auch mit Perlmuttknöpfen?“ lassen sich mit einem Augenzwinkern lästige Sonderwünsche ankündigen. Ein Klassiker bei Alkohol am frühen Morgen bleibt Ljoliks Ausspruch „Champagner am Vormittag trinken nur Aristokraten und Degenerierte“, als sich Goscha nach einem Besäufnis mit Semjon Semjonowitsch, kaum erwacht, erneut die Champagnerflasche an den Mund führt.

Nicht nur mit ausdrucksstarker Mimik und Gestik werden die Grotesken des Alltags freigelegt / Foto © Mosfilm

Es ist der Film, aus dem laut Umfragen des Russischen Instituts für Kunstwissenschaft die meisten geflügelten Worte in den Sprachgebrauch übergegangen sind12 – noch mehr als aus Ironija Sudby, ebenso wie Brilljantowaja Ruka ein absoluter Klassiker im Fernsehprogramm rund ums Neujahrsfest, aber gedreht vom zweiten großen Komödienregisseur Eldar Rjasanow. 

Text: Anna Ladinig
Veröffentlicht am 27.12.2017


1.vgl. Prokhorova, Elena (2016): The Man Who Made Them Laugh: Leonid Gaidai, The King of Soviet Comedy, in: Beumers, Birgit (Hrsg.):  A Companion to Russian Cinema, Chichester, S. 519f.
2.ebd.
3.Cymbal, Evgenij  (2003): Ot smešnogo do velikogo: Vospominanija o Leonide Gajdae, in: Iskusstvo kino, 2003, Nr. 10
4.Cyrkun, Nina (2002): Die exzentrische Komödie – ein Stiefkind der sowjetischen Komödie, in: Binder, Eva/Engel, Christine (Hrsg.): Eisensteins Erben: Der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1991), Innsbruck, S. 21
5.ebd., S. 19
6.Dazu gehören unter anderem Dvenadcat’ stul’ev (1971, nach Il’ja Il’fs und Evgenij Petrovs gleichnamigem Roman), Ivan Vasil’evič menjaet professiju (1973, nach dem Theaterstück Ivan Vasil’evič von Michail Bulgakov) oder Ne možet byt’ (1975, nach Michail Zoščenko). Zu Verschiebungen im Schaffen von Gajdaj ab den 1970er Jahren vgl. Prokhorova, Elena (2016): The Man Who Made Them Laugh: Leonid Gaidai, The King of Soviet Comedy, in: Beumers, Birgit (Hrsg.): A Companion to Russian Cinema, Chichester, West Sussex; Malden, S. 537f.
7.Bulgakova, Oksana (1999): Der neue Konservatismus, in: Engel, Christine (Hrsg.): Geschichte des sowjetischen und russischen Films, Stuttgart, S. 216
8.vgl. Cyrkun, Nina (2002): Die exzentrische Komödie – ein Stiefkind der sowjetischen Komödie, in: Binder, Eva/Engel, Christine (Hrsg.): Eisensteins Erben. Der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1991), Innsbruck, S. 24. Alfred Hitchcock hat einen solch sinnlosen Aufhänger  für die Handlung „MacGuffin“ getauft, was als Begriff auch Eingang in die Filmkritik fand: „Aber das wichtigste, was ich im Lauf der Jahre gelernt habe, ist, daß der MacGuffin überhaupt nichts ist. (…) Mein bester MacGuffin – darunter verstehe ich: der leerste, nichtigste, lächerlichste – ist der von North by Northwest.“, in: Truffaut, François (2003): Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, München, S. 127
9.Cyrkun, Nina (2002): Die exzentrische Komödie, in: Binder, Eva/Engel, Christine (Hrsg.): Eisensteins Erben. Der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1991), Innsbruck, S. 21
10.Kommersant Weekend: Zakadrovaja politika 
11.Bulgakova, Oksana (1999): Der neue Konservatismus, in: Engel, Christine (Hrsg.): Geschichte des sowjetischen und russischen Films, Stuttgart, S. 216
12.Cyrkun, Nina (2002): Die exzentrische Komödie, in: Binder, Eva/Engel, Christine (Hrsg.): Eisensteins Erben. Der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1991), Innsbruck,  S. 23
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Der Sowjetmensch

„… die hohen Berge versetzt er, / der einfache sowjetische Mensch“ – so ehrt ein berühmtes Lied aus dem Jahr 1937 den Sowjetmenschen. Dieser war in der utopischen Vorstellungswelt der sowjetischen Ideologie ein Idealtyp und fast ein Übermensch. In diesem Sinne wurde der Ausdruck lange verwendet und war fest in der offiziellen Kultur der UdSSR verankert. Doch im Zuge der Perestroika hat die Wissenschaft eine andere Begriffsbedeutung konstatiert, die der ersten genau entgegenläuft: Der einst heldenhafte Sowjetmensch wurde zur Karikatur seiner selbst, dem opportunistischem und untertänigen homo sovieticus.

Das soziologische Phänomen des Sowjetmenschen jedoch machen Wissenschaftler auch im Russland von heute noch aus.

Das bolschewistische Konstrukt des Sowjetmenschen geht auf die vielfältigen Ideen-Strömungen in der christlichen Tradition wie auch in der Moderne zurück, die sich mit dem Thema des Neuen Menschen befassten.1 In der frühen Sowjetunion war dieses Konzept in den Reihen der künstlerischen Avantgarde allgegenwärtig und genoss zeitweise den Status einer offiziösen Doktrin der herrschenden Kulturpolitik: Der Sowjetmensch als Prototyp war ganz vom Verstand geleitet, der Sache des Kommunismus ergeben. Er lebte und arbeitete mit höchster Disziplin und Kultur, war fest mit dem Kollektiv verbunden und besaß einen heroischen Willen, fähig, gänzlich die Natur zu beherrschen und alle dem Kommunismus entgegenstehenden Schwierigkeiten und Klassenfeinde zu überwinden.

Die weitere Entwicklung der Idee fiel in die Zeit der Industrialisierung und der gewaltsamen Kollektivierung der Landwirtschaft seit Ende der 1920er Jahre: Das Stalinsche Programm enthielt sowohl den Aufbau einer neuen Gesellschaft des Sozialismus als auch die Transformation des Menschen zum Sowjetmenschen. Die gesamte Kultur hatte diesem Ziel zu dienen. Eine zentrale Rolle erhielten dabei die Schriftsteller als „Ingenieure der menschlichen Seele“, unter der ideellen Führung von Maxim Gorki. Alle Medien der sowjetischen Massenkultur wurden in den Dienst der psychologischen Umgestaltung des Einzelnen genommen.2

Dieser hehre Mythos rund um den Sowjetmenschen faszinierte nicht wenige der – vor allem jungen – Leute, die oft aus einfachsten bäuerlichen Verhältnissen in diese „neue Gesellschaft“ geworfen wurden und dort soziale Aufstiegschancen fanden.

In der Realität stießen die idealen Züge des Sowjetmenschen mit den Widersprüchen des sowjetischen Alltagslebens der 1920er und 1930er Jahre zusammen. Dies waren beispielsweise die anhaltende materielle Not der sozialen Versorgung und der Wohnverhältnisse, der Zwang zu autoritärer Anpassung an Partei-Instanzen, sowie der Forderung, im „Dienst an der Sache“ allenthalben „Feinde des Sozialismus“ zu suchen und zu denunzieren.3 Faktisch lebte der Sowjetmensch also in zwei Welten, die er durch Double Thinking zusammenhielt: der Fähigkeit, in seiner Lebenswelt zwei entgegengesetzte Erfahrungen und Überzeugungen – Mythos und Realität – miteinander zu vereinbaren.4

Sowjetmensch vs. homo sovieticus (Alexander Sinowjew)

1981 veröffentlichte der Satiriker und Soziologe Alexander Sinowjew in München den Roman Homo Sovieticus, in dem er Aspekte des politischen und alltäglichen Lebens in der Sowjetunion satirisch beleuchtete: Der Sowjetmensch bei Sinowjew ist im Wesentlichen ein willenloser Opportunist. Mit seinem Sarkasmus legte Sinowjew einen Grundstein für den oft anzutreffenden Spott über die Idee des Sowjetmenschen. 

Der Sowjetmensch als Prototyp war ganz der Sache des Kommunismus ergeben – Foto © Kommersant

Diese Deutung drang im Zuge der Perestroika auch in die Sowjetunion. Nahezu gleichzeitig begann die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen. Vor allem Juri Lewada (1930–2006), damaliger Leiter des Umfrageinstituts WZIOM, trieb die Forschungen über den „anthropologischen Idealtypus“ zwischen 1989 und 1991 maßgeblich voran.5

Soziologische Einordnung

Lewada zählte zu den Persönlichkeitsmerkmalen des Sowjetmenschen unter anderem die Vorstellung von eigener Überlegenheit und Einzigartigkeit,6 gesellschaftlicher Gleichheit, Völkerfreundschaft und vom Staat als fürsorglichen Vater. Angesichts des gemeinsamen hehren Ziels – Aufbau des Kommunismus – garantierte der starke Staat die Richtigkeit der Auserwähltheit, er sorgte sich um seine Bürger und vereinte sie zu einer imperialen Ganzheit, die die Grenzen des Ethnischen wegzuwischen suchte.

In diesem idealen Modell waren alle Menschen gleich, alle Ethnien waren Bruder-Völker. Das Propaganda-Bild des kapitalistischen Feindes und die schroffe Ablehnung dieses Feindes hielten das Sowjetvolk nach innen zusammen – und halfen so auch, interethnische Spannungen zu unterbinden.

Um dieses Bild aufrecht zu erhalten, musste der Staat allerdings alle Impulse von außen unterbinden, das Sowjetvolk musste sich selbst isolieren und konnte erst in dieser „erzwungenen Selbstisolation“7 als einzigartig und überlegen aufgehen.

Abgesehen von dieser abstrakten, feindlichen Außenwelt gab es nur den Staat, außerhalb dessen sich der Sowjetmensch nichts vorstellen konnte.

Werteverfall und Identitätskrise

Da die kollektive Identität also aufs Engste mit dem Staat verbunden war, sollte der Zerfall der Sowjetunion auch das Ende des Sowjetmenschen bedeuten. Die Öffnung nach außen mündete in den Verlust des gemeinsamen Feindes, das Innen bröckelte so, dass Wissenschaft und Politik alsbald nahezu einstimmig ein „ideologisches Vakuum“, eine „Identitätskrise“ oder einen „Werteverfall“ konstatierten.

All das, was zuvor Alles bedeutet hatte, wurde ins Gegenteil verkehrt: Aus dem Glauben an den Vater Staat wurde ein Gefühl der sozialen Schutzlosigkeit, aus der Überlegenheit – ein Gefühl des Abgehängtseins, aus der Fiktion der Gleichheit – eine tiefgreifende Fragmentierung der Gesellschaft. Das Brudervolk zerfiel in Ethnien, und mit dem überall erwachenden Nationalismus bezeichneten sich Ende 1989 nur noch knapp ein Viertel der in einer WZIOM-Studie Befragten mit Stolz als Sowjetmensch.8

Der Sowjetmensch der post-sowjetischen Zeit

Folgestudien, die von 1994 bis 2012 durchgeführt wurden, zeigten allerdings, dass das gesellschaftliche Phänomen Sowjetmensch lebendiger ist, als der Staat, der es ins Leben gerufen hatte:9 Sie führten zu dem Ergebnis, dass im neuen Jahrhundert eine neue Generation diesen anthropologischen Idealtypus reproduziert habe. Vor allem solche staatlichen Institutionen wie Armee, Polizei und Geheimdienste, die keiner öffentlichen Kontrolle unterliegen, können sich demnach in großen Teilen der Bevölkerung auf Stereotype und Überzeugungen stützen, die auch schon dem Sowjetmenschen inne waren: autoritärer Staats-Paternalismus, Militarismus und Identifizierung mit dem Großmacht-Status.

So sei der Sowjetmensch auch heute noch höchst lebendig und präge nach wie vor die politische Kultur Russlands,10 meint Lew Gudkow, der als Direktor des 2003 gegründeten Lewada-Zentrums Juri Lewada nachgefolgt ist.


1.Küenzlen, Gottfried (1997): Der Neue Mensch: Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, Frankfurt am Main
2.Günter, Hans (1993): Der sozialistische Übermensch: Maksim Gor’kij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart/Weimar
3.Fitzpatrick, Sheila (1999): Everyday Stalinism: Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s, New York/Oxford
4.Fitzpatrick, Sheila (2005): Tear off the Masks: Identity and Imposture in Twentieth-Century Russia, Princeton
5.Juri Lewada (1993): Die Sowjetmenschen: 1989 - 1991: Soziogramm eines Zerfalls, München
6.Gudkov, L. D. (2007): „Sovetskij Čelovek“ v sociologii Jurija Levady, in: Obščestvennye nauki i sovremennost' № 6/2007, S. 16-30
7.ebd.
8.Gestwa, Klaus (2013): Der Homo Sovieticus und der Zerfall des Sowjetimperium: Jurij Levadas unliebsame Sozialdiagnosen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10/2013, S. 331-341
9.Gudkov, Lev (2010): Conditions Necessary for the Reproduction of "Soviet Man", in: Sociological Research, Nov-Dez., Bd. 49, 6/2010, S. 50-99
10.Forbes.ru: Lev Gudkov: nadeždy na to, čto s molodym pokoleniem vse izmenitsja, okazalis' našimi illjuzijami

 

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Im engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion.

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Perestroika: Wirtschaft im Umbruch

In den 1980ern verschlechterte sich die Lage der sowjetischen Planwirtschaft Jahr für Jahr. Als Gorbatschow die Krise ab 1985 durch punktuelle marktwirtschaftliche Reformen überwinden wollte, kam die sozialistische Ökonomie erst recht ins Straucheln.

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